"Wir müssen der Opfer gedenken und dafür sorgen, dass es die Letzten waren. Jede Nation hat das selbstverständliche Recht, um sie zu trauern, und es ist unsere gemeinsame Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass Erinnerung und Trauer nicht missbraucht werden, um Europa erneut zu spalten",
sagte Johannes Rau. Was der damalige Bundespräsident und der polnische Staatspräsident Aleksander Kwasniewski im Jahr 2003 als sogenannte Danziger Erklärung formulierten, war ein Auftrag:
"Die Europäer sollten alle Fälle von Umsiedlung, Flucht und Vertreibung, die sich im 20. Jahrhundert in Europa ereignet haben, gemeinsam neu bewerten und dokumentieren, um ihre Ursachen, ihre historischen Hintergründe und ihre vielfältigen Konsequenzen für die Öffentlichkeit verständlich zu machen. All dies kann nur im Geist der Versöhnung und Freundschaft erreicht werden. "
Doch von diesem Geist scheint die Debatte immer noch nicht getragen. Sperrig und vorurteilsbehaftet ist weiterhin der Gegenstand, dem sich nun mutig ein Lexikon und eine illustrierte Geschichte, besser: Ein Nachschlagewerk und ein reich bebilderter Atlas widmen: Flucht und Vertreibungen in Europa im 20. Jahrhundert. Mit außerordentlicher Akribie haben sich für das eine, enzyklopädische Projekt Forscher aus verschiedenen Nationen unter der Regie dreier deutscher Geisteswissenschaftler zusammengefunden. Und eine Gruppe junger polnischer Historiker hat sich an ein weiteres Vorhaben gewagt: eine bebilderte Darstellung des heiklen Themas.
Die Teams konnten – um die Bewertung voranzustellen – bemerkenswerte Forschungsfortschritte erzielen: Es ist beiden Herausgebergruppen gelungen, das vielgestaltige Phänomen der Zwangsmigration in Europa von politisch-propagandistischer Färbung zu bereinigen. Sie beschreiben detailliert unterschiedliche Opfergruppen und Täter, ohne in der historischen Darstellung Ursache und Wirkung zu verwechseln oder – schlimmer noch – bewusst zu vertuschen. Bei nüchterner Betrachtung mag erschrecken, dass dies erst 65 Jahre nach Kriegsende gelang.
Wolfgang Thierse:
"Das ist ausdrücklich nicht das Projekt des Bundes der Vertriebenen, und des Vereins von Frau Steinbach."
Erika Steinbach:
"Es war die größte Massenvertreibung, die es weltweit jemals gegeben hat."
Angela Merkel:
"Wir kennen Ursache und Wirkung, aber wir sagen auch, Unrecht muss als Unrecht benannt werden."
Guido Westerwelle:
"Die Bundesregierung wird keine Entscheidung treffen, die diesem Anliegen entgegensteht."
Angesichts der kaum zu beruhigenden Diskussion um das Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin, die immer wieder grobe Verwerfungen insbesondere im deutsch-polnischen Verhältnis aufbrechen lässt, ist es schon bemerkenswert, wenn derlei Publikationen überhaupt gelingen.
Griffig ist die zunächst in Polen und nun auch in deutscher Sprache im Weltbild-Verlag erschienene Illustrierte Geschichte der Flucht und Vertreibung in Mittel- und Osteuropa von 1939 bis 1959. Dieser großformatige, übersichtliche und reich bebilderte Band konzentriert sich auf die Bevölkerungsverschiebungen in Polen und enthält sich nationalistischer Anklänge. Ausführlich beschreiben die Autoren Auswirkungen des deutsch-sowjetischen Nicht-Angriffspaktes und den Überfall auf Polen, die Zerschlagung des Staates sowie die Kriegsfolgen. Auch der Nachkriegsordnung, die zunächst eine räumliche und emotionale Unordnung war, wird Raum gegeben.
