Donnerstag, 28. März 2024

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Zwischen D-Mark und Euro

Theo Waigel gilt als der Vater des Euros: Als Finanzminister unter Helmut Kohl hat er sich - gegen viele Widerstände - für eine gemeinsame europäische Währung eingesetzt. Aber auch die Einführung der D-Mark in den neuen Bundesländern fiel in die Amtszeit des CSU-Politikers.

Moderation: Günter Müchler | 26.04.2007
    Theo Waigel, geboren 1939 als Sohn eines Nebenerwerbslandwirts in Oberrohr, Bayerisch-Schwaben. Jurist. 1960 Eintritt in die CSU. Abgeordneter des deutschen Bundestages von 1972 bis 2002. 1982 Vorsitzender der CSU-Landesgruppe im Bundestag. 1988, als Nachfolger von Franz Josef Strauß, CSU-Parteichef. Ein Jahr später Bundesfinanzminister. Als zuständiger Fachminister wesentlich an der deutsch-deutschen Währungsunion und der Einführung der gemeinsamen europäischen Währung beteiligt. 1998 nach Wahlniederlage Ausscheiden aus dem Ministeramt. Ein Jahr später Ablösung als CSU-Chef durch Edmund Stoiber.


    Auf dem Weg zum Berufspolitiker

    Theo Waigel: "Macht an sich ist nichts Negatives. Es ist auch schön, für andere etwas bewegen zu können."

    Günter Müchler: Max Weber nennt drei Qualitäten, die den guten Politiker auszeichnen: Leidenschaft, Verantwortungsgefühl, Augenmaß. Herr Waigel, welcher Politiker, dem Sie begegnet sind, kommt der Weber’schen Definition am nächsten?

    Theo Waigel: Nach einigem Nachdenken würde ich sagen, Helmut Kohl und an zweiter Stelle Helmut Schmidt.

    Müchler: Was bringt einen Menschen dazu, Politiker zu werden, sich mörderisch zu plagen, hinzunehmen, dass man ständig unter Beobachtung steht, dass die Privatsphäre bedroht ist? Das Einkommen kann es ja nicht sein? Ist es die Droge Macht?

    Waigel: Wenn man mit 18, 20 oder 25 beginnt, sich für Politik zu interessieren, dann ist es sicher nicht die Droge Macht, sondern dann ist das das Interesse für etwas unglaublich Lebendiges, für etwas Wechselndes. Dann ist es die Möglichkeit, sich zu informieren, mitzureden, auch Älteren Paroli bieten zu können, in so Vereinigungen wie den Jugendorganisationen der Partei mitzudiskutieren und dann natürlich auch eine Umgebung beeinflussen zu können, über einen Ortsverband in die Kommunalpolitik hinein, oder wenn man dann Mitglied einer Bezirksvorstandschaft einer Partei ist, auch den Mächtigen schon etwas abverlangen zu können.

    Und dann merkt man natürlich auch, es ist auch schön, für andere etwas bewegen zu können, etwas, von dem man selbst überzeugt ist, umsetzen zu können, sei es in der Kommunalpolitik oder sei es in der Landes- oder in der Bundespolitik. Und so, glaube ich, kommt man in das Gefüge hinein. Ganz am Anfang ist es sicher nicht die Macht, denn mit 18, 19 oder auch mit 25 Jahren kann es kaum die Macht sein, die einem die Sehnsucht implantiert, damit Politik machen zu wollen.

    Müchler: Aber die Macht, die Erfahrung der Macht, ist es dann, die hält?

    Waigel: Später ist es ganz sicher wichtig zu erkennen, ich brauche Macht, um etwas durchsetzen zu können. Und Macht an sich ist nichts Negatives. Macht kann man nützen zum Guten und zum Schlechten. Macht kann verführerisch sein. Macht kann aber auch etwas ungewöhnlich Positives sein. Und ohne Macht gibt es keine Politik.

    Aber Macht bedarf der Begrenzung - im Inneren jedes Menschen. Ein Mensch, der nicht selber auch Distanz zur Macht hat und weiß, dass Macht nur auf Zeit vergeben wird, dass Macht auch verführen kann, der ist gefährdet. Auf der anderen Seite gebe ich Helmut Schmidt recht, der einmal gesagt hat, mit der Macht flirtet man nicht, die Macht heiratet man.

    Müchler: Man hat Sie ja als aufgeklärten Konservativen beschrieben. Kommen Sie mit dieser Beschreibung zurecht?

    Waigel: Ich muss über diese Beschreibungen lachen. Ganz am Anfang hat mich mal Riehl-Heyse als Konservativer bezeichnet.

    Müchler: Riehl-Heyse, ein ehemaliger Kollege der "Süddeutschen Zeitung".

    Waigel: Der damals noch beim "Münchener Merkur" schrieb. Da ging es darum, wer wird Landesvorsitzender der Jungen Union 1971. Und da war konservativ negativ. Mein Gegenkandidat, Walter Zöller, galt es liberal. Als ich es dann war, wurde ich als liberal bezeichnet. Da war aber wieder konservativ schon wieder en vogue.

    Das heißt also, konservativ, sagten manche, heiße, an der Spitze des Fortschritts zu marschieren. Und drum würde ich sagen, eine einzelne Klassifizierung passt auf keinen Menschen. Wenn Sie mich liberal-konservativ mit christlichen Wurzeln nennen würden, der auch um die Gemeinschaft weiß und nicht nur seinem individuellen Glücksstreben verpflichtet war, dann würde ich mich darin vielleicht wiedererkennen.


    Der Mantel der Geschichte

    Theo Waigel: "Niemand konnte sich den wirklichen Zustand der DDR im vollen Ausmaß vorstellen."

