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Zwei Paare, ein Film und die Haut

Sylvie Schenk ist in Frankreich geboren. 1995 veröffentlichte sie ihr Romandebüt in Deutschland. In ihrem neuen Buch "Der Gesang der Haut" ist die ehemalige Krankenschwester Moira Dreh- und Angelpunkt. Sie will einen Film über die Haut drehen und gerät in das Privatleben zweier Paare.

Von Bettina Hesse | 18.01.2012
    Mit dem Tod fängt es an, Moira sieht vor ihrem inneren Auge, wie das alte Ehepaar Gerlach zu Grabe getragen wird, während sie sich ein Bein rasiert, das andere liegt in Gips und deutet damit auf das Ende des neuen Romans von Silvie Schenk "Der Gesang der Haut". Die Hauptfiguren bilden eine den Wahlverwandtschaften ähnliche Konstellation: Der junge Dermatologe Victor übernimmt in Köln die Praxis des älteren Kollegen Gerlach, ein Lebemann, der sich zu Victors attraktiven Freundin Klara hingezogen fühlt, während seine eifersüchtige Frau Henriette ihr Herz beim wohlerzogenen Victor ausschüttet. Doch zu den klassischen Vier gesellt sich in dieser Formation ein fünftes Element hinzu: Moira – das Schicksal – eine schwarze, ehemalige Krankenschwester, die einen Film über die Haut drehen möchte. Als schillernde Figur bündelt sie viele Funktionen: Erzählerin, Gegenstimme, griechischer Chor und Zeremonienmeisterin.

    Die Ausgangssituation – der junge Arzt lebt sich in der fremden Stadt ein, macht sich mit den Gegebenheiten und den Patienten vertraut, wobei er seine noch in Frankfurt lebende Freundin vermisst – löst in ihm schnell ein fremdbestimmtes Unbehagen aus: Gerlachs ziehen den jungen Mann in ihr Leben hinein, in ihre zerrüttete Beziehung, getragen von gegenseitigen Krankheitsunterstellungen und unschönen Szenen einer Ehe. Die häufigen Essenseinladungen wagt der junge Kollege nicht auszuschlagen, und als Klara ihn beim ersten Besuch in Köln dorthin begleitet, verschiebt sich das Gleichgewicht zwischen den beiden Paaren sofort zu Ungunsten von Viktor und Gerlachs Frau. Beobachtet und kommentiert wird der schleichende Prozess von Moira, die sich in Victor verliebt und ihn, nachdem ihm seine Klara aus seiner etwas schlichten Welt mehr und mehr abhandenkommt, verführt. Schon bei ihrer ersten Begegnung schlägt Moira einen beherzt vitalen Ton an, als sie von ihrem imaginären Land erzählt:

    "Mein neues Land ist eine deutsche Kolonie. Ich habe eine Kolonie der deutschen Sätze gegründet. Ich peitsche sie durch den Tag, bis sie in mein Buch passen, ich pfeife sie heraus, lasse sie ausschwärmen, foltere sie zurecht, ich lösche sie aus, wenn sie brennen anstatt zu wärmen, ich bearbeite sie […] und sie arbeiten für mich."

    Moira spricht deutlich aus einer anderen Perspektive. Sie schafft damit Abstand zu den Protagonisten und öffnet dem Leser – ähnlich wie in Schenks letztem Roman "Parksünder", wo die Zwischenrufe aus den Briefen der Mutter bestehen – einen größeren Raum. Was hat es mit dieser Figur auf sich, die Viktor aus der Gegenwart, genau genommen aus der Zukunft anspricht?

    "Mit Moira identifiziere ich mich ein bisschen, weil sie auch als Journalistin und Filmemacherin eine Künstlerin ist. Sie dirigiert auch ihr Personal […] wie in einem Roman. Ihre Texte, ihre Beobachtungen, ihre Ratschläge begleiten die ganze Handlung, es ist so wie eine innere Stimme, die aber Victor begleitet, nachdem alles vorbei ist. Denn sie ist halbe Beobachterin, aber sie taucht irgendwann in die Geschichte ein, verliebt sich auch in Victor, und dann ist es auch geschehen mit ihrer passiven Rolle und griechischem Chor."

