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Zwischen Armut und Radikalismus

Immer wieder tauchen marokkanische Namen auf, wenn in Europa Terrorverdächtige festgenommen werden. Viele der Terroristen kommen aus den ärmsten Stadtteilen von Casablanca, Slums, die sich um die pulsierende Metropole des nordafrikanischen Landes gebildet haben. Hier fällt die Ideologie der radikalen Fundamentalisten auf besonderes fruchtbaren Boden.

Von Ruth Reichstein |
    Ein älterer Mann bietet riesige Wassermelonen zum Kauf an. Sie stapeln sich auf einem klapprigen Holzkarren, der an einen Esel gespannt ist. Der Mann hat die Melonen aus dem Süden Marokkos nach Casablanca gebracht, hier hofft er auf größere Kundschaft. Doch die meisten Passanten gehen achtlos an ihm vorbei. Einige nicken ihm kurz zu. Aber verkauft hat er noch keine Früchte an diesem Vormittag.

    "Wir sind hier im Viertel Sidi Moumen. Die Arbeitslosigkeit ist sehr hoch bei uns. Sie liegt bei über 30 Prozent. Die Leute sind wirklich arm, viele von ihnen leben in Slums,"

    sagt Eloucine Ancar. Der 37 Jahre alte Mann läuft an dem Melonenverkäufer vorbei und lässt sich auf einer Terrasse nieder. Er bestellt einen kleinen, schwarzen Kaffee. Ancar ist hier in Sidi Moumen zuhause, in dem Stadtviertel, in dem auch die Terroristen aufgewachsen sind, die im Mai 2003 Selbstmordanschläge auf jüdische und andere westlich orientierte Kultureinrichtungen in Casablanca verübt haben. Über 40 Menschen wurden damals getötet, über hundert verletzt.

    Dass die Attentäter - allesamt marokkanischer Herkunft - ausgerechnet aus diesem Stadtteil kamen, sei kein Zufall, meint Eloucine Ancar, der in einem Verein gegen Extremismus in seinem Viertel kämpft:

    "Die Armut fördert den Terrorismus, weil die Armen keine Bildung haben. Sie leben zu zehnt oder mehr in einer Wohnung. Sie sehen keine Zukunft für sich. Die Radikalen haben dann ein leichtes Spiel, diese Jugendlichen für ihre Zwecke zu beeinflussen. Sie sprechen sie in Schulen und Moscheen an, aber auch in Cafés oder auf der Straße. Sie versprechen ihnen kein Geld oder einen Job. Es ist eine ideologische Frage. Bei den Jugendlichen setzt sich die Maxime fest: Muslime gegen die westliche Zivilisation."

    In Sidi Moumen leben die Ärmsten der Armen. Gleich hinter dem Café beginnen die Slums. Die Wellblech-Dächer glitzern in der sengenden Sonne. Der Wind heult über die staubigen Hügel. Eine Gruppe junger Männer ist zusammengekommen. Zu Fuß, mit dem Fahrrad oder mit alten Motorrädern. Ihre Kleidung ist zerrissen, sie sind aufgebracht:

    " Ein angenehmes Leben kennen wir nur aus dem Fernsehen. Die Regierung verspricht uns ständig neues, aber es passiert einfach nichts. Wir schlagen uns also mit Gelegenheitsjobs durch. Aber oft haben wir gar keine Arbeit. Wir verkaufen Früchte und Gemüse auf dem Markt. Wir machen alles, um zu überleben."

    In einer Mischung aus marokkanischem Arabisch und Französisch schreien sie sich ihren Frust von der Seele. Noch immer leben 14 Prozent der Marokkaner unter der Armutsgrenze. Der Durchschnittslohn beträgt weniger als zwei Euro die Stunde. Die Analphabetismusrate liegt schon seit Jahren bei rund 40 Prozent.

    Aber die Armut ist nicht der einzige Grund für den steigenden Zulauf radikaler Organisationen in Marokko, sagt der Politikwissenschaftler Mohammed El Ayadi:

    " Der wichtigste Faktor ist die internationale Politik. Und da vor allem die Konflikte zwischen den muslimischen und den nicht-muslimischen Staaten, zum Beispiel der Palästina-Konflikt."

    Die Politik der westlichen Staaten - vor allem der Amerikaner - erscheine vielen Marokkanern als ungerecht den Muslimen gegenüber. Immer mehr junge Marokkaner melden sich freiwillig, um im Irak gegen die Truppen der westlichen Gemeinschaft zu kämpfen.

