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Zwei Völker in einem Land

Mittwoch, 12. Mai 1948. David Ben Gurion hat die Mitglieder der jüdischen Verwaltung in Palästina nach Tel Aviv einbestellt. Auf der Tagesordnung stehen historische Entscheidungen. Denn zwei Tage später, am 14. Mai, wird das britische Mandat enden. Die britischen Truppen sollen abziehen. Ben Gurion plädiert dafür, schon an diesem Tag den Staat Israel auszurufen. Unter den Anwesenden bricht ein Streit aus, ob die Unabhängigkeitserklärung die Grenzen des Staats bezeichnen sollte. In seinen Erinnerungen schrieb Ben-Gurion später:

Von Bettina Marx | 07.05.2008
    In der Sitzung vom 12. Mai beriet die Volksleitung auch über die Unabhängigkeitserklärung. Einige Mitglieder äußerten ernste Bedenken. Mit der knappen Mehrheit von fünf zu vier Stimmen wurde beschlossen, die Grenzen in der Unabhängigkeitserklärung nicht näher zu bezeichnen. Ein Unterausschuss von fünf Mitgliedern wurde mit der Formulierung der Unabhängigkeitserklärung betraut. Der Volksrat sollte am Freitag zusammentreten, um den Wortlaut der Erklärung zu bestätigen. Um vier Uhr nachmittags desselben Tages sollte in einer feierlichen Sitzung im Saal des Museums von Tel Aviv der Staat ausgerufen werden.

    Bewusst verzichtete man darauf, Israels Grenzen festzulegen. Man wollte sich alle Optionen offen halten, um im bevorstehenden Krieg die Grenzen des jungen Staates über das ihm zugesprochene Gebiet hinaus auszuweiten. Denn dass die Unabhängigkeitserklärung in einen Krieg münden würde, war klar. Die arabische Welt hatte den UNO-Teilungsbeschluss vom 29. November 1947 nicht akzeptiert, der das Mandatsgebiet Palästina aufgeteilt hatte. Nur wenige Wochen nach dem Teilungsbeschluss lieferten sich arabische und jüdische Bewaffnete bereits die ersten blutigen Gefechte. Noch bevor das britische Mandat auslief, waren in und um Jerusalem 239 Araber und 70 Juden ums Leben gekommen. Am 14. Mai dann war es soweit. Die letzten britischen Truppen verließen Palästina. Im Museum von Tel Aviv kam die jüdische Führung zusammen, um den Staat Israel zu proklamieren. David Ben Gurion verlas die Megillat ha atzma´ut, die so genannte "Unabhängigkeitsrolle".
    "Im Lande Israel entstand das jüdische Volk. Hier prägte sich sein geistiges, religiöses und politisches Wesen. Hier lebte es frei und unabhängig. Durch Gewalt vertrieben, blieb das jüdische Volk auch in der Verbannung seiner Heimat in Treue verbunden. Nie wich seine Hoffnung. Nie verstummte sein Gebet um Heimkehr und Freiheit. Wir erklären hiermit die Gründung des jüdischen Staates im Lande Israel. Es ist der Staat Israel."

    In seinen Tagebüchern hielt David Ben Gurion später fest:

    Nachdem alle ihre Unterschrift geleistet hatten, erklärte ich: Der Staat Israel ist errichtet. Die Sitzung ist geschlossen. Die Sitzung endete mit dem Absingen der Hatikva, unserer Nationalhymne. Draußen, in den Straßen von Tel Aviv, tanzte das Volk.

    Nicht überall jedoch wurde getanzt und ausgelassen gefeiert. In Jerusalem herrschte damals große Not für die jüdische Bevölkerung. Denn arabische Truppen belagerten bereits die westlichen Stadtviertel und schnitten die Nachschubwege ab. Es gab nur wenig zu essen, sogar das Wasser wurde rationiert. Die heute 85 Jahre alte Avital Ben Chorin erinnert sich an den Tag, an dem der Staat ausgerufen wurde.

    "Mein Mann hörte damals in der Stadt die Ausrufung des Staates. Das wusste man, wann das geschehen sollte. Und uns hatte man gesagt, im Militär, am Abend könnt ihr mit euren Partnern kommen, und dann wollen wir das feiern. Und dann sind wir runter gegangen, da war so ein Haus, das leer stand, und das wurde als Militärstützpunkt benutzt, und zu trinken gab es dann aus Plastiktassen, gab es ein bisschen Kakao um anzustoßen. Und unser Befehlshaber, Herr Barzilai, gab aus einem Revolver drei Schüsse ab und salutierte der Ausrufung des Staates. Und so haben wir das gefeiert."

