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Zwei Schneiden des Schwerts

Unter dem Druck der Globalisierung beschleunigt sich ebenfalls eine Entwicklung, die Tom Holert und Mark Terkessidis untersuchen: Es geht um Bewegungen aus entgegengesetzten Richtungen, um Arbeitsmigration und Tourismus. Worin unterscheiden sich Migrant und Tourist, wo haben sie Berührungspunkte? Die Autoren halten Migration jedenfalls für eine Selbstverständlichkeit, wogegen der Spiegel-Redakteur Klaus Brinkbäumer mit seiner Reportage verstehen wollte, was Menschen antreibt, die sich als Illegale auf den lebensgefährlichen Weg von Schwarzafrika Richtung Festung Europa machen. Eine Rezension von Günter Beyer.

Von Günter Beyer |
    Noch nie war Fliegen so billig. Wer geschickt plant, auf Schnäppchen achtet, kann für eine Handvoll Euro in die Sonne jetten: Südspanien, Kanarische Inseln, Marokko sind heute oft billiger als ein Monatsticket für die Straßenbahn. Gelegentlich sitzen in den Flugzeugen Richtung Süden auch so genannte "Zwangspassagiere". Sie reisen wider Willen und werden, bewacht von deutschen Beamten, abgeschoben in jene Länder, die sie Monate zuvor auf abenteuerlichen Fluchtwegen verlassen hatten. So kreuzen sich die Wege von Migranten und Touristen: Die einen wollen einen Job in Europa, die anderen im Süden Nichtstun. Auf den ersten Blick scheinen die beiden Gruppen von Reisenden nicht viel gemein zu haben. Während ihrer Recherche im ehemaligen Jugoslawien schauten die beiden Journalisten Tom Holert und Mark Terkessidis genauer hin. Mark Terkessidis:

    "Da sind wir auf ein seltsames Phänomen gestoßen, nämlich dass das Hotel innerhalb des Bürgerkrieges in Jugoslawien plötzlich eine ganz neue Rolle bekommen hat. Also auf der einen Seite war es so, dass das Hotel plötzlich als Flüchtlingslager diente. Das heißt, die Leute, die vor den Armeen flohen, zogen teilweise für Jahre in Dubrovnik in Hotels ein. Auf der anderen Seite diente es für die marodierenden Truppen als Militärlager."

    In ihrem Buch "Fliehkraft" besuchen der Psychologe Mark Terkessidis und der Kunsthistoriker Tom Holert solche unwirtlichen Orte des Transits, des provisorischen Aufenthalts: Containerdörfer am Ortsrand oder Flüchtlingslager in Kroatien, wo Migranten auf die Ausreise nach Österreich warten.

    "Ihre Unterbringung in para-touristischen Architekturen (...) verleiht ihrem Warten den Charakter eines negativen Tourismus, in dem körperliche und mentale Freiheiten systematisch entzogen werden."


    "Wir interessieren uns dafür, wie sich bestimmte Phänomene in der Gesellschaft, in dem Moment das Phänomen Mobilität, niederschlagen in Infrastrukturen. Also in Wegen, die Leute zurücklegen. Vehikel, die Leute benutzen, Unterbringungsorte, wo Leute wohnen."

    Jeder Mensch besitzt das Recht auf Freizügigkeit, Migration ist für Holert und Terkessidis eine Selbstverständlichkeit, jede Kriminalisierung des illegalen oder - wie es in Dokumenten der Vereinten Nationen heißt - "irregulären Migranten" - verbiete sich. Wenn Europa seine Grenzen dicht mache, hole sich der Migrant eben Hilfe von Profis.

    "Im allgemeinen Sprachgebrauch nennt man die Schleuser. Allerdings muss man sich diese Leute gar nicht vorstellen wie eine böse Mafia-Organisation, sondern tatsächlich funktioniert das Ganze eigentlich wie ein Reisebüro."

    Vergleiche wie diese kommen bei Holert und Terkessidis bisweilen recht flapsig und provokativ daher. So etwa über Jugendliche in Marokko, die schon etliche lebensgefährliche Überfahrten auf die Kanarischen Inseln hinter sich haben:

    "Immer wieder wurden sie festgenommen und zurückgeschickt. Inzwischen sprechen sie davon wie von einer Extremsportart. Europa ist hier nur noch der Name eines Abenteuers, das die Langeweile des Alltags durchbricht."