    Müchler: Herr Waigel, es ist nicht übertrieben, wenn man sagt, Sie waren zweimal dabei, als Weltgeschichte geschrieben wurde: bei der Wiedervereinigung und bei der Begründung der Europäischen Währungsunion. Wenn Sie zurückblicken, was hat auf der Skala Ihrer Lebensleistung da Vorrang?

    Waigel: Das national Bewegendere war ganz sicher die Wiedervereinigung. Ich kann mich erinnern, als die Mauer fiel, war ich in meiner Heimat, hatte dort eine Veranstaltung, habe in Oberrohr übernachtet und bin am nächsten Tag in der Frühe sofort natürlich nach Berlin. Und auf dem Rückflug saß Bahr hinter mir, neigte sich zu mir vor und sagte: Sie wissen schon, Herr Waigel, dass im Moment Geschichte geschrieben wird.

    Das war mir bewusst. National war das sicher das Stärkste, vor allen Dingen, als dann im Kaukasus in einer denkwürdigen Nacht erkennbar wurde, dass Gorbatschow nicht nur der Wiedervereinigung zustimmen würde, sondern dass ganz Deutschland in der NATO bleiben könne und dass wir den Abzug aller sowjetischen Truppen erreichen würden.

    Müchler: Das war ja damals eine rauschhafte Zeit, in der völlig Undenkbares plötzlich denkbar wurde.

    Waigel: Wenn ich das sagen darf, für mich war es weniger rauschhaft, weil ich jeden Tag überlegen musste, wie ist das finanzpolitisch zu "handlen". Wie ist das zu bewegen? Und weil der Rausch nur kurz dauerte, und ich musste jeden Tag mit der Überschrift leben, müssen die Steuern erhöht werden für die Wiedervereinigung, schließt Waigel Steuern aus und so weiter und so fort.

    Es war eine Zeit, wo man fast nicht mehr zum Nachdenken kam. Ich hatte damals sogar in den wenigen Tagen Urlaub am Abend immer 40 bis 60 Seiten Fax zu lesen und mindestens zwei Stunden Diskussionen übers Telefon. Da kommt plötzlich der Ignaz Kiechle und braucht für die Landwirtschaft in der DDR fünf Milliarden Mark. Ich habe ihm gesagt, bist Du verrückt geworden. Also das war der tägliche Kampf. Die Staatsmänner der Luxusklasse, die hatten es ein bisschen leichter, aber ich hatte nur wenig Möglichkeit, mich einem Rauschzustand hinzugeben.

    Müchler: In Bonn war man ja damals unvorbereitet. Man hatte mit dem Zusammenbruch der DDR nicht gerechnet, speziell, was die DDR-Wirtschaft anlangt, da herrschten ja ganz abseitige Vorstellungen von der Stabilität der DDR-Wirtschaft, Stichwort "zehnstärkster Exportstaat weltweit". Wie konnte es rückblickend zu dieser kolossalen Fehleinschätzung kommen, eine Fehleinschätzung, die ja auch von der Wissenschaft vertreten wurde?

    Waigel: Die Wissenschaft, ein bekanntes Institut in Deutschland, hat die Produktivität der DDR-Volkswirtschaft auf gut 40 Prozent geschätzt. Es waren dann weniger als 28, aber auch die Wirtschaftler, es gab ja viele Wirtschaftsexperten, die mit Betrieben in der DDR zu tun hatten, auch die waren über das wirkliche Maß nicht orientiert. Wir wussten auch um die innere finanzielle Situation der DDR so wenig Bescheid. Wir wussten zwar, dass der Kapitalstock veraltet war, wir wussten, dass die Umwelt in einem katastrophalen Zustand war, wir wussten, dass die DDR auf der Suche nach Devisen war, aber niemand konnte sich den wirklichen Zustand der DDR im vollen Ausmaß vorstellen.

    Müchler: Ohne die beiden von Franz Josef Strauß in den Jahren 1983 und 1984 eingefädelten Milliardenkredite hätte die DDR schon früher den Offenbarungseid leisten müssen. Seinerzeit wurden in der Bundesrepublik die Milliardenkredite als entspannungspolitische Großtat gefeiert. Historisch betrachtet war es eher eine Vitaminspritze für den schon damals siechen Unrechtsstaat. Wie denken Sie heute darüber?

    Waigel: Also ich teile diese Meinung nicht. Mich hat damals Franz Josef Strauß gefragt, ob er sich an dem Projekt beteiligen solle oder nicht. Ich habe ihm zugeraten. Denn es ist damals gelungen, für diesen Milliardenkredit Erleichterungen an der Grenze zu bekommen, Ausreisebewilligungen zu bekommen, also eine ganze Reihe menschlicher Zugeständnisse, die immerhin bis 1989/90 ganz wichtig waren.

    Ein diktatorischer Staat ist in der Lage, auch eine schwierige Situation noch zu prolongieren. Denken Sie an die anderen Ostblockstaaten, denken Sie an viel schlimmere Dinge wie Nordkorea, denken Sie an Kuba. Also ich glaube nicht, dass die DDR zwei oder drei Jahre früher gesagt hätte, wir sind am Ende, bitte schön kommt jetzt, wir sind bereit, in den Westen zu marschieren. Das ist eine Illusion.


    Warum die Währungsunion kommen musste

    Theo Waigel: "Dann wären doch die Menschen in die Züge gestiegen und hätten sich von Frankfurt an der Oder nach Frankfurt am Main bringen lassen. Und dann die Menschen daran zu hindern, das wäre undenkbar gewesen!"

    Müchler: Sie waren im Wendejahr 1989/90 unter Helmut Kohl und neben Wolfgang Schäuble der entscheidende Mann aufseiten der Bundesrepublik für den innerdeutschen Transformationsprozess, für alles, was die Finanzen angeht. Handeln ohne Blaupause war das damals?

