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Zwischen den Fronten

Guerilla-Kämpfe, Morde und Hunger - bereits seit 16 Jahren gehört dies zur Tagesordnung in Somalia. Inmitten der Unruhen versucht der Konfliktforscher Jabril Ibrahim Abdul zwischen den Fronten zu vermitteln: Sein "Zentrum für Dialog und Forschung" hilft in Mogadischu, Streitigkeiten zwischen Klans zu schlichten.

Von Bettina Rühl | 20.10.2007
    Die Stadt Belet Weyne liegt rund 400 Kilometer nördlich von Mogadischu. Auf dem zentralen Platz des Ortes versammeln sich die Ältesten zweier Klans, um einen Streit zu schlichten: Auslöser war ein Unfall, ein LKW-Fahrer verletzte mit seinem Fahrzeug mindestens eine Kuh, als er und die Rinderherde eine schmale Brücke überquerten. Bei dem Handgemenge wurde eine der Hirtinnen mit einem Messer verletzt, der LKW beschädigt. Als alle da sind, setzen sich die Männer unter einem Baum im Kreis auf den Boden. Dann beginnt die Verhandlung nach traditionellem somalischem Recht. Auf diese traditionelle Schlichtung greift Jabril Ibrahim Abdul zurück, hat die Methoden aber verfeinert und ausgebaut. Bei einem größeren Konflikt in Belet Weyne griff er mit seinen Mitarbeitern vom "Zentrum für Dialog und Forschung" in Mogadischu ein:

    "Zwei Klans führten Krieg, sie hatten schon 700 Menschen getötet. In solchen Fällen ist es immer ein Horror, beide Seiten zusammen zu bringen. Einige der Kämpfer haben die Väter oder Brüder oder Schwestern gegnerischer Milizionäre getötet. Sobald sie einander sehen, kann es ein Massaker geben. Wir können in solchen Situationen plötzlich inmitten eines Schlachtfestes stehen."

    Das zu verhindern, ist der schwierigste Teil der Arbeit - irgendwie gelang es auch diesmal. Zwei Tage lang bereiteten Jabril Ibrahim Abdul und acht seiner Mitarbeiter die Milizionäre auf die Begegnung vor und trainierten sie im Umgang mit Konflikten. Dann begannen die Verhandlungen.

    "Sie fingen an miteinander zu reden, sehr offen und sehr intensiv. Drei Tage lang redeten sie so, dann saßen sie friedlich zusammen - Gegner in einem Konflikt, der 700 Menschenleben gefordert hatte. Manche von ihnen hatten allein vielleicht 20 oder 100 Menschen getötet - und jetzt saßen sie nebeneinander, tranken Kaffee und lachten miteinander. Es war absolut surreal, eigentlich völlig unmöglich. Wir standen nur da und fragten uns: Was passiert hier eigentlich?"

    Diese Frage begleitet Jabril Ibrahim Abdul durch den Alltag - meistens allerdings steht er fassungslos vor einer Eskalation des Schreckens und nicht vor einer überraschenden Versöhnung. Der Soziologe ist Direktor des "Zentrums für Dialog und Forschung" in Mogadischu.

    "Manchmal fühlt man sich hier, als würde man in einem Film leben, "Mad Max" zum Beispiel. Es ist, als wären wir wieder in der Steinzeit: Jeder hat ein Gewehr, alle sind bereit zu schießen. Jemanden zu töten ist keine große Sache. Der Wert eines Menschenlebens zählt hier nicht. Wenn ich durch die Stadt fahre, habe ich zu meinem Schutz immer vier bis fünf ’Technicals’ dabei, Geländewagen mit schweren Geschützen. Und manchmal merke ich, dass meine Leibwächter sich gar nicht um mich Gedanken machen - sondern um mein Auto! Ihre größte Sorge ist, ob jemand das Fahrzeug stiehlt. Wenn ich getötet würde, wäre ihnen das ziemlich egal. Die Welt, in der man hier lebt, ist mit menschlicher Logik nicht zu begreifen. Sie ist einfach nicht zu verstehen, wie ein Science-Fiction-Film."