    Holert und Terkessidis fragen: Mit welchem Recht wird dem "Illegalen" der Zutritt zu Europa verweigert, während der Tourist, der sich ein Appartement an der Costa del Sol zulegt, hochwillkommen ist? Allein 700.00 britische Ruheständler leben zeitweise oder dauerhaft unangemeldet an Spaniens Mittelmeerküste. Sie bleiben unter sich, sprechen nur ein paar Brocken Spanisch und bilden eigentlich das, was man in Neukölln eine unerwünschte "Parallelgesellschaft" nennen würde. Der scharfe Blick von Holert und Terkessidis auf den globalen Tourismus, auf die Herrichtung unserer Stadtzentren auf die vermeintlichen, zahlungskräftigen Bedürfnisse der Besucher bei gleichzeitiger Vernachlässigung der Problemviertel macht die Stärken des Buches aus. Am Schluss schließen die Autoren die Klammer zwischen Touristen und Migranten wieder. Denn was beiden Gruppen fehlt, ist Partizipation.

    "Was hier entsteht, überall in und um Europa, sind ganze Städte, die keine Bürger mehr haben."

    Weder die britischen und deutschen Wetterflüchtlinge an der Costa del Sol noch die frisch nach Europa Zugewanderten aus Kamerun haben Einfluss auf politische Entscheidungen an dem Ort, der nun ihr Lebensmittelpunkt ist.

    "Vielleicht geht es am Ende gar nicht in erster Linie um die viel beschworene Freiheit der Bewegung, sondern um das Recht auf einen Ort und auf dessen politische und kulturelle Gestaltung."

    Abeká ist ein ganz gewöhnlicher Stadtteil von Accra, der Hauptstadt von Ghana: Ein unabsehbares Meer einstöckiger, winziger Häuser. Die Straßen sind unbefestigt, in offenen Gräben sammelt sich das Regenwasser. Durch eine grob gezimmerte Pforte gelangt man auf den Hof von Chris Mensah. Hühner picken nach Essbarem. Hier ist sie aufgewachsen, eine lebhafte Frau Mitte zwanzig.

    "Ich gebe Computerkurse. Im Moment sind Ferien, deshalb bin ich hier."

    Chris Mensah arbeitet in der Nachbarstadt. Aber viel lieber würde sie im Ausland leben.

    "Viele Leute hier würden gerne nach Amerika gehen?
    "Und Europa?
    "Europa auch. Aber Amerika ist noch beliebter. Manchmal heißt es, es gibt dort keine Arbeit. Man muss eben dafür kämpfen. Irgendwas machen und Geld verdienen. Es heißt auch, sie werden ausgenutzt, aber schließlich bekommen sie, was sie wollen."

    Die Legenden vom reichen Norden sind unausrottbar. Geschichten über Länder, in denen angeblich Milch und Honig fließen. Drei Millionen Ghanaer leben im Ausland, und der Sog auf diejenigen, die zurück bleiben, ist enorm. Doch wie schafft man den Sprung in die "Erste Welt", wenn man schwarz ist und aus einem Land wie Ghana kommt? Spiegel-Redakteur Klaus Brinkbäumer wollte es genau wissen. Er folgte den Routen der Migranten quer durch Afrika und schrieb darüber das Buch "Der Traum vom Leben". Wer bei dem Titel an eine sentimentale Telenovela denkt, liegt falsch. Brinkbäumers Buch ist eine gut geschriebene, klassische Reportage, die unter die Haut geht. Dem 39-jährigen Journalisten sind die Leute nicht egal, über die er schreibt. "Der Traum vom Leben" ist ein unbedingt lesenswerter Beitrag zur Migrationsdebatte.

    "Ich wollte verstehen, was sind die Motive der Leute, warum gehen die? Warum lassen da Eltern ihre Kinder zurück, warum lassen Ehepartner ihre Frauen oder Männer zurück und machen sich auf diese Reise, die sie dann durch die Sahara und durch den Atlantik führt, was lebensgefährlich ist, wie wir alle wissen, weil wir ja die Bilder kennen von denen, die es nicht schaffen, von den Booten, die sinken, und diese Geschichte versuche ich zu erzählen. "

    Klaus Brinkbäumer nimmt einen Fotografen mit und John Ampan, einen Ghanaer. Der hatte vor vierzehn Jahren sein Land verlassen und war nach fünfjähriger Odyssee durch Länder wie Ghana, Togo, Nigeria, Niger, Algerien und Marokko schließlich in Südspanien hängen geblieben. Genau dieser Reiseroute folgen die drei, wobei John, der sich heute in Spanien um neu eingereiste Migranten kümmert, der unverzichtbare Mittelsmann ist.