    Mit Moiras Einmischung nimmt die psychologische Dynamik zwischen den Wahlverwandten an Fahrt auf, auch wenn die anderen Charaktere etwas blass bleiben. Wie die menschliche Haut reagiert das dichtgewebte Netz der fünf Figuren auf Störungen von innen oder Einflüsse von außen – und wird auf realer und symbolischer Ebene zum Grundthema des Romans:

    "Haut, ein Wort, das ihm immer viel zu kurz erschien, um diesen meterweiten Umschlag unseres Körpers zu bezeichnen und dessen unendliche Variationen."

    Obwohl es vordergründig um eher alltägliche, hautnahe Probleme geht, ist der Roman immer wieder von Überlegungen zu unserem größten Organ durchzogen. Was ist das Faszinierende am Thema Haut?

    "Das alles, was unter der Haut geschieht, auf der Haut zu sehen ist, dass […] die Haut nicht betrügt, nicht lügt, […] dass sie eine Grenze ist zwischen unserer Innenwelt und der Welt überhaupt. Sie schützt uns, sie verrät uns auch, und sie gibt uns auch sehr viel sinnliches Vergnügen."

    Sylvie Schenk schreibt ihre Lyrik unter dem Namen Sylvie Gonsolin nach wie vor auf Französisch. "Hin und Her", ihr erster Roman auf Deutsch, erschien 1995, doch erst seit 2004 ging sie zum deutschen Teil ihres Namens über. Die Sommer-Monate verbringt die Autorin in den französischen Bergen, sich zwischen Sprach- und Namenswechsel bewegend: Sind Sie eine Wanderin zwischen zwei Welten?

    "Ja, man könnte auch sagen, ich sitze zwischen zwei Stühlen, und zwar mein Schicksal, das genieß ich auch, eine wunderbare Bereicherung, auch wenn mein Leben dadurch sehr zweideutig wird. Man fühlt sich nie zu Hause, ehrlich gesagt, ich bin überall fremd, auch in Frankreich. Aber es ist vielleicht auch eine doppelte Persönlichkeit – ich weiß es nicht – es ist im Grund genommen gar nicht tragisch."

    Die junge Henrietta hört zufällig mit an, was ihr zukünftiger Mann seiner Mutter auf die Frage, was er denn an ihr finde, antwortet: "Etwas, was du nicht sehen kannst, Mutter, weil du es nicht besitzt.", und sie fühlt sich geadelt und aufgehoben. In genau diese Rolle wächst sie hinein, ohne zu ahnen, dass der Satz nicht diese wertschätzende Bedeutung hatte. In Schenks Romanen geht es häufig um die Verstrickungen der Menschen untereinander, zufällig Gesprochenes wird zum Auslöser von Missverständnissen, zum Antrieb ganzer Lebensentwürfe. Es ist die alte Diskrepanz zwischen Innen und Außen, eine Zerreißprobe an jener Grenze, die von der Haut markiert wird.

    Ist das Ihr Hauptinteresse – die Verstrickung, die menschliche Komödie/Tragödie?

    "Es ist auch, was mich am meisten interessiert im Leben, außer vielleicht auf die Berge steigen, aber diese menschliche Veränderung einer Seele, eines Charakters. Warum wird z.B. eine schöne Liebe zu Ende gehen, zu Grunde gehen, warum werden Menschen verbittert, und wie gehen sie damit um. Was liegt an diesen Enttäuschungen?"

    Im Kontrast zwischen alltäglichen Problemen und lyrischer Sprache siedelt die Autorin ihren "Gesang der Haut" an, wie viele ihrer Stoffe und Romanfiguren. Ist es dieses Spannungsverhältnis, das Sie reizt?

    "Ja, das Leben ist im Grunde genommen eine sehr lyrische Angelegenheit."

    Sylvie Schenk: "Der Gesang der Haut", Roman, 240 Seiten, Picus-Verlag, Wien 2011, 18,90 Euro