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Zweigeteilt

Seine Eltern wollten, dass Henry Parland Jura studiert. Er trieb sich lieber in der Bohème herum und verprasste das Geld seiner Eltern. Nach seinen ersten Gedichten und Essays entdeckte der Finne Proust und verfasste den Kurzroman "Zerbrochen", der erst nach seinem Tod erschien. Jetzt liegt eine Übersetzung vor, die auf der Handschrift basiert.

Von Jörg Plath | 20.02.2008
    Wer auf 140 Seiten eine Liebesgeschichte in zwei Teilen, mit zwei Erzählern, einem Prolog und einem Epilog unterbringt, hat keine Zeit zu verlieren. Nicht zu vergessen das Motto:

    "Dieses Buch ist vielleicht ein Plagiat von Marcel Proust."

    Das ist es glücklicherweise nicht. Mit Prousts "Suche nach der verlorenen Zeit" hat der kurze Roman "Zerbrochen" jedoch das Thema der Erinnerung gemein. Henry Parland versucht in seinem fiebrigen Debüt vom Ende der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts, gut avantgardistisch Leben und Kunst zusammenzuzwingen. Der Erzähler nennt sich Autor und übergibt nach anderthalb Seiten beim Blick in den Spiegel das Wort an sein Gegenüber, den Ich-Erzähler. Beide heißen Henry Parland, und der zweite Parland, ein junger, hoch verschuldeter Konsul und Unternehmer, kündigt seiner letzten, vor einem Jahr verstorbenen Geliebten Ami in einem Brief an, ein Buch über sie zu schreiben. Als wären diese textuellen Windungen nicht genug, beginnt der nun folgende erste Romanteil mit Reflexionen über das "Photographieren und das Entwickeln von Kopien".

    "Der ganze Zauber einer Photographie liegt eben in diesen bis dahin unbeachteten Details, hat man sich an sie gewöhnt und das innere Bild des betreffenden Gegenstands durch sie ergänzt, dann hat das Photo nichts Interessantes mehr zu bieten. Darum ist die Lebensdauer einer Photographie eigentlich sehr kurz, schon nach ein paar Stunden ist sie belanglos, abgenutzt, man legt sie besser weg und vergisst sie, um irgendwann einmal rein zufällig dasselbe Gefühl von Direktheit und Neuheit zu erleben, wenn unwichtige, kleine Details die Erinnerung an etwas völlig Unzusammenhängendes und Vergessenes aufflattern lassen zu einer schrillen, suggestiven Illusion."

    Nun ist es ausgesprochen, das nietzscheanische Lob des Fließenden, Lebendigen, und die Ästhetik der Überraschung durch das Neue oder nur Vergessene - nun kann es losgehen: "Ami kommt" heißt es, und dann wirbelt eine kapriziöse 22-Jährige durch das Buch, verführt ihren Geliebten zu so sinnlosen wie reizvollen nächtlichen Ausflügen aufs Land oder ins Kino, zu Alkoholgelagen, Eifersuchtsszenen und Tänzen am Abgrund. Die Photographien und die damit verbundene Theorie der Erinnerung sind bald vergessen. Die Szenen reihen sich in schneller Folge aneinander. In den Vordergrund rückt das Tempo, für das sich die erste Hälfte des letzten Jahrhunderts begeisterte, und mit ihm die Unfähigkeit, den Augenblick genießen zu können. Parland sehnt sich nach Ami, wenn sie fern ist; ist sie da, langweilt er sich nicht anders als sie, und denkt an die schlecht gehenden Geschäfte. Beide verstehen einander nicht und sprechen kaum miteinander. Dann wird Ami ins Krankenhaus eingeliefert.

    "Eines Morgens rief ich an, um zu hören, wie es geht, und die Stimme der Krankenschwester zitterte wesentlich mehr als meine, als wir besprachen, was mit Amis Leichnam nun geschehen solle. Es war ein alltägliches, sachliches Gespräch, von einer Telefonzelle am Bahnhof aus, und meiner Erinnerung nach habe ich mich sehr höflich für die Nachricht bedankt."

    Um Ami von den Toten aufzuerwecken, hat Parland zu schreiben begonnen: zuerst den Brief an die Tote, dann die Szenen mit der Lebenden. Nun erlebt er ihren Tod ein zweites Mal und kann nicht weiter schreiben. Damit endet der erste Romanteil, im zweiten übernimmt wieder die Figur des Autors die Erzählerrolle und trägt die Vorgeschichte der Liebe nach. Schließlich will auch er Amis Züge zeichnen und scheitert: Diesseits des Spiegels bleibt das Vergangene unerreichbar, jenseits ist der sich Erinnernde dessen Tempo wie einst hilflos ausgesetzt. Zerbrochen ist - neben der Liebe - die Einheit des Erlebens und mit ihm die Form des Romans. Ein schmales, mal aufgeregtes, mal depressives Buch mit scharf beleuchteten, prägnanten Szenen und sympathischen Überspanntheiten, das neugierig macht auf weitere Schriften. Doch der Autor ist 1931, mit 23 Jahren, an Scharlach verstorben.

    Henry Parland: Zerbrochen (Über das Entwickeln von Veloxpapier)
    Aus dem Schwedischen übersetzt und herausgegeben von Renate Bleibtreu.
    Friedenauer Presse, Berlin 2007
    160 Seiten, 18,50 Euro