    Die Toleranz in der Bevölkerung für Gewalt steige, meint El Ayadi - und zwar nicht nur bei den Armen. Die marokkanischen Selbstmordattentäter kommen nicht nur aus den Slums in Casablanca.

    Im August vergangenen Jahres zum Beispiel hat in der nordmarokkanischen Stadt Meknès ein Ingenieur versucht, sich mitten im Zentrum in die Luft zu sprengen. Er war beim Staat als Ingenieur angestellt und wollte westliche Touristen töten. Der Sprengstoff explodierte aber nur teilweise. Der Attentäter verlor dabei eine Hand.

    Der marokkanische Staat reagierte auf die Terrorwelle im eigenen Land mit einer großangelegten Festnahmeaktion. Nach den Attentaten 2003 wurden auf einen Schlag über 8000 Verdächtigte verhaftet, rund 2000 verurteilt. Der Politikwissenschaftler Mohamed Darif ist überzeugt, dass die meisten unschuldig im Gefängnis sitzen:

    "Natürlich dürfen wir die Attentate nicht verleugnen. Aber es gab zu viele Festnahmen. Die Sicherheitsleute wollten sich damit profilieren. Der König hatte sich gerade dazu entschieden, demokratische Reformen durchzusetzen. Und das wollten die Sicherheitskräfte verhindern. Sie wollten ihm die Botschaft vermitteln, dass die Reformen den Extremismus unterstützen."

    Mittlerweile sind die umfangreichen Razzien - auch im Viertel Sidi Moumen - vorbei. Und die marokkanische Regierung hat den Schwerpunkt verlagert. Sie geht mittlerweile nicht nur mit Polizei und Geheimdiensten gegen die Fundamentalisten vor. Die Politiker versuchen auch, die Ursachen - also unter anderem die Armut - zu bekämpfen. Auch im Viertel Sidi Moumen sind erste Veränderungen zu spüren, erzählt Eloucine Ancar:

    " Nach den Anschlägen von 2003 hat König Hassan II. ein neues Programm ins Leben gerufen, um die Bewohner der Slums umzusiedeln. Jede Familie, die wollte, hat ein Stück Land von 84 Quadratmetern bekommen, um darauf ein stabileres Haus zu bauen. Es ist schon ein gutes Programm, aber es kam leider zu spät."

    Hinter den Slums sind reihenweise Neubauten zu erkennen. Die Häuser sind noch unverputzt. Sie haben vier oder fünf Stockwerke. Die Wohnungen sind klein, aber sauber. Jede Familie bekommt 60 Quadratmeter für umgerechnet 10.000 bis 20.000 Euro.

    Die Wohnblocks tragen den Namen Salam eins und zwei. Salam bedeutet Frieden. Aber der ist in diesem Viertel noch lange nicht eingekehrt, sagt dieser Bewohner, der mit seiner Familie noch immer in einer Wellblechhütte haust.

    " Die Regierung ist verantwortlich für unsere Situation. Die Politiker sind unglaublich korrupt. Wir wurden hier geboren und haben unser ganzen Leben hier verbracht. Trotzdem haben wir keine neue Wohnung bekommen. Andere haben Schmiergeld bezahlt. Sie haben kurz nach dem Beginn des Neubau-Programms hier einfach eine Adresse gekauft und so sind sie an eine neue Wohnung aus dem Regierungsprogramm gekommen."

    Trotz der Probleme und der Stigmatisierung versuchen die meisten Bewohner im Viertel der Attentäter, ein möglichst normales Leben zu führen. Eloucine Ancar arbeitet als Elektriker. Er wohnt nicht mehr in den Slums, sondern hat eine Wohnung nur unweit des CafésKaffees, das er in dem er fast jeden Tag nach seinem seinen Feierabend besucht-Kaffee trinkt. Der Kaffee-Besitzer des Cafés hat lange in Wuppertal gelebt. Er nennt sich Franz. Er ist es leid, immer wieder auf die Terrorgeschichte seines Viertels angesprochen zu werden:

    " Die Leute leben hier völlig entspannt. Es gibt keine Probleme. Es gibt keine Angst. Die Leute trinken hier einfach in Ruhe ihren Kaffee. Sie sehen doch, dass hier alles ganz ruhig ist. Terroristen gibt es in der ganzen Welt, aber das macht uns keine Angst. Die Terroristen, das sind Ausnahmen. Das sind eine Handvoll Leute, die Probleme haben. Aber das hat keinen Einfluss auf unser alltägliches Leben."