    Waigel: Ja, das ist wahr. Das heißt, wir haben schon Überlegungen natürlich angestellt, und zwar sehr schnell. Wir haben nicht aus dem hohlen Bauch heraus entschieden, sondern wir haben uns die Dinge schon gut überlegt. Wir haben Brainstorming gemacht.

    Müchler: Das war schon im Dezember 1989?

    Waigel: Ja, aber auch zuvor waren wir natürlich am Überlegen, wie ein solcher Prozess marktwirtschaftlich organisiert werden soll. Ich habe damals schon, als dann Modrow Forderungen an uns erhob, der letzte Ministerpräsident der DDR, der alten Volkskammer, gesagt, wir sind zu vielem bereit, aber vorher muss das System sich ändern. Denn dem System Milliarden zu geben, ist völlig unsinnig.

    Und da gab es natürlich aber verschiedene Entwicklungsmöglichkeiten, vor allen Dingen natürlich, wie man es aus der Marktwirtschaft, aus der Transformation früherer Zeit kennt, Stufenpläne, die vielleicht vier, sechs oder acht oder zehn Jahre gedauert hätten.

    Müchler: Wissen Sie eigentlich, wer zum ersten Mal das Wort "Währungsunion" in den Mund genommen hat? War das Frau Matthäus-Meier von der SPD?

    Waigel: Also wir haben es sehr früh, natürlich auch bei uns im Hause diskutiert. Mag sein, dass es Frau Matthäus-Meier in ihrem Beitrag der "Zeit" war. Ich will da gar nicht streiten darum. Darum gab es in allen Parteien heftigste Auseinandersetzungen.

    Lafontaine war da damals völlig anderer Meinung als Frau Matthäus-Meier. Und wir hatten natürlich die Diskussionen mit der Bundesbank, mit der Wissenschaft, mit dem Sachverständigenrat, die alle der Meinung waren, man müsste das in einem Stufenplan bewerkstelligen, das wäre auch theoretisch richtig gewesen. Ich behaupte nur, zu einem Stufenplan, auch nur vier oder sechs Jahre, hätte niemand die Zeit und die Kraft gehabt. Die Menschen wären uns weggelaufen. Wir hätten neue Mauern errichten müssen. Wir hätten nach dem Abbruch und nach dem Wegfall der Mauer eine neue Grenze errichten müssen von Zöllen, von Zuzugshindernissen, von anderen Währungseinheiten, eine unvorstellbare Situation. Vor allen Dingen, wir wären zum Gespött der Welt geworden, und wir hätten doch das nicht zurücknehmen können, was wir völkerrechtlich und staatsrechtlich über 40 Jahre behauptet haben, nämlich dass jeder Mensch in der DDR deutscher Staatsbürger ist, und wo immer er hingeht, Anspruch auf den deutschen Pass hat.
    Müchler: Es kam ja auch damals zu Demonstrationen in der DDR mit dem Slogan: "Entweder kommt die D-Mark zu uns, oder wir kommen zur D-Mark." Das heißt, der Prozess war auch nicht mehr aufzuhalten. Man hätte die Bevölkerung in der DDR enttäuscht, hätte man das Angebot der D-Mark nicht gemacht?

    Waigel: Wir hätten sie nicht nur enttäuscht, sondern wir hätten ihnen sagen müssen, ihr dürft nicht anschließend jetzt nach Westdeutschland reisen, sondern ihr müsst jetzt abwarten und müsst das einem geregelten Verfahren überlassen. Denn eins ist doch klar, wenn man den Menschen einen Transformationsprozess zugemutet hätte so wie in Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei und andere durchmachen mussten, das heißt, zehn bis 15 Jahre auf jede Steigerung des Einkommens, des persönlichen Einkommens und auf jede Steigerung des Bruttosozialproduktes zu verzichten, dann hätte das bedeutet, im Westen wäre die Wohlfahrt munter weitergegangen, mit Lohnsteigerungen von damals vier bis sechs Prozent.

    Und im Osten hätten die Menschen einen Lebensstandard gehabt, der ein Viertel bis ein Drittel vom westlichen gewesen wäre. Dann wären doch die Menschen in die Züge gestiegen und hätten sich von Frankfurt an der Oder nach Frankfurt am Main bringen lassen. Und dann die Menschen daran zu hindern, das wäre undenkbar gewesen!

    Und darum musste schnell entschieden werden, darum gab es zur schnellen Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion keine Alternative und auch zum Umtauschkurs keine Alternative. Es wird ja immer wieder fälschlicherweise behauptet, wir hätten das eins zu eins umgetauscht. Stimmt ja nicht. Es war ein Umtausch von 1 zu 1,81, wenn man es makroökonomisch nimmt.

    Müchler: Eins zu eins galt nur für ganz kleine...

    Waigel: Für die kleinen Sparguthaben und für die Stromgrößen, Herr Dr. Müchler. Und für die Stromgrößen, das sind also die Löhne, die Gehälter, die Renten. Die waren im Durchschnitt gesehen in der DDR in Ost-Mark ein Drittel von dem, was die Menschen in Westdeutschland in D-Mark bekamen. Jetzt stellen Sie sich mal vor, man hätte das mit eins zu zwei oder gar eins zu drei umgetauscht, dann hätten die Menschen ein Sechstel dessen für ihre Arbeit oder für ihre Lebensleistung bekommen, was man im Westen bekam, eine völlig abenteuerliche Vorstellung!

    Müchler: Herr Waigel, in seinem Standardwerk über die Währungswirtschaft und Sozialunion bescheinigt Dieter Grosser Ihnen und dem von Ihnen geleiteten Finanzministerium einen untypischen Denkstil. Ich zitiere: "Die Beteiligten waren bereit, die konventionellen Regeln und die herrschenden Meinungen beiseite zu schieben, um eine einzigartige Herausforderung bestehen zu können."

