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Zwischen allen Stilen und Stühlen

Die Musiker von The XX waren Anfang 20, als sie 2009 mit ihrem Debütalbum "XX" einen Volltreffer landeten. Es regnete Lob und Auszeichnungen für ihren extrem langsamen, minimalistischen Pop. Auf ihrem zweiten Album flirten sie mit Techno, Trance und House.

Von Marcel Anders | 08.09.2012
    "Coexist" heißt das zweite Album von The XX. Eine Band, deren Musik einfach überall läuft - von der Fußball-EM über TV-Serien wie "Cold Case” bis hin zur griechischen Version von "Next Top Model” und der Präsentation von Karl Lagerfelds Winterkollektion. Was mit einem riesigen Medienhype, zig Auszeichnungen sowie illustren Bewunderern der Marke Birdy oder Rihanna einhergeht – der Band, so gesteht Bassist Oliver Sim, aber mitunter ein bisschen zu viel wird.

    "Diese Sachen waren für uns genauso überraschend wie für die Öffentlichkeit. Wobei es meistens so ist, dass du sie nicht kontrollieren kannst. Es verläuft nach dem Schema: Entweder gibst du deine Musik ganz allgemein frei – oder nicht. Aber du wirst nicht bei jeder einzelnen Sache gefragt. Wobei ich das Meiste aber ziemlich interessant finde. Außer wenn ich Zuhause den Fernseher einschalte und erlebe, wie "VCR" bei einer Kochshow eingesetzt wird. Das tut ziemlich weh. Und ich frage mich, ob die Leute irgendwann genug von uns und den Songs haben. Dass sie das Gefühl bekommen, man würde ihnen das geradezu aufdrängen. Das ist meine größte Sorge."

    Wodurch sich Oliver Sim, Mastermind des Londoner Trios, als echtes Sensibelchen outet. Ein schüchterner 23-Jähriger, der vom Erfolg seines Debüts geradezu überrollt wurde, mehrere Millionen Tonträger verkaufte, mit dem Mercury Prize bedacht wurde und fast zwei Jahre auf der Bühne verbrachte. Was ihn bei der Rückkehr nach London vor ein echtes Problem stellte.

    "Als wir anfingen zu touren, waren wir 18. Und als wir wiederkamen 21. Inzwischen waren all unsere Freunde an der Uni und sind zuhause ausgezogen. Insofern hatten wir das Gefühl, da einiges verpasst zu haben. Was wir erst einmal nachholen mussten. Denn nach Hause zu kommen, hat etwas Ernüchterndes – es ist das exakte Gegenteil von dem Adrenalin, das sich auf der Bühne anstaut. Also sind wir viel ausgegangen und haben uns mit Freunden getroffen. Es war ein wirklich gutes Jahr – ich habe es sehr intensiv gelebt."

    "Intensiv gelebt" meint Oliver genau so, wie er es sagt: mit wilden Partys in Bars und Clubs. Mal an der Seite von Rihanna, die seinen Song "Intro" gesampelt hat. Oder von adretten Jungs aus der Londoner Schwulenszene. Was Oliver mehr Boulevardpresse eingebracht hat, als ihm und seiner Band lieb ist. Und seinem Sound die zweifelhafte Etikette "gay rock" bescherte. Wogegen er sich mit Händen und Füßen wehrt. Zum einen, weil Homosexualität in der Popkultur ja nichts Neues ist. Aber auch, so sagt er, weil sein Frühwerk vor allem eines war: naiv.

    "Ich war so jung, als ich diese Liebeslieder gesungen habe – ich hatte überhaupt keine Erfahrung. Was nicht heißt, dass ich mich dafür schäme. Aber ich habe halt mehr die Beziehungen anderer Leute um mich herum beobachtet. Und mir dann ausgemalt, wie das bei mir sein könnte. Aber jetzt, da ich 23 bin, habe ich meine eigenen Erfahrungen gemacht, und deshalb haben meine Songs auch etwas Befreiendes – weil es wichtig ist, das rauszulassen. Sie sind viel autobiografischer."

    Doch lyrische Offenheit ist nicht die einzige Neuerung bei "Coexist". Im Gegensatz zum Debüt, das vom Düstersound der Cure und Cocteau Twins geprägt war, flirten The XX diesmal mit Techno, Trance und House. Was für einen unkonventionellen Mix aus sphärischen Klanggemälden und dezenten Beats sorgt. Eine Art chill out noire – zwischen allen Stilen und Stühlen.

    "Die Leute werden überrascht sein, wenn sie dieses Album hören. Denn Dance-Musik ist da nur ein Einfluss unter vielen. Im Grunde ist es immer noch dasselbe wie bei unserem Debüt, weshalb die Songs auch nicht komplett anders sind. Aber Romys Gitarren-Riffs sind definitiv von Dance-Musik geprägt. Und wir finden die Monotonie, die da im Spiel ist, sehr inspirierend. Trotzdem kann ich bestätigen: Es ist kein Dance-Album – auch, wenn es unsere bislang tanzbarsten Songs sind. Aber gleichzeitig unsere reduziertesten. Und ruhigsten."

    Dass die eigenwillige Mischung ankommt, darüber muss sich Oliver Sim keine Gedanken machen. Die britische Musikpresse feiert "Coexist" als eines der wichtigsten Alben des Jahres. Die Amerika-Tour ist ausverkauft. Und auch in Deutschland überschlägt sich das Feuilleton mit Lobeshymnen. Zu Recht: The XX haben den Mut, etwas Eigenständiges zu machen. Zudem verfügen sie mit Keyboarder Jamie Smith über einen aufstrebenden Produzenten und DJ, bei dem viele berühmte Kollegen Schlange stehen – und auf den Oliver mindestens so stolz ist wie auf das neue Album.

    "Ich finde es aufregend, was Jamie macht. Und ich ermutige ihn. Denn was er mit Gil Scott-Heron aufgenommen hat, ist unglaublich inspirierend – eines meiner Lieblingsalben des letzten Jahres. Wobei er immer sagt, dass The XX seine Priorität sind. Alles andere läuft nur nebenbei. Und ich halte mich da komplett raus. Ich genieße es einfach als Fan. Und bin sehr stolz auf ihn. Also darauf, in einer Band mit ihm zu sein. Ich mache mir da keine Sorgen."