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Zwischen den Propaganda-Fronten

Denkt man an Widerstand im Dritten Reich, denkt man an den 20. Juli, den Kreisauer Kreis oder Dietrich Bonhoeffer. Es gab aber auch noch ein weiteres, loses Netzwerk von Widerständlern: Die "Rote Kapelle". US-Journalistin Anne Nelson legt eine Gesamtdarstellung vor.

Von Michael Kuhlmann | 09.08.2010
    An einem Novembertag des Jahres 1941 fingen die Beobachtungsdienste der deutschen Wehrmacht einen mysteriösen Funkspruch auf. Eine Botschaft, die irgendwo aus dem Westen Europas nach Moskau gesandt wurde. Verschlüsselt natürlich. Aber die deutschen Horcher konnten den Sender einpeilen. Und kurz darauf griff die Gestapo zu. In einer Wohnung in Brüssel verhaftete sie eine Gruppe kommunistischer Widerständler. Und sie fand noch mehr: Bücher mit einem sowjetischen Code. Das Werkzeug, um einen Funkspruch zu entschlüsseln, der schon zwei Monate zuvor mitgeschnitten worden war. Eine Botschaft aus Moskau, und sie enthielt die genauen Adressen und Telefonnummern dreier deutscher Regimegegner: von Harro und Libertas Schulze-Boysen sowie von Adam Kuckhoff. Drei Zentralfiguren jenes Widerstandskreises, den die Gestapo die "Rote Kapelle" nannte.

    Die genaue Zahl ihrer Mitglieder ließ sich nie feststellen,

    schreibt die amerikanische Journalistin Anne Nelson.

    Doch war bekannt, dass Mediziner dazugehörten, ebenso aber auch Militärs, Akademiker und Künstler - und eine professionelle Wahrsagerin. Konservative, Kommunisten, Sozialdemokraten, aber auch ehemalige Nazis waren dabei, Katholiken wie Protestanten, Christen wie Juden. Aristokraten machten gemeinsame Sache mit Armen aus den Elendsvierteln.

    Anne Nelson hat eine Geschichte dieser Widerstandsgruppe geschrieben. Wie schon einige ihrer Kollegen zuvor möchte auch Nelson mit Vorurteilen aufräumen:

    Es hatte nicht diese gewissermaßen zu einem einzigen Block zusammengeschweißten Widerstandskämpfer gegeben, die einer vom Zentralkomitee der KPD vorgegebenen Strategie gefolgt waren. Das war reine Phantasie, ein Hirngespinst der Ostdeutschen und auch der Sowjets. Das wiederum auf eine paranoide Wahnvorstellung der Gestapo zurückging. In Wirklichkeit war alles viel ungeordneter, viel uneinheitlicher gewesen.

    Um diese Geschichte zu strukturieren, nutzt Anne Nelson die Autobiografie einer Überlebenden, der späteren DDR-Notenbankchefin Greta Kuckhoff. Ein 1974 in Ost-Berlin erschienener Band - nach eigener Aussage ist sich Anne Nelson der Problematik solch eines Buches bewusst; und auch wenn sie keine quellenkritischen Details ausbreitet, wird man ihr die nötige Wachsamkeit zubilligen dürfen. Gleichviel, Kuckhoffs Leben bildet nur den roten Faden. Alle wichtigen Figuren der Roten Kapelle werden im Verlauf des Buches ausführlich porträtiert. Harro Schulze-Boysen etwa - Leutnant in der Nachrichtenabteilung der Luftwaffe und einer der vielen Militärs, die die Absichten der braunen Machthaber schon 1937 durchschaut hatten:

    Es wird der größte Krieg der Weltgeschichte, aber Hitler wird ihn nicht überleben.

    Während des Krieges saßen die Widerständler in Ministerien und Militärdienststellen, sie wussten Bescheid über die Planungen der Wehrmacht. Und sie versuchten, Sowjets und Amerikaner zu warnen. Doch die maßgeblichen Köpfe in der Berliner US-Botschaft und in Washington zeigten sich bis 1941 misstrauisch. Und Stalin reagierte auf die Annäherungsversuche der Roten Kapelle noch drastischer:

    Genosse Merkulow. Schicken Sie Ihren "Informanten" aus dem Stab der Luftwaffe zu seiner Hurenmutter zurück. Das ist kein "Informant", sondern ein Desinformator.

