...behauptet Guntolf Herzberg, Verfasser der jüngst erschienen Arbeit mit dem Titel: "Anpassung und Aufbegehren. Die Intelligenz der DDR in den Krisenjahren 1956/58", um dann auszuführen:
"...als die (Perspektive) vom guten und schweren Anfang, wo unter Entbehrungen und mit viel Schwung und Idealismus eine neue Gesellschaft aufgebaut wurde, die nach stalinistischen und post-stalinistischen Tiefen mit dem Mauerbau 1961 einen eigenständigen Weg einschlug (eine "innere Staatsgründung"), doch sich nicht konsequent genug reformierte (...) – oder konträr: Machtgierige Kommunisten übernahmen im Moskauer Auftrag die Schaltpositionen, (...) die DDR bekam den Stalinismus übergestülpt, verfolgte ihre Kritiker, (...) bis eine immer stärker anwachsende Volksbewegung dieses System abwarf. – Für beide Sichtweisen gibt es repräsentative Literatur."
Guntolf Herzberg interessiert speziell der Zeitraum ab 1956. Vor genau 50 Jahren nämlich waren im so genannten Ostblock drei wichtige, international bedeutsame Ereignisse zu registrieren. Zum einen war dies die so genannte "Tauwetter"-Rede von Nikita Chruschtschow. Der Erste Sekretär der sowjetischen Kommunisten hatte auf dem XX. Parteitag der KPdSU spektakulär den Mythos Stalin und den Stalinismus demontiert, kurz darauf folgten Unruhen in der Volksrepublik Polen – und schließlich, im Oktober 1956, kulminierte der allgemeine Gärungsprozess im bewaffneten Widerstand der Ungarn gegen ihre kommunistische Führung. – In der DDR hingegen blieb es ruhig. Dreieinhalb Jahre waren vergangen seit dem dort ebenfalls abgewürgten Aufstand vom 17. Juni. – Anpassung und Aufbegehren: Zwischen diesen beiden Polen bewegte sich damals, 1956, und in den Monaten darauf die DDR-Intelligenz – formuliert Herzberg im Titel seines Buches – und die Anpassung hat offenbar überwogen. Warum war das so?, habe ich ihn gefragt:
Herzberg: Das ist das eigentümliche Verhältnis zwischen der Partei und den in dieser Partei massenhaft versammelten Intellektuellen. Sie haben beide, die Partei und die Intellektuellen, dieselbe Sprache gesprochen. - Da könnte man sagen, das ist eine ideale Kommunikationsgemeinschaft gewesen. - Aber beide haben unterhalb der gleichen Sprache sehr Verschiedenes gemeint. Außerhalb des offiziellen Dialogs zwischen Partei und der Intelligenz war wohl die Ablösung von Walter Ulbricht gefordert worden. In dem Augenblick, wo man aber mehr oder weniger offiziell mit der Parteiführung sprach, haben diese Forderungen natürlich überhaupt keine Chance gehabt. Also ließ man sie weg.
Baag: Sie reden mehrfach von der Intelligenz. Wie hat man sich eigentlich die Angehörigen der DDR-Intelligenz damals vorzustellen. Wieviel Prozent der Bevölkerung waren das?
Herzberg: Ich rede deswegen von der Intelligenz, weil das der offizielle Terminus war, mit dem man in der DDR, genauer sogar auch im Statistischen Jahrbuch, all die Menschen erfasst hat, die eine höhere Bildung hatten oder die in der Kultur eine besondere Rolle gespielt haben. Und das waren insgesamt nicht wenige, etwas über 300.000 Menschen, die zur Intelligenz gezählt wurden und damit auch einen privilegierten Status innerhalb der Gesellschaft hatten.
Baag: Ist denn Intelligenz und Intellektuelle, ist das ein Synonym in der DDR?
Herzberg: In der DDR war es ein Synonym. Unter Intellektuellen verstehe ich, wie Pierre Bourdieu, eine besondere Klasse innerhalb der Intelligenz. Das sind Menschen, die ein hohes Bildungsniveau haben und außerhalb ihres Expertengebietes in der Öffentlichkeit politische, soziale oder ähnliche Forderungen formulieren, sozusagen die Kritiker oder die Gewissensstimme der Bevölkerung idealiter sein sollen.