"Während im Fall der Deportationen zur Arbeit ins Dritte Reich die meisten Polen nach Beendigung der Kriegshandlungen in ihre Heimatorte zurückkehren konnten, handelte es sich im Fall der Umsiedlungen aus den Ostgebieten der Zweiten Polnischen Republik und der Aussiedlungen der deutschen Bevölkerung um Verschiebungen, die als endgültig und definitiv geplant waren. ... Die Deportationen der jüdischen Bevölkerung und ihre Konzentration in Gettos während der deutschen Besatzung war nur der erste Schritt, der schließlich zum Holocaust führte. Obwohl im Fall der polnischen, deutschen und ukrainischen Bevölkerung Aussiedlungen, Flucht, Vertreibung nicht immer mit dem Tod gleichzusetzen waren, bedeuteten sie doch fast immer körperliches und seelisches Leid, brachten eine Verschlechterung der Lebensbedingungen, schlechte Behandlung, Hunger und Krankheit."
Die Darstellung lebt von umfangreichen Karten: diese zeigen zunächst eine multiethnische Welt, ein babylonisches Sprachen- und Völkergemisch zwischen Posen und Tarnopol in den 30er-Jahren: Polen, Juden und Tataren, Deutsche, Ukrainer und Weißrussen, eine zum Teil von Ort zu Ort unterschiedliche Mischung von dauerhaft präsenten, assimilierten ethnischen und religiösen Minderheiten lebte im polnischen Staatsgebiet. Wenn sonst in historischen Atlanten dicke Pfeile die Stoßrichtung angreifender Truppen nachzeichnen, so beschreiben sie in diesem Werk die Wanderungsbewegungen von Zivilisten: Die Umsiedlungen, Deportationen – und nicht zuletzt die Verschleppung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung Europas, die Westverschiebung des polnischen Staates nach dem Zweiten Weltkrieg sowie Flucht und Aussiedlung der Deutschen – alles, was nationale Traumata ausgelöst hat, die bis heute fortleben.
Erschließt die Illustrierte Geschichte mit Fotos und Karten, Quellenzitaten und Grafiken dem breiten Publikum Begriffe wie Völkermord, Vertreibung und Migration, so ist das Lexikon der Vertreibungen eher dem wissenschaftlichen Publikum zu empfehlen.
Den Autoren ist ein Standardwerk gelungen: Der knapp 800 Seiten starke Band mit dem Untertitel Deportation, Zwangsaussiedlung und ethnische Säuberung im Europa des 20. Jahrhunderts wirkt dem Versuch entgegen, den nämlichen Zeitraum zum Jahrhundert der Vertreibungen zu stempeln und den Genozid relativierend hineinzumengen als Teil eines allgemeinen Phänomens. Vielmehr bieten die Autoren differenzierte Erklärungen, die sich über ein ausführliches Register abrufen lassen. Obgleich die alphabetische Ordnung einzelner Stichworte den historischen Kontext in Häppchen zerschneidet, statt narrativ und chronologisch vorzugehen, so geben die einzelnen Artikel dem Lexikonnutzer doch geballte Informationen, die sich über Verweise auf angrenzende Einträge und weiterführende Literatur vertiefen lassen.
Und so bleibt zu hoffen, dass dem interessierten Publikum bald auch russische und tschechische Ausgaben von Vertreibungslexikon und Vertreibungsatlas angeboten werden können. Denn Versöhnung im Sinne der Danziger Erklärung von Johannes Rau und Aleksander Kwasniewski setzt historisches Wissen voraus. Und das sollte sich in einem aufgeklärten Europa nicht allein aus subjektiven Überlieferungen und nationalistischer Propaganda speisen.
Bozena Szaynok - Illustrierte Geschichte der Flucht und Vertreibung: Ost- und Mitteleuropa 1939 bis 1959
Weltbild Verlag,
253 Seiten, Euro 14,95
ISBN: 978-3-82890-903-8
Detlef Brandes, Holm Sundhaussen, Stefan Troebst - Lexikon der Vertreibungen. Deportation, Zwangsaussiedlung und ethnische Säuberung im Europa des 20. Jahrhunderts.