    Waigel: Wir mussten sozusagen die Gesetze und die aufgestellten Regeln und das, was man normalerweise angewandt hätte, wenn man Zeit gehabt hätte, beiseite legen. Es war auch ein Riesenunterschied zwischen der DDR und den Nationalstaaten in Mittel- und Osteuropa, weil die DDR keine Identität hatte. Die Polen, die Ungarn, die Tschechen, auch die Rumänen hatten noch eine eigene Identität. Die DDR hatte das nicht.

    Und darum habe ich am Vorabend, bevor sich Helmut Kohl, Graf Lambsdorff und ich entschlossen, in die Richtung zu gehen, auch damals noch, dem Bundesbankpräsidenten Pöhl gesagt, Sie werden sehen, Herr Pöhl, es wird noch heißen, "Kobra, übernehmen Sie", in Anlehnung an einen Filmtitel, weil niemand in der DDR die Kraft gehabt hätte, einen solchen Prozess vier oder sechs Jahre durchzuhalten gegen die Enttäuschungen der Menschen.

    Müchler: Pöhl ist 1991 aus dem Amt ausgeschieden, wie er sagte, aus persönlichen Gründen. Tatsache ist aber, er hatte sich mit Ihnen überworfen, er wollte ja auch nicht die Stichtagslösung.

    Waigel: Mir ist diese Version neu, denn ich hatte und habe mit Herrn Pöhl ein gutes persönliches und sachliches Verhältnis, auch heute noch. In einem kann ich seinen Ärger verstehen. Er war an dem Tag, als Helmut Kohl, Graf Lambsdorff und ich im Kanzleramt zusammensaßen und wir anschließend vor die Fraktionen gingen, war er bei Herrn Kaminsky in der DDR-Staatsbank und war dort telefonisch vor unserem Vorhaben nicht erreichbar. Und das kann ich verstehen.

    Nur, anschließend war die Deutsche Bundesbank über den Präsidenten, über den Vizepräsidenten und vor allen Dingen auch über Herrn Tietmeyer, der Mitglied damals des Direktoriums war, in den Prozess voll eingebunden. Und wir haben uns des Rats der Bundesbank, vor allen Dingen auch bei der Durchführung dann, sehr entschieden bedient.

    Müchler: Pöhl war informiert, aber vielleicht nicht enthusiasmiert?

    Waigel: Das mag sein. Aber die Bundesbank hat damals in einem wichtigen Beschluss uns empfohlen, ein Umtauschverhältnis von eins zu zwei zu machen. Das hätte ich auch gern gemacht als Bundesfinanzminister. Aber ich konnte mich dem Einwand, der von Kohl und auch von Graf Lambsdorff von der FDP kam, nicht verschließen, dass man den Leuten kleinere Beträge von 2000 bis 4000 Ost-Mark, die ja sonst nichts hatten, anders in die Hand gibt und anders umstellt.

    Aber eins zu zwei und 1 zu 1,81 ist nicht weit auseinander. Und was Löhne, Gehälter und Renten anbelangt, hat die Bundesbank uns nicht den Rat gegeben, mit eins zu zwei umzustellen, wie der Vizepräsident Gaddum zum zehnjährigen Jubiläum zum Ausdruck gebracht hat. Insofern liegen wir relativ nahe beieinander.

    Ich bin mir dessen bewusst, was die Bundesbank damals geleistet hat. Natürlich wären andere Vorstellungen rein ökonomisch sympathischer gewesen, aber es gab zu dem, was wir gemacht haben, keine Alternative. Nicht zuletzt haben sich Herr Pöhl und ich, und zwar unisono, darauf geeinigt, dass wir den sehr erfahrenen, früheren Staatssekretär im Finanzministerium, Herrn Tietmeyer, als Berater im Bundeskanzleramt für den Bundeskanzler zur Verfügung stellten, um diese wichtigen währungspolitischen Weichenstellungen sachkundig zu begleiten.

    Müchler: Tietmeyer kam ja erst in einem zweiten Schritt dazu. Am Anfang waren, wenn ich das recht erinnere, Ihre wichtigsten Berater in diesem Prozess Staatssekretär Köhler, heute, wie man weiß, Bundespräsident, und Thilo Sarrazin, heute Finanzsenator in Berlin, Sozialdemokrat. Das war doch nicht selbstverständlich, damals einem SPD-Mann, der überdies nur Referatsleiter war, eine so wichtige Vordenkerrolle anzuvertrauen? Warum haben Sie es getan?

    Waigel: In Ihrer Reihe fehlt noch ein Mann, nämlich Haller, der später Staatssekretär im Finanzministerium wurde und jetzt wieder nach seiner Erfahrung im Privatbereich Staatssekretär des Bundespräsidialamtes ist. Und wir suchten damals nach einem hervorragenden Ökonomen, der diesen Prozess der Transformation unter der speziellen Situation Deutschlands begleitet und konzeptionell entwickelt. Und Köhler und Haller kamen auf mich zu und sagten, dass Thilo Sarrazin dafür eine ausgezeichnete Lösung sei und sagten mir auch gleich, er gehört der SPD an, aber er sei ein ausgezeichneter Mann.

    Mich hat das nicht gestört, ich habe ihn kommen lassen, habe gesagt, Herr Sarrazin, Sie brauchen keine Solidarität gegenüber dem CSU-Vorsitzenden zu üben, aber jede Solidarität gegenüber dem Bundesfinanzminister. Und darüber waren uns selbstverständlich einig. Er hat das ausgezeichnet gemacht. Ich verstehe mich heute mit ihm noch hervorragend, und es entbehrte nicht einer gewissen Pikanterie, wenn ich im Ausschuss für Deutsche Einheit saß und Frau Matthäus-Meier mich attackierte und Sarrazin hinter mir saß und mir Argumente gegen seine Parteifreunde zuflüsterte.