    Jabril Ibrahim Abdul sieht den Irrsinn von Mogadischu klarer als viele andere Menschen hier, weil er noch immer ein wenig mit den Augen eines Fremden guckt. Zwar wurde der heute 36-Jährige in dieser Stadt am indischen Ozean geboren, doch noch als Jugendlicher ging er nach Kanada, um dort die Schule zu besuchen. Als er sich 1991 in Kanada für die Universität einschrieb, begann zu Hause in Somalia der Bürgerkrieg. Schon in den ersten Wochen des Krieges verlor er alles, was ihm in seiner alten Heimat wichtig war: Seinen Vater, viele enge Verwandte, sein Elternhaus. Die Stadt veränderte unter den Geschützeinschlägen ihr Gesicht: Das Mogadischu, das er kannte, gab es nicht mehr. Jabril Ibrahim Abdul studierte weiter, Soziologie mit Schwerpunkt Konfliktmanagement. Er wurde in Kanada heimisch, fand Freunde, dann eine Frau, wurde Vater. Er war als Vermittler bei vielen Konflikten gefragt: bei interkulturellen Problemen im kanadischen Ottawa ebenso wie auf Jamaika oder in Schweden.

    "Da fing ich an, mir Fragen zu stellen. Sollte ich wirklich in Ottawa bleiben und dem Ganzen nur zusehen? Zu der Zeit kam in Ottawa ein Mann zu mir und erzählte mir von einem Projekt in Mogadischu. Ein junger Mann namens Elman hatte es gegründet. Er hatte Jugendgruppen gegen den Krieg mobilisiert und wurde deshalb von Warlords umgebracht. Mein Besucher wollte das Projekt weiterführen, er sagte: Elman hat ganz fantastische Arbeit gemacht. Er hat Kindersoldaten davon überzeugt, dass sie die Waffe abgeben. Kannst du mich nicht unterstützen? Ich sagte: Großartig! Das ist meine Gelegenheit, auch etwas zu tun!"

    Jabril Ibrahim Abdul sammelte Spenden und Geld auch von der kanadischen Regierung. Er bekam den Auftrag, sich einen Eindruck von Elmans Projekt zu verschaffen und flog zum ersten Mal seit Kriegsbeginn nach Mogadischu.

    "Ich sagte mir: Das ist es! Es ist extrem gefährlich und riskant, viele Menschen sterben, aber hier kann ich etwas verändern! Ich werde gebraucht, weil fast alle gut ausgebildeten Somalier fliehen. Deshalb beschloss ich: Hier werde ich bleiben, hier gehöre ich hin. Obwohl ich das extreme Risiko kannte. Aber ich sagte mir: Du kannst mit dem, was Du kannst, nicht einfach in Kanada sitzen bleiben - bei allem, was ich im Bereich Konfliktmanagement und Schlichtung gelernt habe."

    Nachdem die islamischen Gerichtshöfe im vergangenen Sommer die Macht in Somalia übernommen hatten, schienen Frieden und Normalität für eine kurze Zeit greifbar. Dann, im Dezember, erklärte die äthiopische Armee der islamistischen Führung im Nachbarland den Krieg. Äthiopien siegte binnen weniger Tage und verhalf einer somalischen Übergangsregierung zur Macht. Seitdem kämpfen die Islamisten einen Guerillakrieg aus dem Untergrund, die Übergangsregierung schlägt gnadenlos zurück. Die Gefechte der letzten Wochen waren die heftigsten seit fünfzehn Jahren.

    "Als ich mal im Urlaub in Kanada war, hat ein Somalier dort gesagt: ’Ich habe noch nie jemanden getroffen, der so idiotisch ist wie du! Warum gehst du dahin zurück? Diese Typen da werden dich abschlachten!’ Er hatte vielleicht gar nicht so Unrecht. Denn meinen Freund, mit dem ich zusammen gearbeitet habe, haben sie schon getötet. Ich war kurz vorher noch bei ihm gewesen - eine Minute später war er tot. Ich war der letzte, der ihn lebendig gesehen hat. Und ich, ich bin immer noch hier."