Böhlau-Verlag,
801 Seiten, Euro 99 Euro,
ISBN: 978-3-20578-407-4
sagte Johannes Rau. Was der damalige Bundespräsident und der polnische Staatspräsident Aleksander Kwasniewski im Jahr 2003 als sogenannte Danziger Erklärung formulierten, war ein Auftrag:
"Die Europäer sollten alle Fälle von Umsiedlung, Flucht und Vertreibung, die sich im 20. Jahrhundert in Europa ereignet haben, gemeinsam neu bewerten und dokumentieren, um ihre Ursachen, ihre historischen Hintergründe und ihre vielfältigen Konsequenzen für die Öffentlichkeit verständlich zu machen. All dies kann nur im Geist der Versöhnung und Freundschaft erreicht werden. "
Doch von diesem Geist scheint die Debatte immer noch nicht getragen. Sperrig und vorurteilsbehaftet ist weiterhin der Gegenstand, dem sich nun mutig ein Lexikon und eine illustrierte Geschichte, besser: Ein Nachschlagewerk und ein reich bebilderter Atlas widmen: Flucht und Vertreibungen in Europa im 20. Jahrhundert. Mit außerordentlicher Akribie haben sich für das eine, enzyklopädische Projekt Forscher aus verschiedenen Nationen unter der Regie dreier deutscher Geisteswissenschaftler zusammengefunden. Und eine Gruppe junger polnischer Historiker hat sich an ein weiteres Vorhaben gewagt: eine bebilderte Darstellung des heiklen Themas.
Die Teams konnten – um die Bewertung voranzustellen – bemerkenswerte Forschungsfortschritte erzielen: Es ist beiden Herausgebergruppen gelungen, das vielgestaltige Phänomen der Zwangsmigration in Europa von politisch-propagandistischer Färbung zu bereinigen. Sie beschreiben detailliert unterschiedliche Opfergruppen und Täter, ohne in der historischen Darstellung Ursache und Wirkung zu verwechseln oder – schlimmer noch – bewusst zu vertuschen. Bei nüchterner Betrachtung mag erschrecken, dass dies erst 65 Jahre nach Kriegsende gelang.
Wolfgang Thierse:
"Das ist ausdrücklich nicht das Projekt des Bundes der Vertriebenen, und des Vereins von Frau Steinbach."
Erika Steinbach:
"Es war die größte Massenvertreibung, die es weltweit jemals gegeben hat."
Angela Merkel:
"Wir kennen Ursache und Wirkung, aber wir sagen auch, Unrecht muss als Unrecht benannt werden."
Guido Westerwelle:
"Die Bundesregierung wird keine Entscheidung treffen, die diesem Anliegen entgegensteht."
Angesichts der kaum zu beruhigenden Diskussion um das Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin, die immer wieder grobe Verwerfungen insbesondere im deutsch-polnischen Verhältnis aufbrechen lässt, ist es schon bemerkenswert, wenn derlei Publikationen überhaupt gelingen.
Griffig ist die zunächst in Polen und nun auch in deutscher Sprache im Weltbild-Verlag erschienene Illustrierte Geschichte der Flucht und Vertreibung in Mittel- und Osteuropa von 1939 bis 1959. Dieser großformatige, übersichtliche und reich bebilderte Band konzentriert sich auf die Bevölkerungsverschiebungen in Polen und enthält sich nationalistischer Anklänge. Ausführlich beschreiben die Autoren Auswirkungen des deutsch-sowjetischen Nicht-Angriffspaktes und den Überfall auf Polen, die Zerschlagung des Staates sowie die Kriegsfolgen. Auch der Nachkriegsordnung, die zunächst eine räumliche und emotionale Unordnung war, wird Raum gegeben.