Baag: An einer Stelle in ihrem Buch heißt es, dass es bis eigentlich 1989, also bis zum Ende der DDR, wenig Intellektuelle in der DDR gegeben habe – Sie nennen stellvertretend Wolfgang Harich oder Robert Havemann, Bert Brecht, Wolf Biermann. Aber selbst so schillernde Figuren wie Stefan Heym oder Stephan Hermlin – ist ein Intellektueller in Ihrem Sinn eigentlich nur jemand, der sich laut äußert?
Herzberg: Ja. Wenn man zu Hause unzufrieden ist mit den politischen Verhältnissen und in der Öffentlichkeit sehr angepasst, kann man sich zwar intern als Intellektueller bezeichnen, aber das würde für meine Vorstellung der Rolle der Intellektuellen in der Gesellschaft – und das gilt von Zola bis heute – würde das dem nicht entsprechen.
Baag: Ist die Intelligenz in der DDR eigentlich ein natürlicher, vor allem, durch vielleicht auch Privilegien korrumpierbarer Bündnispartner für die SED gewesen, oder ist sie misstrauisch beäugt worden?
Herzberg: Das Ministerium für Staatssicherheit hat sich nicht mit der Gesamtgruppe beschäftigt, sondern nur mit delikaten Einzelfällen, die ihr von der Partei zugeführt wurden. Von diesen Dreihunderttausend muss man sagen, dass sie durch eine geschickte Politik der SED – was also Privilegien, Bezahlungen angeht - seit 1953 nicht schlecht gelebt hat. Es gibt natürlich immer wieder Einzelbeschwerden über fehlende Auslandsreisen, fehlende Ferienheime und ähnliches. Aber das ist ja im Vergleich zur Gesamtbevölkerung der DDR keine Benachteiligung gewesen.
Baag: In der Quintessenz Ihrer Analyse heißt es: Zwischen der SED-Parteiführung und der Intelligenz habe es, so ihr zentraler Begriff, eine verzerrte Kommunikation gegeben. Wie ist dieser Begriff zu verstehen?
Herzberg: Das ist mir sehr wichtig. Ich habe keine Oppositionsgeschichte geschrieben, ich habe auch trotz aller faktischen Repression keine Repressionsgeschichte geschrieben, sondern für mich sind die entscheidenden Vorstellungen, die der verzerrten Kommunikation. Und das bedeutet, dass man mit einer gemeinsamen Sprache trotzdem unehrlich miteinander umgegangen ist, dass die Führung und die ganzen Institutionen des Staates und der Partei mit einer vorgeprägten Sprache versucht haben, die tatsächlichen Differenzen und Probleme und Defizite des Landes mit Hilfe einer konfliktfreien marxistisch-leninistisch geprägten Sprache zu umgehen. Die Intelligenz, wenn sie ihre Forderungen aufstellte, hatte grundsätzlich keine andere Sprache zur Verfügung. Das heißt: Es greift dieselbe verlogene, verharmlosende Sprache auf und versucht darin Veränderungen zu formulieren, minimale Veränderungen als Idee und hat aber sofort die Grenzen dieser Veränderungen, wie weit man gehen will, gleich mitformuliert und die Grenzen so eng gezogen, bloß damit die Vorschläge vom Zentralkomitee der SED berücksichtigt werden.
Baag: Wenn Sie das vergleichen mit dem Verhalten der Intelligenzen in Polen und in Ungarn – wo liegt in Ihrer Rückschau eigentlich der größte Unterschied dieser Intelligenzija-Angehörigen zu der Intelligenzija innerhalb der DDR?
Herzberg: In der DDR forderte man weniger Zensur, eine eigene Zeitschrift - und das sind Dinge, die die Bevölkerung überhaupt nicht interessiert haben. In Polen forderte man Klarlegung der wirtschaftlichen Verhältnisse, Auswechselung in der Regierung. In Ungarn forderte man die Offenlegung der Wirtschaftsvereinbarungen mit der Sowjetunion, der Uran-Vorkommen, der Handelspläne, der Finanzpläne. Das sind Dinge, die die gesamte Öffentlichkeit interessiert haben. In der DDR gab es keine Solidarisierung zwischen der Menge der Bevölkerung und der Intelligenz, weil die Intelligenz sozusagen nur ihre eigenen Probleme und ihre eigenen Privilegien artikuliert hat und sich nicht auf die sozialen und nicht auf die größeren politischen Zusammenhänge, die in der Bevölkerung virulent waren, eingelassen hat.
Baag: Spielte denn damals eigentlich der andere deutsche Staat, die ebenfalls junge Bundesrepublik, zumindest für Teile der DDR-Intelligenz, irgendeine Vorbildrolle?