    Im Jahr 1936 war Avital Ben Chorin, die damals noch Erika Fackenheim hieß, nach Palästina gekommen. Auf der Flucht vor den Nazis hatte sie im Alter von nur 13 Jahren ihre Heimatstadt Eisenach verlassen. In Jerusalem lernte sie später den aus München stammenden Religionsphilosophen Shalom Ben Chorin kennen und lieben. Als der Staat Israel ausgerufen wurde, waren die beiden deutschen Einwanderer bereits verheiratet und Eltern eines Jungen. Die kleine Familie lebte in Romema, einem Viertel am Rande von Westjerusalem. Es war eine schwere Zeit, damals, erinnert sich Avital Ben Chorin heute, 60 Jahre später.

    "Wir hatten es hier sehr schwer. Wir hatten sehr wenig Wasser, wir hatten wenig zu Essen. Also wir haben hier ziemlich gehungert. Wir haben es irgendwie versucht. Und ich hatte immer gesagt, dass ich damals wie die Frau Neandertaler gekocht habe. Denn wir hatten weder Gas noch Elektrizität. Es war schwer, und mir fiel da immer ein alter Schlager aus Deutschland ein: "Mit einem Eimer Wasser wäscht sie das ganze Haus und was davon noch übrig bleibt, da kocht sie Kaffee draus". Das fiel mir während der Belagerung Jerusalems ein. So war es, so war es."

    Doch nicht nur für die jüdische Bevölkerung von Jerusalem war das Leben schwer. Auch ihre Nachbarn in den arabischen Dörfern am westlichen Stadtrand sahen sich plötzlich Angreifern gegenüber. Im Dezember 1947 attackierte die paramilitärische Hagana, der Vorläufer der israelischen Armee, das Dorf Lifta am Eingang von Jerusalem. Unterstützt wurde die Hagana von der so genannten Stern-Gang, einer Untergrundorganisation, die auch vor Terroranschlägen nicht zurückschreckte, und die in Lifta einen arabischen Bus unter Beschuss nahm. In Panik flohen die ersten der 2500 Dorfbewohner. Wer noch aushielt wurde im Januar des nächsten Jahres durch einen weiteren Angriff in die Flucht geschlagen. Vom Fenster ihres Hauses aus konnte Avital Ben Chorin zuschauen, wie die Palästinenser von Lifta ihr Dorf verließen.

    "Und eines Tages sehe ich von diesem Fenster aus, da war nebenan noch kein Haus, freies Feld, eine lange Reihe von Leuten mit Bündeln abziehen. Und das waren die Leute aus Lifta, die weggingen, und niemand hatte sie vertrieben. Das habe ich selbst miterlebt. Wir sind dann später dort in die Häuser, da waren die Häuser leer. Aber wir hatten sie wirklich nicht vertrieben."

    Wir haben die Palästinenser nicht vertrieben, sagt Avital Ben Chorin. Sie haben selbst entschieden, zu fliehen. So wie sie sehen es viele Israelis. Ihnen widerspricht der israelische Historiker Ilan Pappe, der früher an der Universität Haifa lehrte und inzwischen an der Universität Exeter in Großbritannien arbeitet. In seinem kürzlich auch auf Deutsch erschienenen Buch "Die Ethnische Säuberung Palästinas" weist er nach, dass die Vertreibung der Palästinenser aus dem für den jüdischen Staat vorgesehenen Teil des britischen Mandatsgebiets schon vor der Ausrufung des Staates Israel beschlossene Sache war. Der von der jüdischen Führung entworfene Plan Dalet war die Blaupause für die Vertreibung der Palästinenser und die Ausweitung des jüdischen Herrschaftsgebiets. Denn:

    Als das britische Mandat zu Ende ging, war nur ein kleiner Teil, vielleicht sechs Prozent Palästinas, in jüdischer Hand. Nur wenige Einwanderer waren hierher gebracht worden. Im Jahr 1948 machten die Juden nicht mehr als ein Drittel der Bevölkerung des Landes aus. Das heißt, als Kolonialprojekt war das nicht sehr beeindruckend.

    Den Juden wurde mit fast 56 Prozent des Mandatsgebiets mehr als die Hälfte Palästinas zugesprochen. Doch die fast 500.000 jüdischen Einwohner mussten sich dieses Gebiet mit 440.000 Palästinensern teilen. Das war, so Pappe, ein sicheres Rezept für die Tragödie, die der Teilungsbeschluss der UNO heraufbeschwören sollte.