    " "Dann hat John mir vor allem Türen geöffnet, die normalerweise weißen Journalisten in Afrika verschlossen wären, zum Beispiel diese Welt des Voodoo, die auch bei der Migration eine Rolle spielt, weil die meisten, die sich auf den Weg machen, zu den Magiern, zu den Zauberern gehen, sich Schutz zu holen. Diese Welt ist verschlossen, wenn wir da mit Kameras anrücken. Noch viel drastischer ist es, wenn es um Frauenhandel, Menschenhandel, sprich: Zwangsprostitution geht. Kein Mensch dort hätte mit uns gesprochen, wenn nicht John dort schon Leute gekannt hätte und uns vermittelt hätte, zu Leuten geführt hätte, die das dort betreiben."

    Viele Flüchtlinge, die die drei unterwegs treffen, erzählen bereitwillig ihre Geschichte - düstere Einblicke in Armut, Gewalt und Bürgerkrieg. Etliche Migranten sind bereits zum wiederholten Mal auf dem Weg in den Norden - sie haben bereits Polizeihaft in Marokko oder eine Abschiebung aus Europa hinter sich. Gibt es überhaupt den typischen Migranten aus Afrika?

    " Ich glaube, es gibt ein paar Merkmale, die allgemein gültig sind. Es gehen fast immer die starken jungen Männer, es gehen die, die die Bestausgebildeten sind. Das liegt daran, dass die Familien oft zusammenlegen, dass sie Geld von ihren Nachbarn leihen und schauen, was sie kriegen können, um die Reise eines ihrer Söhne zu ermöglichen, und da wählen sie natürlich den stärksten aus, und der reist dann quasi stellvertretend für die anderen. Er ist dann natürlich auch verpflichtet, wenn er es nach Europa schafft, von dort Geld zu schicken, und das tun die Migranten, die durchkommen ja." "

    So gesehen, lohnt das hohe Risiko. Die Überweisungen der erfolgreichen Migranten in ihre Herkunftsländer machen inzwischen ein Vielfaches der Entwicklungshilfe aus. Wer 200 Euro im Monat schicken kann, sichert in Afrika das Überleben einer großen Familie. Das Buch verbindet die abenteuerlichen Erlebnisse der Flüchtlinge mit ernüchternden Fakten über die Herkunftsländer wie das alptraumhafte, korrupte Nigeria, wo die Bevölkerungsmehrheit überhaupt nicht vom enormen Ölreichtum profitiert.

    "Da sind Leute, die sich am offenen Feuer von Ratten ernähren, also die dort Ratten grillen, und direkt nebenan sitzt einer der Mafiosi und hat 80 Autos in seiner Garage stehen."

    Die Reise endet am Mittelmeer, in der spanischen Enklave Ceuta in Marokko, wo sich Europa hinter haushohen Zäunen verbarrikadiert.

    "Es kommen weniger Leute durch die Meerenge von Gibraltar als noch vor einigen Jahren, weil dort die Patrouillenboote keine Löcher mehr lassen, und weil auf der spanischen Seite die Soldaten mit Nachtsichtgeräten sitzen und schon sehen, wenn auf der marokkanischen Seite ein Schlauchboot überhaupt beladen wird. Das heißt aber nicht, dass die Leute nicht aufbrechen würden. Sie brechen weiter auf, sie gehen und gehen und gehen und machen sich auf den Weg nach Europa, und das sind Tausende."

    Günter Beyer besprach Tom Holert/Mark Terkessidis: Fliehkraft. Gesellschaft in Bewegung. Von Migranten und Touristen. Verlag Kiepenheuer & Witsch Köln 2006,285 S., 8,95 Euro und Klaus Brinkbäumer: Der Traum vom Leben. S.Fischer Verlag Frankfurt/Main 2006, 288 S.,18,90 Euro