Herzberg: Ein Teil der Intelligenz hat tatsächlich Westdeutschland als Vorbild gesehen, indem sie dort bessere Arbeitsbedingungen hatten, und sie sind deswegen in die Bundesrepublik übergegangen. Diejenigen, die sozusagen Sprachrohr der DDR-Intelligenz sein konnten, haben in der Bundesrepublik den schlechteren, den bösartigeren, ja sogar den faschistischen Staat gesehen, der für sie nie eine Alternative war. Und der einzige von den interessanten Leuten dieser Zeit, der sich über die gesamtdeutsche Dimension Gedanken gemacht het, war Wolfgang Harich. Was er forderte war, den Aufbau des Sozialismus in der DDR für eine gewisse Zeit zu verlangsamen, damit die DDR anschlussfähig ist an die Bundesrepublik. Dann aber – und das ist seine Pointe, die er bis 1990 vertreten hat – dann sollte die Wiedervereinigung Gesamtdeutschlands unter sozialistischen Bedingungen vollzogen werden.
Baag: Weshalb konnte eigentlich Ulbricht persönlich bis in die 70er Jahre hinein politisch überleben – weil die Intelligenz in der DDR versagt hat?
Herzberg: Also, Walter Ulbricht war ein brillanter Taktiker und Stratege. Er hat alle Kritiker seit Anfang der 50er Jahre beseitigen können. Das erklärt aber nur die eine Seite. Das andere ist, dass, gerade 1956 der Aufstand in Ungarn, große Teile der DDR-Intelligenz durch die verlogene Wiedergabe in allen Medien große Angst hatten: Wenn wir eine Kleinigkeit fordern, würde es eventuell zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen kommen.
Guntolf Herzberg war das, Autor der voluminösen aber sehr informativen, vor allen Dingen jedoch gut lesbaren Arbeit: "Anpassung und Aufbegehren. Die Intelligenz der DDR in den Krisenjahren 1956/58". Auch wer sich mit dem Phänomen des Dissidententums im so genannten "real existierenden Sozialismus" seit den späten sechziger Jahren beschäftigen möchte, wird vorab um diesen Band nicht herumkommen. Er ist erschienen im Berliner Verlag Ch. Links, hat 728 Seiten und kostet 34,90 Euro.
"...als die (Perspektive) vom guten und schweren Anfang, wo unter Entbehrungen und mit viel Schwung und Idealismus eine neue Gesellschaft aufgebaut wurde, die nach stalinistischen und post-stalinistischen Tiefen mit dem Mauerbau 1961 einen eigenständigen Weg einschlug (eine "innere Staatsgründung"), doch sich nicht konsequent genug reformierte (...) – oder konträr: Machtgierige Kommunisten übernahmen im Moskauer Auftrag die Schaltpositionen, (...) die DDR bekam den Stalinismus übergestülpt, verfolgte ihre Kritiker, (...) bis eine immer stärker anwachsende Volksbewegung dieses System abwarf. – Für beide Sichtweisen gibt es repräsentative Literatur."
Guntolf Herzberg interessiert speziell der Zeitraum ab 1956. Vor genau 50 Jahren nämlich waren im so genannten Ostblock drei wichtige, international bedeutsame Ereignisse zu registrieren. Zum einen war dies die so genannte "Tauwetter"-Rede von Nikita Chruschtschow. Der Erste Sekretär der sowjetischen Kommunisten hatte auf dem XX. Parteitag der KPdSU spektakulär den Mythos Stalin und den Stalinismus demontiert, kurz darauf folgten Unruhen in der Volksrepublik Polen – und schließlich, im Oktober 1956, kulminierte der allgemeine Gärungsprozess im bewaffneten Widerstand der Ungarn gegen ihre kommunistische Führung. – In der DDR hingegen blieb es ruhig. Dreieinhalb Jahre waren vergangen seit dem dort ebenfalls abgewürgten Aufstand vom 17. Juni. – Anpassung und Aufbegehren: Zwischen diesen beiden Polen bewegte sich damals, 1956, und in den Monaten darauf die DDR-Intelligenz – formuliert Herzberg im Titel seines Buches – und die Anpassung hat offenbar überwogen. Warum war das so?, habe ich ihn gefragt:
Herzberg: Das ist das eigentümliche Verhältnis zwischen der Partei und den in dieser Partei massenhaft versammelten Intellektuellen. Sie haben beide, die Partei und die Intellektuellen, dieselbe Sprache gesprochen. - Da könnte man sagen, das ist eine ideale Kommunikationsgemeinschaft gewesen. - Aber beide haben unterhalb der gleichen Sprache sehr Verschiedenes gemeint. Außerhalb des offiziellen Dialogs zwischen Partei und der Intelligenz war wohl die Ablösung von Walter Ulbricht gefordert worden. In dem Augenblick, wo man aber mehr oder weniger offiziell mit der Parteiführung sprach, haben diese Forderungen natürlich überhaupt keine Chance gehabt. Also ließ man sie weg.
