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Zweimal Honecker

Der Verleger Frank Schumann reiste nach Chile, um dort Margot Honecker zu interviewen. Den daraus entstandenen Interviewband und ein Buch mit den letzten Aufzeichnungen von ihrem verstorbenem Mann Erich hat er nun veröffentlicht.

Von Marcus Heumann |
    Es ist nicht die erste Geschichtsklitterung aus und in der Edition Ost, dem Fachverlag für DDR-Apologetik: Erich Honeckers letzte Aufzeichnungen werden uns mit vorliegendem Buch bereits zum zweiten Mal versprochen. Schon die im Juni 1994 publizierten "Moabiter Notizen" waren laut Verlag das Allerletzte, Pardon: die allerletzten schriftlichen Zeugnisse des einen Monat zuvor im chilenischen Exil Verstorbenen. Honecker schrieb sie – ebenso wie die jetzt publizierten Zeilen – während seiner Untersuchungshaft 1992/93 in Berlin-Moabit. Laut Verlagswaschzettel sind diese Texte:

    "Ein einmaliges zeitgeschichtliches Zeugnis. Sie geben nicht nur Auskunft über das Innenleben eines ehemaligen Staatsmannes, der schon todkrank, von einer gnaden- und seelenlosen Justiz zu Tode gehetzt wird, sondern gestatten erstmals auch einen Blick in Honeckers Innenleben. Erstmals werden auch viele persönliche Dokumente Honeckers publiziert."

    Zwar begegnet ein kritischer Leser solch vollmundigen Werbesprüchen generell mit einer Portion Skepsis - aber der hier betriebene Verpackungsschwindel nötigt selbst ihm einigen Respekt vor der Dreistigkeit dieses Ost-Verlages ab. Die "persönlichen Dokumente" entpuppen sich als Faksimiles diverser FDGB-Ausweise und Reisepässe des einstigen Generalsekretärs – nebst einer Abschlussrechnung der JVA Moabit. Ähnlich aufregend sind Honeckers Auskünfte über sein "Innenleben", die allenfalls einem Internisten brisante Einblicke verschaffen könnten: Denn das "Persönlichste" in diesem Tagebuch sind die regelmäßig notierten Blutdruck- und Pulswerte seines krebskranken Verfassers – und die handschriftliche Widmung "für Margot", mit der die erste Eintragung vom 29.Juli 1992 überschrieben ist. Dass die edition ost diese Widmung auch noch übergroß plakativ auf dem Buchumschlag platzierte, ist nur ein zusätzlicher Beleg dafür, dass auch Ex-Genossen inzwischen gelernt haben, beim Marketing wortwörtlich über Leichen zu gehen.

    Inhaltlich bietet der vorliegende Band nichts Neues gegenüber den "Moabiter Notizen". Gorbatschow ist auch hier der Verräter an der Sache des Sozialismus, der die DDR an den Westen verkauft hat; den Rest des Unterganges besorgten diverse Renegaten im SED-Politbüro. Eine Reflexion über mögliche Fehler des SED-Staats findet nicht statt – Honecker verwendet seine schwindenden Kräfte vielmehr dazu, mit großer Schadenfreude den Zustand der Ex-DDR im Jahre zwei der deutschen Einheit zu kommentieren:

    "Die Flammen von Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda sind ein furchtbares Menetekel. (…) Da klingt dieses Versprechen wie Hohn: 'Vielen wird es besser gehen, keinem schlechter'. Das Gegenteil ist eingetreten. (…) Die Ex-DDR wurde als Kolonie ausgeplündert."


    Keinen Gedanken verschwendet Honecker daran, dass irgendetwas in der von seiner Gattin Margot gemanagten Volksbildung schief gegangen sein könnte oder dass sich ein Großteil der VEB in einem derart maroden Zustand befand, dass sie auf dem freien Markt keine Überlebenschance hatten. Nicht nur hier offenbart sich ein dialektisches Grundproblem, das einen Dialog zwischen orthodoxen Epigonen des Honecker-Sozialismus und Demokraten westlicher Prägung so unergiebig macht: die Frage nach Ursache und Wirkung. Honeckers Argumentationsmuster spiegeln die systemimmanente Malaise der DDR-Geschichtsschreibung. Es ist eine Historie, die entscheidende Fakten und Ursachen im Interesse der Parteiraison wegretuschiert. Und so wird dieses Buch allenfalls jenen ewig Gestrigen zur Bestärkung dienen, die es sowieso immer schon gewusst haben. Rückwärts immer, vorwärts nimmer.