    Im März 1948 entschied die Regierung unter der Führung von Ministerpräsident David Ben Gurion, dass um einen jüdischen Staat zu schaffen, eine Million Palästinenser vertrieben werden müssen. Direkt nach dieser Entscheidung fingen sie damit an, systematisch und grausam. Sie zogen von Dorf zu Dorf, von Haus zu Haus, von Nachbarschaft zu Nachbarschaft, und als sie fertig waren, nach neun Monaten, da ließen sie 530 leere Dörfer zurück und elf zerstörte Städtchen. Mehr als 80 Prozent der Bevölkerung wurde vertrieben. Die Hälfte der Dörfer und Städte wurden zerstört, und auf ihren Ruinen wurden Wälder gepflanzt oder jüdische Siedlungen gebaut.

    750.000 Palästinenser verließen damals ihre Heimat. Sie flüchteten in die arabischen Nachbarländer oder in die Gebiete, die Israel nicht beherrschte, ins Westjordanland und nach Gaza.

    Alle arabischen Dörfer zwischen Tel Aviv und dem Gazastreifen wurden zerstört. Heute erinnern nur noch verfallene Ruinen und die Relikte von Kaktushecken an die ursprüngliche Bevölkerung dieses Gebiets. Die meisten von ihnen leben inzwischen in Flüchtlingslagern im Gazastreifen. Und auch weiter im Norden, an der Mittelmeerküste südlich von Haifa, wurden 14 arabische Dörfer entvölkert und zum Teil zerstört. David Ratner, der mit Frau und Kind in einem der ehemaligen arabischen Dörfer lebt, kennt die Geschichte.

    "Wir wissen, dass es zwischen Haifa und Faradis bis 1948 14 arabische Dörfer gab. Das größte von ihnen war Tira, das wir jetzt Tirát Hacarmél nennen. Das war eine kleine Stadt. Dann gab es das Dorf Madschdim. Das ist jetzt Megadím. Von all diesen Dörfern blieb nur Faradis erhalten. Als der Krieg begann, im Jahr 1948, beteiligte es sich nicht an den Kampfhandlungen, und daher hat es überlebt. Alle anderen Dörfer wurden durch die Armee entvölkert, und die Menschen wurden in die Flucht geschlagen."

    David Ratner ist einer der wenigen jüdischen Israelis, die die Geschichte so gut kennen. Vielleicht liegt das daran, dass er früher als Journalist arbeitete, unter anderem für die links-liberale Tageszeitung Haaretz. Heute ist Ratner Sprecher des großen Rambam-Krankenhauses in Haifa. Er wohnt in Ein Hod. Bis zum Unabhängigkeitskrieg von 1948 war Ein Hod ein arabisches Dorf und hieß Ein Hud.

    "In Ein Hod blieben die Häuser stehen. Das war außergewöhnlich. Im Jahr 1952 war das der einzige Ort, in dem die originalen arabischen Häuser noch standen. Alle anderen 14 Dörfer wurden zerstört nachdem die Bevölkerung vertrieben worden war. Kurz bevor man auch die Häuser von Ein Hod bei einer militärischen Übung zerstören wollte, kam ein in Europa bekannter Künstler, Marcel Janco, ein Einwanderer aus Rumänien, einer der Gründer des Dada. Er bat die Armee, die Häuser nicht zu zerstören, um dort eine Künstlerkolonie zu gründen. Und das ist der Grund, warum Ein Hod das einzige Dorf ist, das erhalten blieb."

    Heute ist Ein Hod ein international bekanntes Künstlerdorf, das enge Beziehungen zu Düsseldorf unterhält und regelmäßig Künstler aus der Rheinmetropole bei sich zu Gast hat. Doch wo sind die ursprünglichen Bewohner von Ein Hod, die bis zum Unabhängigkeitskrieg in diesem malerischen Dorf an den zum Meer abfallenden Hängen des Carmelgebirges gelebt hatten? Sie flüchteten im Jahr 1948 in den Wald hinter ihrem Dorf und warteten dort das Ende der Kampfhandlungen ab. Später gründeten sie dort neues Dorf, das sie wieder Ejn Hud nannten. Muhammad Abu al Hija erinnert sich.
    "Meine Eltern kamen aus dem ursprünglichen Dorf Ein Hud. Es ist etwa eine Meile von hier. Wir kamen im Krieg hierher, weil das hier unser Land war. Wir haben uns hier versteckt. Wir dachten, wir könnten nach dem Krieg in unser ursprüngliches Dorf Ein Hud zurückkehren. Aber als der Krieg zu Ende war, durften wir nicht zurückkehren."

