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Zwei oder drei Jahre später

Zwei oder drei Jahre später. Das ist ein beliebter Einschub, der einen Zeitsprung annonciert, und mit Zeitsprüngen ist in der Wolfschen Prosa immer zu rechnen. Man kann den Titel aber auch als Zeitangabe verstehen: Diese Geschichten, diese Ausschweifungen sind durchweg in den letzten drei Jahren entstanden. Ausschweifend erzählt wird in ihnen nicht und auch die Abenteuer, die Wolf seinen Figuren zumutet, sind schon exzessiver ausgefallen. Man wird diesen Untertitel ironisch verstehen dürfen und doch, auf eine andere Weise, auch sehr direkt.

Von Joachim Büthe | 04.12.2003
    Es ist auch ein Privileg, so arbeiten zu können wie man will, niemandem, sozusagen, verpflichtet zu sein. Ich wähle einfach den Begriff 47 Ausschweifungen. 47, das ist leicht erklärt, es sind 47 kurze Geschichten, kurze, sehr kurze und etwas längere Geschichten. Ausschweifungen, das lag in meinem Vorratskasten, und ich dachte, irgendwann verwende ich dieses Wort. Und als ich dieses erste, neue Buch fertig hatte, schien es mir angemessen zu sein für das, was ich da gemacht hatte. Denn für mich, in der Situation, in der ich mich befand, waren das schon Ausschweifungen.

    Es ist Ror Wolfs erstes Buch nach einer langen, bedrohlichen Erkrankung. Der Leser, wenn er es nicht weiß, wird das gar nicht bemerken. Die Krankheit ist kein Thema. Keine tiefsinnige Selbstbefragung, kein Hadern mit dem Schicksal, im Gegenteil. Die Kippbewegungen zwischen Grauen und Komik, die es bei Wolf immer gibt, haben sich etwas verschoben, und zwar, das ist das schöne und erstaunliche an diesem Buch, zur komischen Seite hin. Hier erzählt ein aufgeräumter, gelassener Autor, und wäre dieses Adjektiv nicht so kontaminiert, dann könnte man von einem heiteren Buch sprechen.

    Ich habe bemerkt, dass das Schreiben eben auch ein Überlebensmittel ist. Nicht nur etwas, mit dem man sein Geld verdient und vielleicht auch die Öffentlichkeit hin und wieder auf sich aufmerksam machen kann, sondern eine Möglichkeit, sich selbst zu stimulieren. Und wenn man eine heikle Krankheit hinter sich hat und in der Lage ist weiterzuarbeiten, dann vergisst man einfach diese unangenehmen Dinge, an die man sonst immer denkt, und das wirkt dann offensichtlich heiter.

    In diesem Sinn, aber nur in diesem Sinn, wäre das neue Buch dann das, was Ror Wolf in seiner Enzyklopädie für unerschrockene Leser so konsequent verweigert, nämlich eine Lebenshilfe, und zwar für alle Fälle der Welt. Es ist auch eine Liebeserklärung an den Beruf des Schriftstellers, an das Erzählen. Ror Wolf wird gern und nicht zu unrecht in das Umfeld der experimentellen Literatur eingeordnet, doch vom Verschwinden des Autors, das in diesem Zusammenhang gelegentlich behauptet wird, ist er meilenwert entfernt. Mächtiger als in der Erzählhaltung Ror Wolfs, der sich sein Kosmos erfindet, kann ein Autor gar nicht sein.

    Endlich mal die Umkehrung der Behauptung, bei mir verschwände der Erzähler, das Erzählte verschwindet usw. Darüber diskutieren wir ja schon seit 40-50 Jahren, und das ist, glaube ich, ausdiskutiert. Man kann sehr wohl Prosa schreiben, in der nicht erzählt wird, man kann aber auch Prosa schreiben, in der scheinbar nicht erzählt wird. Diese Möglichkeit beanspruche ich für mich. Ich erzähle. Ich behaupte einfach, das, was ich tue, ist eine ganz persönliche, spezielle Art von Erzählen: von Aussparen, von Zusammenfügen, von Nachdenken und eben auch von Verschwinden gewisser traditioneller Erzähllogik. Ich fühle mich auch in diesem Moment des Erzählens und des Schreibens außerordentlich mächtig. Das ist ein großes Vergnügen für mich. Und wenn ich dieses Vergnügen an den Leser weitergeben kann, dann ist es sehr schön, freut es mich.