    Er war der Sache und dem Amt verpflichtet, und es war eine tolle Zusammenarbeit, und es war großartige Truppe, die sich da vorbereitet hatte. Und ich glaube, dass das Bundesfinanzministerium, auch wenn ich an die Rolle von Schmidt-Bleibtreu, einen Grundgesetzkommentator, denke, der das Ganze rechtlich auf den Weg gebracht hatte, dass das zu den Sternstunden des Bundesfinanzministeriums gehört, mit welcher Ideenkraft und auch mit welchem Einsatz diese Truppe damals diese Wochen und Monate verbracht hat.

    Müchler: Das D-Mark-Angebot war im Rückspiegel Voraussetzung, vielleicht sogar Beschleuniger der Wiedervereinigung. Es hat auch, das Angebot der D-Mark, der Allianz für Deutschland im März 1990 die Mehrheit bei der ersten freien Volkskammerwahl gebracht. Das war ja damals eine große Überraschung, dass sich die in der Allianz zusammengeschlossenen Parteien gegen die Sozialdemokraten, die ursprünglich als Favoriten galten, durchsetzten. Da war das Angebot der D-Mark aus Ihrer Sicht das Argument, das die Trendumkehr gebracht hat?

    Waigel: Nein, es war schon zuvor. Ich hatte ja am Anfang auch die Meinung, wir machen das jetzt. Wir müssen die ganze, wenn ich es mal salopp sagen darf, Drecksarbeit erledigen, und die anderen werden dann die Profiteure sein. Einer meiner besten Freunde sagte, die strukturelle Mehrheit von Sachsen und der Gebiete ist ganz eindeutig links, sozialdemokratisch. Wir, CDU/CSU als C-Parteien, haben da nicht die Spur einer Chance, wir werden verlieren. Die Wende war eigentlich der unglaubliche Auftritt von Helmut Kohl in Dresden.

    Müchler: Im Dezember?

    Waigel: Im Dezember, wo er bei einem Auftritt zu einer rhetorischen Meisterleistung kam. Helmut Kohl, der seine rhetorischen Fähigkeiten eher begrenzt einsetzt, hat damals in einer ganz schwierigen Situation, in einer freien Rede alles richtig gemacht. Und er hat dann auch in seinem Zehn-Punkte-Programm im Bundestag, das er weder mit den Westmächten noch mit der Sowjetunion abgesprochen hatte und von dem auch sein Außenminister bis zu dem Punkt nichts gewusst hatte, auch da hat er die richtigen Akzente gesetzt. Das waren, glaube ich, die entscheidenden Momente für den Stimmungsumschwung, wo die Menschen in der damaligen DDR merkten, da ist einer, auf den wir uns verlassen können.


    Euro statt D-Mark

    Waigel: "Wir haben zu keiner Sekunde für die deutsche Einheit eine gemeinsame europäische Währung eingekauft."

    Müchler: Jetzt schauen wir mal ein Jahr weiter, Dezember 1990. Und damit komme ich zum nächsten Thema auch. Regierungskonferenz der EG zur Wirtschafts- und Währungsunion in Rom. Ein Jahr lag nur dazwischen, dann der Maastrichter Vertrag, Februar 1992. Angesichts der zeitlichen Nähe dieser Ereignisse liegt es auch nahe, eine Verbindungslinie zu ziehen, auch eine Kausalität herzustellen. Der Historiker Edgar Wolfrum schreibt, die Deutschen opferten ihre D-Mark auf dem Altar der Einheit. Damit war eben der Maastricht-Prozess gemeint. Mit diesem Urteil steht Wolfrum nicht allein.

    Waigel: Es ist trotzdem falsch. Vor einigen Jahren hat auch der frühere Bundespräsident von Weizsäcker das in einer Fernsehdiskussion wiederholt. Ich habe ihm gesagt, Herr Bundespräsident, was Sie sagten, ist falsch. Das hat ihm am Anfang gar nicht gefallen, aber wir haben dann länger diskutiert, und er hat schließlich meine Kritik akzeptiert.

    Ich war nun wirklich dabei. Wir haben zu keiner Sekunde für die deutsche Einheit eine gemeinsame europäische Währung eingekauft. Die Entscheidungen für eine gemeinsame europäische Währung lagen viel länger zurück. Sie lagen schon bei Gipfeln, die im Jahr 1988 stattfanden. Sie gingen zurück auf das europäische Währungssystem, das Giscard d’Estaing und Helmut Schmidt konzipiert hatten.

    Müchler: Letztlich auf den Werner-Plan von 1970?

    Waigel: So. Und so geht es zurück, und man muss einmal wissen, dass in fast allen Parteiprogrammen der demokratischen Parteien sogar Ende der vierziger Jahre schon eine gemeinsame europäische Währung als Zielsetzung postuliert wurde. Und der Gründer der CSU, Dr. Josef Müller, Ochsensepp genannt, hat wenige Monate, nachdem er dem KZ in Flossenbürg entkommen war, gesagt, wir brauchen eine gemeinsame europäische Währung, weil nur Länder, die eine gemeinsame Währung haben, nie mehr Krieg gegeneinander führen.