Baag: Sie reden mehrfach von der Intelligenz. Wie hat man sich eigentlich die Angehörigen der DDR-Intelligenz damals vorzustellen. Wieviel Prozent der Bevölkerung waren das?
Herzberg: Ich rede deswegen von der Intelligenz, weil das der offizielle Terminus war, mit dem man in der DDR, genauer sogar auch im Statistischen Jahrbuch, all die Menschen erfasst hat, die eine höhere Bildung hatten oder die in der Kultur eine besondere Rolle gespielt haben. Und das waren insgesamt nicht wenige, etwas über 300.000 Menschen, die zur Intelligenz gezählt wurden und damit auch einen privilegierten Status innerhalb der Gesellschaft hatten.
Baag: Ist denn Intelligenz und Intellektuelle, ist das ein Synonym in der DDR?
Herzberg: In der DDR war es ein Synonym. Unter Intellektuellen verstehe ich, wie Pierre Bourdieu, eine besondere Klasse innerhalb der Intelligenz. Das sind Menschen, die ein hohes Bildungsniveau haben und außerhalb ihres Expertengebietes in der Öffentlichkeit politische, soziale oder ähnliche Forderungen formulieren, sozusagen die Kritiker oder die Gewissensstimme der Bevölkerung idealiter sein sollen.
Baag: An einer Stelle in ihrem Buch heißt es, dass es bis eigentlich 1989, also bis zum Ende der DDR, wenig Intellektuelle in der DDR gegeben habe – Sie nennen stellvertretend Wolfgang Harich oder Robert Havemann, Bert Brecht, Wolf Biermann. Aber selbst so schillernde Figuren wie Stefan Heym oder Stephan Hermlin – ist ein Intellektueller in Ihrem Sinn eigentlich nur jemand, der sich laut äußert?
Herzberg: Ja. Wenn man zu Hause unzufrieden ist mit den politischen Verhältnissen und in der Öffentlichkeit sehr angepasst, kann man sich zwar intern als Intellektueller bezeichnen, aber das würde für meine Vorstellung der Rolle der Intellektuellen in der Gesellschaft – und das gilt von Zola bis heute – würde das dem nicht entsprechen.
Baag: Ist die Intelligenz in der DDR eigentlich ein natürlicher, vor allem, durch vielleicht auch Privilegien korrumpierbarer Bündnispartner für die SED gewesen, oder ist sie misstrauisch beäugt worden?
Herzberg: Das Ministerium für Staatssicherheit hat sich nicht mit der Gesamtgruppe beschäftigt, sondern nur mit delikaten Einzelfällen, die ihr von der Partei zugeführt wurden. Von diesen Dreihunderttausend muss man sagen, dass sie durch eine geschickte Politik der SED – was also Privilegien, Bezahlungen angeht - seit 1953 nicht schlecht gelebt hat. Es gibt natürlich immer wieder Einzelbeschwerden über fehlende Auslandsreisen, fehlende Ferienheime und ähnliches. Aber das ist ja im Vergleich zur Gesamtbevölkerung der DDR keine Benachteiligung gewesen.
Baag: In der Quintessenz Ihrer Analyse heißt es: Zwischen der SED-Parteiführung und der Intelligenz habe es, so ihr zentraler Begriff, eine verzerrte Kommunikation gegeben. Wie ist dieser Begriff zu verstehen?