    Aber Verleger Frank Schumann brachte aus Santiago nicht nur dieses Machwerk mit nach Hause; sein eigentlicher Reisegrund waren vielmehr ausgiebige Gespräche mit der Nachlassverwalterin selbst. Der daraus entstandene Interviewband erschien nun - soviel Pluralismus muss sein - im Schwesterverlag "Das Neue Berlin", der zu DDR-Zeiten auf Krimis und Science Fiction spezialisiert war. Und auch wenn uns hier kein Krimi erwartet: gemessen an der Larmoyanz, die Erich Honeckers letzte Aufzeichnungen Seite für Seite durchzieht, wirken die Anmerkungen seiner immer noch höchst agilen Gattin Margot "Zur Volksbildung", so der Titel des Bandes, geradezu erfrischend: Altersstarrsinn kann mitunter auch ganz unterhaltsam sein. Im Gegensatz zu ihrem verstorbenen Gatten ist der heute 85-Jährigen immerhin eine gewisse intellektuelle Raffinesse nicht abzusprechen, auf die manch allzu simpel gestricktes kapitalismuskritisches Gemüt ohne historischen Background hereinfallen könnte: die DDR-Schulen – ein Hort des Humanismus. Zwangsadoptionen – das Beste, was Kindern von Republikflüchtigen passieren konnte. Und den polytechnischen Unterricht haben sich sogar die skandinavischen Staaten bei der DDR abgeguckt. Frank Schumanns Art der Interviewführung dürfte indes bei älteren Semestern schlimmste Erinnerungen an die "Aktuelle Kamera" des DDR-Fernsehens provozieren, in der sich Reporter regelmäßig als Stichwortgeber mehr oder weniger bedeutender SED-Genossen prostituierten. Folgende Buchpassage zum Beispeil ist nicht etwa eine Antwort Margot Honeckers, sondern eine Frage Schumanns an Sie:

    "Es ging ja nicht nur darum, die Naziideologie aus den Köpfen zu vertreiben. Und es war auch nicht damit getan, die belasteten Nazi-Lehrer aus der Schule zu verbannen und neue Fibeln zu drucken. Es musste die Schule als Institution wie auch als Bildungssystem entrümpelt werden."

    Natürlich greift Margot Honecker Steilvorlagen wie diese dankbar auf, um lang und breit über die schönen stalinistischen Aufbaujahre zu monologisieren. Apropos Stalin und Stalinismus – auch dazu hat Honecker ihre Meinung:

    "Unter Stalin vollzogen sich revolutionäre Veränderungen. In wenigen Jahrzehnten hat sich die Sowjetunion zu einer Industrie-, zu einer Weltmacht emporgearbeitet."

    Hier rafft sich der Interviewer dann doch einmal zu einer Bemerkung auf, die auf den Massenmord Stalins an der eigenen Bevölkerung anspielt:

    "Der Preis war hoch, den die Sowjetvölker für den Fortschritt zahlen mussten."

    Und Margot Honecker entgegnet, den Einwurf Schumanns offenbar absichtlich missverstehend:

    "Ja. Ohne die imperialistischen Interventionskriege in den ersten Jahren und ohne die deutsche Okkupation 1941 wäre er wahrlich niedriger ausgefallen. Da haben Sie völlig recht."

    Thema erledigt. Diese Passage ist ebenso bezeichnend wie jene, in der Schumann die Volksbildungsministerin a.D. in einem seltenen Anfall von Aufklärungswillen mit Statistiken des Leipziger Instituts für Jugendforschung konfrontiert. Danach identifizierten sich 1969 noch 50 Prozent der Schüler der 10.Klassen vollkommen mit der DDR, im Mai 1989 hingegen nur noch 18 Prozent. Margot Honecker begegnet auch diesem Faktum ohne einen Anflug von Selbstkritik:

    "Ja, die Entwicklung war mir durchaus bewusst. Ich sah, wie die westliche Propaganda ihre Wirkung nicht verfehlte, wie sie bei uns wühlten, unter der Losung unabhängig Friedens- und Umweltaktivisten in Stellung brachten, diese unterstützten und gleichsam als fünfte Kolonne gegen uns arbeiten ließen."''

    Sehen wir es mal dialektisch, wie Frau Honecker das gern hat: da haben also 40 Jahre sozialistische Volksbildung mitsamt all den Morgenapellen, Staatsbürgerkundestunden, Ernteeinsätzen und vormilitärischem Drill nicht ausgereicht, die Jugend von der schönsten DDR der Welt zu überzeugen. Stattdessen ließ sie sich vom großen bösen West-Wolf verspeisen, der sich - verkleidet als bärtiger Friedensaktivist - in Margots pädagogisches Butzemannhäuschen geschlichen hatte. Man fragt sich bang, welche Verschwörungstheorien die 85-Jährige noch in der Schublade hat. Oder vielleicht doch Erichs Allerletzte, aller privatesten Tagebücher - die mit den Blutzuckerwerten…? - Mar-Gott behüte!


    Literatur:
    Margot Honecker: Zur Volksbildung Gespräch.
    Verlag Das Neue Berlin,
    224 Seiten, 14,95 Euro
    ISBN 978-3-360-02145-8

    Erich Honecker: Letzte Aufzeichnungen.
    Verlag Edition Ost, 190 Seiten, 14,95
    ISBN 978-3-360-01837-3