    Ich hätte mir gewünscht, dass alle CSU-Verantwortlichen 1993 und vor allen Dingen auch 1997/98 sich dieses Worts des Gründers der CSU immer bewusst gewesen wären. Also die Entscheidung war längst vorher gefallen. Wir haben nur eines, Herr Müchler, nicht getan. Wir haben während des Prozesses der Wiedervereinigung den europäischen Prozess nicht geändert. Wir haben keine Kurskorrektur herbeigeführt, und wir haben damit Misstrauen von den Nachbarn weggenommen. Die Nachbarn wussten, wir können uns auf den europäischen Kurs Deutschlands auch weiter verlassen. Aber das eine war nicht der Preis für das andere.
    Müchler: Innenpolitisch war es jedenfalls ein Kraftakt. In der Boulevardpresse hieß es damals, die D-Mark wird verschenkt. Viele Wirtschaftswissenschaftler waren dagegen, auch die Bundesbank war nicht gerade dafür. In der CSU, Sie haben es ja erwähnt, gab es auch eher wenige Anhänger. Oder ich denke an Scharping, der damals im Deutschlandfunk sagte, für irgendeine Idee schenken wir unsere D-Mark nicht her. Warum musste die gemeinsame europäische Währung trotzdem kommen?

    Waigel: Es war höchste Zeit, dass wir mit der beginnenden Globalisierung eine europäische Antwort auf die Globalisierung gefunden hatten. Im Nachhinein kann man heute sagen, es ist doch unvorstellbar, dass wir jetzt mit 25 oder 30 verschiedenen europäischen Währungen den großen globalen Währungsräumen in Nordamerika, in Asien Paroli bieten könnten, und das war eigentlich zu dem Zeitpunkt schon klar. Und auf die Dauer kann ein Binnenmarkt nicht funktionieren, wenn er nicht über das Dach einer Währungsunion verfügt, natürlich auch über eine gewisse politische Union. Und das alles war eben nicht neu.

    Man hat nur eines gemerkt: Man kann eine gemeinsame europäische Währung nicht dekretieren, sondern es bedarf eines Kongruenzprozesses, das heißt, die Volkswirtschaften müssen sich annähern. Sie müssen ähnlich, sie müssen vergleichbar sein. Sie müssen gemeinsame Finanzkennziffern aufweisen. Und das war das Neue, das war das qualitativ Neue an Maastricht, dass dieser Prozess damit in Gang gesetzt wurde durch den Delors-Plan, an dem nicht nur Delors als Vorsitzender, sondern auch alle Zentralbankpräsidenten teilgenommen hatten, darunter für Deutschland Karl-Otto Pöhl.

    Müchler: Tietmeyer hat gesagt, jetzt sind alle, die den Prozess wollen, auf Gedeih und Verderben aufeinander angewiesen. Stichwort Stabilitätspakt, er ist zum Stabilitäts- und Wachstumspakt erweitert worden, nicht zuletzt auf Drängen der Franzosen. Sie hätten die Regeln eher enger gefasst sehen wollen?

    Waigel: Im Nachhinein muss man sagen, auch die Kriterien von Maastricht, die ehrgeizig sind, sind für eine nachhaltige Finanzpolitik in Europa eigentlich fast noch zu schwach. Wir wissen heute aus der demografischen Entwicklung her, dass wir Überschüsse bräuchten, um die riesigen Bevölkerungsprobleme der nächsten 30 bis 50 Jahre lösen zu können.

    Und in mir und meinen Mitstreitern hatte sich damals die Überzeugung festgesetzt, wir brauchen noch eine Handhabe, um gegen Länder, die möglicherweise 1997/98 sich sehr viel Mühe geben, die Kriterien erreichen, aber in paar Jahren kann die Regierung wechseln, eine andere Parlamentsmehrheit fällt zurück in den früheren finanzpolitischen Schlendrian, dagegen muss es eine Rückfallversicherung geben.

    Das ist gelungen mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt. Übrigens ist durch die Einfügung des Wortes "Wachstumspakt" nicht ein Komma von meinem Stabilitätsüberlegungen weggefallen. Richtig ist eines, ich hätte mir noch eine stärkere Automatik vorgestellt und nicht nur den Finanzministern im ECOFIN-Rat die Endentscheidung über ein solches Sanktionsverfahren überlassen. Das hat ja letztendlich dann dazu geführt, dass Deutschland als Hauptsünder viermal hintereinander das Drei-Prozent-Kriterium nicht eingehalten, gemeinsam mit Frankreich und dann auch natürlich noch mit Italien, gemeinsam sündigt man leichter, daran gegangen ist, den Stabilitätspakt auszuhebeln.

    Es ist ihnen aber dennoch nicht gelungen. Der Stabilitätspakt wirkt durch seine Existenz, hat ein neues europäisches Stabilitätsbewusstsein geschaffen, und jetzt gelingt es endlich wieder, ihn auch in Deutschland umzusetzen.

    Müchler: Wir haben ja, wenn man so will, sieben Jahre Erfahrung. Die Umtauschkurse wurden festgesetzt Ende 1998. Der Euro ist stabil, vielleicht stabiler, als viele es vorhergesehen haben. Trotzdem die Frage: Kommt vielleicht die Bewährungsprobe erst jetzt, wenn die EZB die Zinsen weiter anheben muss zulasten derer, die besonders hoch verschuldet sind? Kann es sein, dass dann die EZB doch sehr stark unter Druck kommen wird? In Frankreich heißt es schon jetzt, die EZB darf nicht nur auf Preisstabilität schauen.

    Waigel: Die EZB ist unabhängig, unabhängiger, als es jede Bundesbank gewesen war, und zwar durch völkerrechtlichen Vertrag. Das Bundesbankgesetz hätte man durch einfaches Gesetz, das nicht einmal der Zustimmung des Bundesrates bedurfte, ändern können. Dieser Vertrag, wo die Europäische Zentralbank nur auf die Stabilität verantwortet ist, der kann nicht geändert werden, außer durch einstimmigen Ratifikationsbeschluss aller Länder. Undenkbar!