Herzberg: Das ist mir sehr wichtig. Ich habe keine Oppositionsgeschichte geschrieben, ich habe auch trotz aller faktischen Repression keine Repressionsgeschichte geschrieben, sondern für mich sind die entscheidenden Vorstellungen, die der verzerrten Kommunikation. Und das bedeutet, dass man mit einer gemeinsamen Sprache trotzdem unehrlich miteinander umgegangen ist, dass die Führung und die ganzen Institutionen des Staates und der Partei mit einer vorgeprägten Sprache versucht haben, die tatsächlichen Differenzen und Probleme und Defizite des Landes mit Hilfe einer konfliktfreien marxistisch-leninistisch geprägten Sprache zu umgehen. Die Intelligenz, wenn sie ihre Forderungen aufstellte, hatte grundsätzlich keine andere Sprache zur Verfügung. Das heißt: Es greift dieselbe verlogene, verharmlosende Sprache auf und versucht darin Veränderungen zu formulieren, minimale Veränderungen als Idee und hat aber sofort die Grenzen dieser Veränderungen, wie weit man gehen will, gleich mitformuliert und die Grenzen so eng gezogen, bloß damit die Vorschläge vom Zentralkomitee der SED berücksichtigt werden.
Baag: Wenn Sie das vergleichen mit dem Verhalten der Intelligenzen in Polen und in Ungarn – wo liegt in Ihrer Rückschau eigentlich der größte Unterschied dieser Intelligenzija-Angehörigen zu der Intelligenzija innerhalb der DDR?
Herzberg: In der DDR forderte man weniger Zensur, eine eigene Zeitschrift - und das sind Dinge, die die Bevölkerung überhaupt nicht interessiert haben. In Polen forderte man Klarlegung der wirtschaftlichen Verhältnisse, Auswechselung in der Regierung. In Ungarn forderte man die Offenlegung der Wirtschaftsvereinbarungen mit der Sowjetunion, der Uran-Vorkommen, der Handelspläne, der Finanzpläne. Das sind Dinge, die die gesamte Öffentlichkeit interessiert haben. In der DDR gab es keine Solidarisierung zwischen der Menge der Bevölkerung und der Intelligenz, weil die Intelligenz sozusagen nur ihre eigenen Probleme und ihre eigenen Privilegien artikuliert hat und sich nicht auf die sozialen und nicht auf die größeren politischen Zusammenhänge, die in der Bevölkerung virulent waren, eingelassen hat.
Baag: Spielte denn damals eigentlich der andere deutsche Staat, die ebenfalls junge Bundesrepublik, zumindest für Teile der DDR-Intelligenz, irgendeine Vorbildrolle?
Herzberg: Ein Teil der Intelligenz hat tatsächlich Westdeutschland als Vorbild gesehen, indem sie dort bessere Arbeitsbedingungen hatten, und sie sind deswegen in die Bundesrepublik übergegangen. Diejenigen, die sozusagen Sprachrohr der DDR-Intelligenz sein konnten, haben in der Bundesrepublik den schlechteren, den bösartigeren, ja sogar den faschistischen Staat gesehen, der für sie nie eine Alternative war. Und der einzige von den interessanten Leuten dieser Zeit, der sich über die gesamtdeutsche Dimension Gedanken gemacht het, war Wolfgang Harich. Was er forderte war, den Aufbau des Sozialismus in der DDR für eine gewisse Zeit zu verlangsamen, damit die DDR anschlussfähig ist an die Bundesrepublik. Dann aber – und das ist seine Pointe, die er bis 1990 vertreten hat – dann sollte die Wiedervereinigung Gesamtdeutschlands unter sozialistischen Bedingungen vollzogen werden.
Baag: Weshalb konnte eigentlich Ulbricht persönlich bis in die 70er Jahre hinein politisch überleben – weil die Intelligenz in der DDR versagt hat?
Herzberg: Also, Walter Ulbricht war ein brillanter Taktiker und Stratege. Er hat alle Kritiker seit Anfang der 50er Jahre beseitigen können. Das erklärt aber nur die eine Seite. Das andere ist, dass, gerade 1956 der Aufstand in Ungarn, große Teile der DDR-Intelligenz durch die verlogene Wiedergabe in allen Medien große Angst hatten: Wenn wir eine Kleinigkeit fordern, würde es eventuell zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen kommen.
Guntolf Herzberg war das, Autor der voluminösen aber sehr informativen, vor allen Dingen jedoch gut lesbaren Arbeit: "Anpassung und Aufbegehren. Die Intelligenz der DDR in den Krisenjahren 1956/58". Auch wer sich mit dem Phänomen des Dissidententums im so genannten "real existierenden Sozialismus" seit den späten sechziger Jahren beschäftigen möchte, wird vorab um diesen Band nicht herumkommen. Er ist erschienen im Berliner Verlag Ch. Links, hat 728 Seiten und kostet 34,90 Euro.