    Auch in ihrem neuen Dorf sollten sie nicht bleiben. Der Staat Israel versuchte alles, um die Familien, die sich hier angesiedelt hatten, auch von hier zu vertreiben. Doch die Einwohner von Ein Hud hielten durch.

    "Die Behörden haben alle Anstrengungen unternommen, die Leute von hier zu vertreiben, auf direktem und indirektem Weg. Zum Beispiel haben sie im Jahr 1959 das Land hier, wo wir jetzt wohnen, konfisziert. Es gehört jetzt dem israelischen Staat. Im Jahr 1965 erklärten sie es zu einem landwirtschaftlichen Gebiet. Das bedeutet, dass wir hier nicht leben dürfen. Alle Häuser wurden für illegal erklärt. Im Jahr 1975 erklärten sie dieses Gebiet dann zu einem Nationalpark und später zu einem militärischen Übungsplatz. In den siebziger Jahren schließlich erklärten sie es zu einem archäologischen Gebiet. Und so weiter und so weiter."

    Ein Hud ist nicht das einzige Dorf, das lange um Anerkennung ringen musste. Auch heute noch werden zahlreiche arabische Dörfer von der Regierung nicht anerkannt und folglich auch nicht an die öffentliche Infrastruktur angeschlossen. 120.000 Palästinenser mit israelischer Staatsbürgerschaft leben unter solchen Slum-Bedingungen in nicht anerkannten Ortschaften.

    Zurück im Künstlerdorf Ein Hod. David Ratner und seine Frau Ivana haben Kaffee gemacht und am großen Holztisch im Wohnzimmer Platz genommen. Hat er Gewissensbisse, wenn er an die Leute von Ein Hud denkt, in deren Häusern er und seine Frau und die Künstler von Ein Hod nun leben?

    "Das ist etwas, das kommt und geht mit dem Alter, und das ist sehr individuell. Ich teile das in den gefühlsmäßigen Teil und den praktischen Teil. Auf Gefühlsebene bin ich mir der Tragödie dieser Menschen bewusst, die aus ihren Häusern vertrieben wurden."

    Dennoch, sagt David Ratner, spürt er keine Reue und keine Gewissensbisse, dass er in einem arabischen Haus wohnt, dessen ursprüngliche Bewohner nur einige Kilometer entfernt unter unwürdigen Bedingungen im Wald hausen.

    "Ich sehe das als einen historischen Prozess an, der voller Tragödien ist. Ähnliche Dinge sind auch in Europa geschehen. Und ich glaube, dass die deutschen Hörer das sicher anhand von historischen Beispielen verstehen können. Die Leute, die im heutigen Polen lebten, in der Region Danzig, werden nicht nach 60 Jahren zurückkehren, um wieder in Danzig zu leben. Und die Leute, die im Sudentenland gelebt haben, werden dorthin nicht zurückkehren. Ich sage es nochmal: Ich fühle kein Bedauern, ich fühle mich nicht schuldig."

    Und doch kann David Ratner seine arabischen Nachbarn verstehen. Denn auch seine Eltern wurden vertrieben. Aus Deutschland.

    "Als ich das zum ersten Mal emotional spürte, war ich auf dem Weg nach Deutschland auf der Suche nach meinen Wurzeln, vor fünf Jahren mit meinem Vater. Wir gingen in sein Dorf, Neckarbischofsheim, und ich wollte mir das Haus meiner Großmutter anschauen. Die Bewohner sahen durch ihre Fenster und fragten sich, was diese Fremden da machen, die umher laufen und ihr Haus betrachten. Da habe ich zum ersten Mal darüber nachgedacht, was die Araber fühlen, die sehen, dass wir in ihren Häusern leben."

    Davids Frau Ivana kommt aus Poona in Indien. Ihre Großmutter stammt aus dem Irak.

    "Auch ich war vor zwei Jahren in meiner Heimat zusammen mit meiner Mutter, und wir haben unser Haus dort besucht. Es ist wunderschön, und du fragst dich, warum bist du hier eigentlich weggegangen. Aber du verstehst, dass das nicht dein Land ist. Indien gehört den Indern, und als ich das meiner Mutter sagte, da sagte sie mir: und jetzt lebst du an einem Platz, der den Palästinensern gehört. Also wo gehören wir hin?"