    Müchler: Umstritten war ja der Sitz der EZB, das war ein Zankapfel. Ihr Standpunkt war damals, wenn ich mich recht erinnere, kommt die EZB nicht nach Frankfurt, wird die Preisgabe der D-Mark in Deutschland Insigne des nationalen Ansehens nicht durchsetzbar sein. War das das entscheidende Argument?

    Waigel: Es war klar, Deutschland musste ein großes Institut in Europa bekommen. Und nirgendwo hat die Europäische Zentralbank so gut hingepasst wie nach Frankfurt.


    Das längste Mittagessen der EU

    Waigel: "Zunächst ging der Alkohol aus, nicht bei der Konferenz, sondern auch für die Journalisten. Dann ging auch noch das Wasser aus. Und als wir dann kurz nach Mitternacht vor die Kameras traten, war die öffentliche Meinung massiv gegen uns."

    Müchler: Ein anderer Zankapfel war die Bestallung des ersten EZB-Präsidenten. Herr Waigel, Mai 1998, das längste Mittagessen in der Geschichte der Gemeinschaft: Es dauerte bis tief in die Nacht. Für Duisenberg war die Mehrheit der Regierungen, Chirac hingegen wollte, dass Duisenberg bei Halbzeit der Amtsperiode von Trichet, dem Franzosen, abgelöst werde. Kohl war schon dabei, einzuschwenken auf Chirac. Stimmt es, dass Sie in der Nacht mit Abreise gedroht haben?

    Waigel: Chirac wollte einen französischen Kandidaten und hatte Jean-Claude Trichet in nationaler Solidarität dafür gewonnen zu kandidieren. Wir schätzten Jean-Claude Trichet sehr, und er zeigt auch heute, dass er ein würdiger Nachfolger von Wim Duisenberg ist und in seiner Stabilitätspolitik keinen Deut von dem abweicht, was auch Duisenberg durchgesetzt hat.
    Müchler: Aber in dieser Nacht haben Sie hart gespielt.

    Waigel: Richtig ist, wir waren der Meinung, der erste Präsident solle aus einem kleineren Stabilitätsland kommen. Und da waren die Niederlande gerade dafür prädestiniert, sie standen immer stabilitätsorientiert völlig an unserer Seite. Und Wim Duisenberg, der nicht nur gut deutsch spricht, sondern glänzend französisch und englisch, war ein idealer Kandidat dafür.

    Trotzdem gelang es nicht, die Franzosen davon gleich zu überzeugen. Eine Halbierung der Amtszeit war völkerrechtlich nicht möglich. Und man hätte sie nie und nimmer vereinbaren können. Das wäre völkerrechtswidrig gewesen. Und man hat da nach allen möglichen Brücken gesucht, ob vielleicht Wim Duisenberg selber darauf verzichten könne. Wir standen da auch in Kontakt mit Wim Duisenberg. Und richtig ist, dass sowohl Klaus Kinkel als auch ich in einer ganz schwierigen Phase Helmut Kohl baten, die Sitzung der Staatschefs zu unterbrechen, mit uns zu konferieren und wir mit ihm besprochen haben, dass, wenn es nicht zu einem befriedigenden Ergebnis kommt, es besser sei, heute abzubrechen und es später noch einmal zu versuchen.

    Und das hat Helmut Kohl akzeptiert. Und als er zurückging, hat er das auch ganz klar den anderen gesagt, und dann kam Bewegung in die Sache. Richtig ist eines, Herr Müchler, es war eine deprimierende Veranstaltung, die uns sehr geschadet hat, denn das Ergebnis hätte man auch am Nachmittag haben können.

    Aber es kam der Zeitpunkt 17 Uhr, 18 Uhr, die Nachrichtenzeit, wir konnten nichts sagen. Zunächst ging der Alkohol aus, nicht bei der Konferenz, sondern auch für die Journalisten, 2000 Journalisten in einem Gebäude. Dann ging auch noch das Wasser aus, das war vielleicht noch schlimmer, und als wir dann um Mitternacht, kurz nach Mitternacht, nicht mehr sehr frisch vor die Kameras traten, war die öffentliche Meinung massiv gegen uns, und wir haben lange gebraucht, bis wir sie wieder für uns gewinnen konnten. Das Prozedere war eine mittlere Katastrophe und hat uns sehr geschadet. Das Ergebnis war richtig und gut.


    Stoiber und die Krise der CSU

    Waigel: "Er hat natürlich der Angela Merkel die Kanzlerschaft nicht gegönnt und hat bis zur letzten Bundestagswahl immer noch gehofft, dass eine Gunst des Schicksals das zugunsten von ihm ausrichten könnte."

    Müchler: Ein Amt wird in Ihren Erinnerungen fehlen, das Sie vielleicht gerne dort gesehen hätten. 1993 haben Sie nach dem Amt des bayerischen Ministerpräsidenten, das nach einem Wort von Franz Josef Strauß "das schönste der Welt" ist, gestrebt, aber statt Ihrer ist Herr Stoiber Ministerpräsident geworden. Ist das die Wunde, die am meisten schmerzt?

    Waigel: Nein, das war vielleicht ein Fehler von mir damals. Ich hatte mich eigentlich für den Bund entschieden. Strauß wollte mich zweimal in sein Kabinett holen, ich habe das abgelehnt. Ich wusste aber nach dem Abschied von Max Streibl nicht, wie es weitergehen soll. Und ich hatte große Sorge, dass meine Partei in große Turbulenzen wie vielleicht 1948/49 zurückfallen könne. Und da habe ich vielleicht die Macht der Fraktion und anderer Truppen unterschätzt.