    Es gibt in seiner Erzählhaltung, auch wenn es manchmal den Anschein hat, kein sich Abwenden von der Welt. Alles wird eingewoben in diese leicht versetzte, ver-rückte Parallelwelt, die sich den alten Reiseerzählungen und vielen modernen und anderen Einflüssen verdankt, ein ebenso persönliches wie originelles Amalgam. Und wenn bei ihm auf die Ankündigung einer unerhörten Begebenheit eben diese häufig ausbleibt, dann ist das auch ein ironischer Kommentar zu unserem krachmacherischen, sich ständig überbietenden Zeitalter der behaupteten Superlative. Ror Wolf, das ist von den Verfechtern einer engagierten Literatur konsequent übersehen worden, ist ein sehr bewusster und kritischer Autor.

    Etwas hat mich nie interessiert beim Schreiben, nämlich der automatische Text. Ich kann sehr gut verstehen, dass der Surrealismus davon Gebrauch gemacht hat, einen Text sich selbst entwickeln zu lassen und keine Korrektur mehr anzusetzen. Mein Verfahren ist beinahe entgegengesetzt. Ich arbeite sehr genau. Ich korrigiere sehr oft. Ich bin darauf aus, immer eine neue Variante des gleichen Textes herzustellen und am Ende mich dann für eine zu entscheiden.

    Es ist diese Präzision, dieses Streben nach dem perfekten Text, das die Vorstellung, es könne ein schwaches Buch von Ror Wolf erscheinen, in den Bereich des Phantastischen verweist. Erinnern, Vergessen, Erfinden, das sind die zentralen Kategorien in seinem neuen Buch. Dass Erinnern und Vergessen einander bedingen, hat sich inzwischen herumgesprochen und vielleicht liegt das Erfinden irgendwo dazwischen. Vielleicht geht es auch von der Magie der Namen aus. Eingetaucht in die Wolfsche Welt beginnt man Ortsnamen auch danach zu beurteilen, welche Geschichte er dort wohl angesiedelt hätte.

    Wenn ich dahinfahre, früher im Auto und heute in der Eisenbahn, und lese einen einprägsamen Ortsnamen, notiere ich ihn mir. Es ist der Versuch, ganz feste Realität zu packen und dann zu verpacken in eine Geschichte. Die Orte sind tatsächlich exakt angeordnet, wo sie auch wirklich sind. Das sind keine Phantasieprodukte, die sind auch nicht beliebig über das Papier gestreut, die liegen da, in dieser Reihenfolge. Es ist der Versuch von Realitätsbestimmung durch Ortsnamen. Mir macht so etwas einfach Spaß. Es ist so eine Art von Erzählgerüst.

    Ein anderer Teil des Erzählgerüsts ist das Wolfsche Personal, seine selbst erfundene Familie, deren einzelne Mitglieder über die Jahre immer wieder auftauchen, und zwar quer zu den jeweiligen Textsorten. Diesen Figuren, die ebenso plötzlich auftauchen wie verschwinden können, ist in der Regel ein langes Leben beschieden, trotz der Gefahren, denen sie immer wieder ausgesetzt werden. Sie können dennoch beruhigt sein, sie sind bei ihrem Erfinder in guten Händen. Manchmal wird eine von ihnen in den verdienten Ruhestand entlassen und immer wieder kommen neue hinzu. Es ist an der Zeit von Moll zu reden, dem Mann aus Mörfelden. Ihm begegnen wir zum ersten Mal und in ihm, dem ebenso gelassenen wie fröhlichen Mann, scheint sich die Stimmung dieses, wie soll ich es sagen, beglückenden, ja, das ist es, beglückenden Buches zu kristallisieren. Und deshalb möchten wir noch jede Menge von ihm hören.

    Die Geschichte Moll ist mit allergrößter Sicherheit begonnen worden nach diesem Schlamassel, aus dem ich mich herausgeschrieben habe mit diesem Buch. Sie beinhaltet somit auch die Person des Autors und vielleicht auch dessen Neuentwicklung, nicht im literarischen Sinn, sondern im eigentlichen Überlebenssinn. Er brauchte eine neue Lebensstrategie und vielleicht hat Moll die für ihn entwickelt. Vielleicht sieht er sich ja tatsächlich in Moll. Könnte sein. Ich will das jetzt nicht beschwören. Aber möglich ist das.