Literatur bietet Bilder an, in denen sich, was wir in Begriffen abgelegt haben, wieder konkretisiert und in die neue, noch diffuse Empfindungen einmünden können, Formen, in die wir uns, im besten Fall mit Körper, Herz, Verstand wenigstens vorübergehend hineinbegeben, die sich in uns hereinbegeben, beides zu erheblicher Lebenssteigerung und also Lebenserhellung.
Ja, Brigitte Kronauers Bücher sind Lebenshilfen oder besser Lebensmittel, gerade weil man in ihnen, was man schwarz auf weiß besitzt, nicht getrost nach hause tragen kann. Ein vorhersehbares Leben und Schreiben trägt das Moment der Agonie schon in sich, obwohl sich, mit zunehmender Reife und Routine eine gewisse Vorhersehbarkeit schon einstellt. Das macht die Zweideutigkeit, das rätselhaft glimmende Erotisierende von Joseph Conrads Figur Lord Jim, das Brigitte Kronauer wahrnimmt, umso kostbarer. Dass Lesen etwas mit Sinnlichkeit zu tun hat, ist passionierten Lesern nichts Neues, und dass die Krisen, die im Mund vermodernden Worte, kein Privileg der Moderne sind, weiß Brigitte Kronauer. Sie schreibt dem Pferd von Hofmannsthals Lord Chandos:
Dein guter Chandos, Rösslein, macht, und sei es auf Biegen oder Brechen, die unerlässliche und keineswegs gefahrlose Krise eines jeden ernstzunehmenden Künstlers durch. Ein Schock, erst recht, wenn er bis dahin Wunderkind und -jüngling war! Was einmal allzu schmiegsam von der Hand ging, als würde die Welt von ihrer Artikulation als einer Art Emulsion umschlossen, stellt sich heraus als befristetes Geschenk. Dauerte es länger, würde es schimmeln und Stockflecken kriegen. Das wie geschmiert funktionierende Vertrauensverhältnis zwischen Ich und Sprache und Ding muss sich eben irgendwann zersetzen, damit aus souverän und mit großem Kunstverstand verwalteten Erbschaften neue, persönliche Eigentumsverhältnisse entstehen.
So ist es, und schon entweicht der Feuilleton-Debatte über einen der Schlüsseltexte der Moderne laut pfeifend die Luft. Dass sich dieser Brief ausgerechnet an das Pferd des Lords wendet, ist jedoch weder eine Form der Missachtung noch ein Akt der Willkür. Die Natur, das Wald- und Wiesenstück als portable Heimat, die man überall finden kann, in der man sich auflösen und wiederfinden kann, spielt eine tragende Rolle in Brigitte Kronauers Welt- und Wirklichkeitslehre. Ross, wir verstehen uns? So lautet die keineswegs bange Frage am Ende ihres Briefes. Denn das kann man natürlich nie wissen, genau so wenig, wie es uns gegeben ist, Pferde und andere Tiere wirklich zu verstehen. Und gerade deshalb sind sie so wichtig für uns. Es ist das Fremde, Unauslotbare bei diesen so nahen Verwandten, das eine andere Form der Aufmerksamkeit und Zuwendung hervorholen kann. Sie gleicht der noch vorbegrifflichen, sinnlichen Empfindungswelt der Kinder einerseits und der Faszination der erotischen Begegnung andererseits. Brigitte Kronauer zitiert Canetti: Ich kannte ihn noch, wie er aus lauter schönen Tieren bestand. Jetzt ist er zum Schachtelhalm herangewachsen. Gegen diese Form der Verdorrung ist zwar nicht der Schachtelhalm, aber manch anderes Kraut gewachsen. Eines davon heißt Literatur.
So thesenhaft verkürzt geht es bei Brigitte Kronauer nicht zu. Vielleicht sind die schönsten der im Buch versammelten Texte ihre Kolumnen, in denen sie an kein Thema gebunden ist. Doch alle Texte sind beseelt von dem Willen, sich mit der Armut der Eindeutigkeiten nicht abzufinden, und in den literarischen Essays schart sie die Verbündeten um sich. Eine davon heißt Lou Andreas-Salomé. Was sie an ihr rühmt, ließe sich auch über dieses Buch sagen. Tauschen Sie einfach die Namen aus.
Die geniale Leistung der Lou Andreas-Salomé, besteht sie nicht in einer widersprüchlichen Gleichzeitigkeit? Beziehungsweise in einem, in ihren Werken jederzeit nachzuspürenden Akrobatenstück des Auf- und Absteigens oder gelenkigen, sich wechselseitig befruchtenden und kritisierenden Hin- und Herspringens zwischen allzeit präsenter Kindlichkeit und allzeit gegenwärtiger Rationalität, Hin- und Herwenden der Medaille der eigenen Existenz? Hier unersättliche intellektuelle Unterscheidungsgier, dort narzisstische Glückseligkeit der Identität von Innen und Außen, Einschmelzen von Ich in Welt und Welt in Ich, Aufsuchen unserer allerersten und dauerhaftesten Heimat nach den rechthaberischen Abmagerungskuren der Verstandestätigkeit.