    Nur im Nachhinein muss ich sagen, das Werk des Euro und wichtige außen- und europa- und weltpolitischen Weichenstellungen, die hätte ich von dort aus nicht treffen können. Und ob das das schönste Amt der Welt ist? Strauß hat es gesagt, geglaubt habe ich ihm das keine Sekunde. Und die Sehnsucht auch des gegenwärtigen Amtsinhabers war ja zeitweilig auch nach anderen Ämtern gegeben. Ich will das nicht kommentieren.

    Müchler: Die CSU, Herr Waigel, ist ja eine erfolgsverwöhnte Partei. Sie kann sich sogar den Luxus erlauben, einen erfolgreichen Ministerpräsidenten vorzeitig in den Ruhestand zu schicken. Machen Sie sich Sorgen um die CSU?

    Waigel: Die CSU hat ein Auf und Ab gehabt. Jetzt natürlich, Jahrzehnte sehr gut, aber sie hat sich in den entscheidenden Jahren 1947 bis 1949 Streitereien erlaubt, die zum Absturz von 52 auf 27,4 Prozent geführt haben. Insofern mache ich mir Sorgen, und ich habe nicht zu Unrecht gesagt, das ist die größte Krise in der Geschichte der CSU seit den Jahren 1948/49.

    Müchler: Wie konnte es dazu kommen? Welche Fehler hat Stoiber gemacht?

    Waigel: Das war natürlich das Hin und Her in Berlin. Seit seiner Kanzlerkandidatur hat er eigentlich nicht mehr gewusst, soll ich mich eher für den Bund entscheiden oder soll ich im Land bleiben. Er hat natürlich der Angela Merkel die Kanzlerschaft nicht gegönnt und hat bis zur letzten Bundestagswahl immer noch gehofft, dass eine Gunst des Schicksals das zugunsten von ihm ausrichten könnte. Und dann wurde ihm abgeraten, das Finanzministerium zu übernehmen, damit er nicht zu unpopulär wird wie Theo Waigel.

    Das hat dann dazu geführt, dass er auf dem Politbarometer hinter der Ulla Schmidt gelandet ist und dann das Wirtschaftsministerium sich selber zu bilden, wo nicht so viel Kompetenzen liegen, wie im Finanzministerium, wo halt damals, Anfang der siebziger Jahre, Helmut Schmidt zu Recht Geld und Kredit hintransformiert hat. Und dann der Versuch, das wieder den Bayern zu erklären, das ging schief. Aber es war auch zuvor schon ganz klar eine Abnutzungserscheinung sichtbar, die bei jedem von uns entsteht.

    Müchler: Führt die Gewöhnung an Erfolg, an Beifall zu solchen Abnutzungserscheinungen?

    Waigel: Nicht nur, denken Sie an Konrad Adenauer, den großartigen Kanzler. Die letzten zwei, drei Jahre waren auch nicht mehr sehr gut. Das Ende von Erhardt. Oder denken Sie an Toni Blair, auch ein Mann, der überhaupt keine Fehler gemacht wie Erwin Teufel, musste am Schluss verstehen, dass die Zeit vorbei ist. Das ist ein Prozess, wir sind volatiler geworden, wir sind kurzlebiger geworden, und es gibt einen Punkt, und das sage ich selber auch aus eigener Erfahrung, da können die Leute ein Gesicht nicht mehr sehen. Wenn man das übersteht oder paar Jahre später wieder durch München spazieren geht, wird man wieder gegrüßt.

    Müchler: Sie waren, Herr Waigel, 30 Jahre Bundestagsabgeordneter, neun Jahre Bundesminister der Finanzen, bevor dann die Regierung Kohl 1998 komplett abgewählt wurde. Ein Jahr vorher, 1997, war das Wort des Jahres "Reformstau". Im Sommer dieses Jahres, also 1997, haben Sie sich mit Rücktrittsgedanken getragen. Warum?

    Waigel: Ich war der Meinung, man kann eigentlich nicht länger Finanzminister in Deutschland sein als sieben, acht oder neun Jahre. Und ich habe das unvorsichtigerweise in einem Interview zum Ausdruck gebracht. Das hat mir damals sehr geschadet. Im Nachhinein bin ich der Meinung und wiederhole sie. Und ich wollte eigentlich etwa ein Jahr vor der Bundestagswahl durch meinen Abschied aus der Politik dem Kanzler die Möglichkeit geben oder ihn zu zwingen, nochmals sein Kabinett anders zu gestalten. Und das wäre wahrscheinlich auch richtig gewesen.

    Müchler: Aber Kohl hat es nicht gemacht?

    Waigel: Nur, es kam dann eines dazwischen. Ich wusste nicht, ob wir im Evaluierungsjahr 1997 die Kriterien von Maastricht erreichen würden. Und wenn ich dann in der Mitte des Jahres oder zu Ende des Jahres gegangen wäre, hätte jeder gesagt, jetzt hat er uns das Ganze eingebrockt, und jetzt haut er ab. Das war dann der Punkt, warum ich meinen inneren Entschluss, den ich übrigens Helmut Kohl nicht mitgeteilt hatte, revidierte und dann bis zum Ende geblieben bin.

    Reformstau, da kann ich nur sagen, wir hatten zu dem Zeitpunkt die größte Steuerreform seit 1949 konzipiert, konnten sie aber in zwei Vermittlungsverfahren und in zwei Parteiengesprächen mit der SPD nicht durchsetzen, denn die SPD hatte die Mehrheit im Bundesrat.

    Müchler: Man bilanziert ja irgendwann Soll und Haben des Politikerlebens. Wie möchten Sie in den Geschichtsbüchern gesehen werden?

    Waigel: Ich glaube, ich habe mein Bestes versucht und in schwierigen Zeiten auch Mut gezeigt und bin mit dem, was erreicht wurde, eigentlich sehr zufrieden.