"Während im Fall der Deportationen zur Arbeit ins Dritte Reich die meisten Polen nach Beendigung der Kriegshandlungen in ihre Heimatorte zurückkehren konnten, handelte es sich im Fall der Umsiedlungen aus den Ostgebieten der Zweiten Polnischen Republik und der Aussiedlungen der deutschen Bevölkerung um Verschiebungen, die als endgültig und definitiv geplant waren. ... Die Deportationen der jüdischen Bevölkerung und ihre Konzentration in Gettos während der deutschen Besatzung war nur der erste Schritt, der schließlich zum Holocaust führte. Obwohl im Fall der polnischen, deutschen und ukrainischen Bevölkerung Aussiedlungen, Flucht, Vertreibung nicht immer mit dem Tod gleichzusetzen waren, bedeuteten sie doch fast immer körperliches und seelisches Leid, brachten eine Verschlechterung der Lebensbedingungen, schlechte Behandlung, Hunger und Krankheit."
Die Darstellung lebt von umfangreichen Karten: diese zeigen zunächst eine multiethnische Welt, ein babylonisches Sprachen- und Völkergemisch zwischen Posen und Tarnopol in den 30er-Jahren: Polen, Juden und Tataren, Deutsche, Ukrainer und Weißrussen, eine zum Teil von Ort zu Ort unterschiedliche Mischung von dauerhaft präsenten, assimilierten ethnischen und religiösen Minderheiten lebte im polnischen Staatsgebiet. Wenn sonst in historischen Atlanten dicke Pfeile die Stoßrichtung angreifender Truppen nachzeichnen, so beschreiben sie in diesem Werk die Wanderungsbewegungen von Zivilisten: Die Umsiedlungen, Deportationen – und nicht zuletzt die Verschleppung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung Europas, die Westverschiebung des polnischen Staates nach dem Zweiten Weltkrieg sowie Flucht und Aussiedlung der Deutschen – alles, was nationale Traumata ausgelöst hat, die bis heute fortleben.
Erschließt die Illustrierte Geschichte mit Fotos und Karten, Quellenzitaten und Grafiken dem breiten Publikum Begriffe wie Völkermord, Vertreibung und Migration, so ist das Lexikon der Vertreibungen eher dem wissenschaftlichen Publikum zu empfehlen.
Den Autoren ist ein Standardwerk gelungen: Der knapp 800 Seiten starke Band mit dem Untertitel Deportation, Zwangsaussiedlung und ethnische Säuberung im Europa des 20. Jahrhunderts wirkt dem Versuch entgegen, den nämlichen Zeitraum zum Jahrhundert der Vertreibungen zu stempeln und den Genozid relativierend hineinzumengen als Teil eines allgemeinen Phänomens. Vielmehr bieten die Autoren differenzierte Erklärungen, die sich über ein ausführliches Register abrufen lassen. Obgleich die alphabetische Ordnung einzelner Stichworte den historischen Kontext in Häppchen zerschneidet, statt narrativ und chronologisch vorzugehen, so geben die einzelnen Artikel dem Lexikonnutzer doch geballte Informationen, die sich über Verweise auf angrenzende Einträge und weiterführende Literatur vertiefen lassen.
Und so bleibt zu hoffen, dass dem interessierten Publikum bald auch russische und tschechische Ausgaben von Vertreibungslexikon und Vertreibungsatlas angeboten werden können. Denn Versöhnung im Sinne der Danziger Erklärung von Johannes Rau und Aleksander Kwasniewski setzt historisches Wissen voraus. Und das sollte sich in einem aufgeklärten Europa nicht allein aus subjektiven Überlieferungen und nationalistischer Propaganda speisen.
Bozena Szaynok - Illustrierte Geschichte der Flucht und Vertreibung: Ost- und Mitteleuropa 1939 bis 1959
Weltbild Verlag,
253 Seiten, Euro 14,95
ISBN: 978-3-82890-903-8
Detlef Brandes, Holm Sundhaussen, Stefan Troebst - Lexikon der Vertreibungen. Deportation, Zwangsaussiedlung und ethnische Säuberung im Europa des 20. Jahrhunderts.
Böhlau-Verlag,
801 Seiten, Euro 99 Euro,
ISBN: 978-3-20578-407-4