    Auch wohlwollende sowjetische Agenten misstrauten Schulze-Boysen und seinen Mitstreitern. Denn die spionierten nicht nur; sondern sie suchten zugleich mit Flugblättern und Plakataktionen ihre deutschen Landsleute aufzurütteln. Groß war die Gefahr, dabei aufzufliegen. Doch Harro Schulze-Boysen äußerte sich einmal ähnlich wie die Attentäter des 20. Juli:

    Wenn die Russen nach Deutschland kommen - und sie werden kommen - und wenn sie in Deutschland eine Rolle spielen werden, dann muss nachgewiesen werden, dass es in Deutschland eine wesentliche Widerstandsbewegung gegeben hat. Sonst können die Russen mit uns machen, was sie wollen.

    Dass die Gruppe 1942 schließlich tatsächlich aufflog, lag am haarsträubenden Leichtsinn sowjetischer Agenten in Moskau und Brüssel. Die Gestapo hatte noch eine Weile gelauert und schlug dann auf breiter Front zu. Die meisten Angehörigen der Roten Kapelle wurden hingerichtet, viele an den berüchtigten Fleischerhaken in der Haftanstalt Plötzensee.

    Das Buch beleuchtet in einem letzten Abschnitt höchst kritisch, wie die Rote Kapelle nach 1945 von der DDR instrumentalisiert wurde - in der Bundesrepublik wiederum stempelte man die Beteiligten zu kommunistischen Landesverrätern ab. Dass sie das nicht waren, ist zwar längst bekannt; Arno Klönne etwa hat schon 1993 Schulze-Boysens Antikommunismus herausgestellt. Anne Nelson kann aber diese Erkenntnisse im Detail weiter untermauern.

    Allerdings hat ihr Buch einige Haken: Erstens gibt es terminologische Schwächen. Da ist etwa vom "Staatspräsidenten" der Weimarer Republik die Rede; die Notverordnung nach dem Reichstagsbrand von 1933 mutiert zu einer "Notstandsverordnung". Dass der Widerstand gegen das NS-Regime in diesem Buch fortwährend als "antifaschistisch" bezeichnet wird, befremdet ein wenig. Denn so verwerflich der italienische Faschismus war - an krimineller Energie hat ihn der deutsche Nationalsozialismus bei weitem übertroffen. Sodass es eine krude Verharmlosung ist, die braune Barbarei als "faschistisch" zu bezeichnen.

    Zweitens unterlaufen der Autorin einige sachliche Fehler: So ist es höchst fraglich, ob man die Weimarer Republik zum "demokratischen Sozialismus" erklären kann; und schlicht falsch ist die Aussage, die USA hätten am 7. Dezember 1941 den Achsenmächten den Krieg erklärt: Washington richtete seine Kriegserklärung nur an Japan.

    Dazu kommt eine dritte Schwäche des Buches: Es fußt zum großen Teil auf schon veröffentlichten Untersuchungen. Die Autorin hat zwar in Archiven recherchiert und Interviews geführt; geht man aber nach dem Anmerkungsapparat, dann stützt sich nur ein kleiner Teil der Aussagen auf diese Quellen. So werden Kenner in diesem Band nur wenig Neues finden.

    Durchaus seinen Wert aber hat das Buch als griffige und doch detaillierte Zusammenfassung des Forschungsstandes; zumal Anne Nelson im Gegensatz zu den meisten deutschen Historikern gut erzählen kann. Auf kleine Unsauberkeiten in der Arbeit von Autorin und Übersetzer sollte man freilich gefasst sein.

    Gut erzählt, wenn auch nicht ganz sauber: Anne Nelson hat das Buch geschrieben "Die Rote Kapelle – Geschichte der legendären Widerstandsgruppe". Es kostet 24,95 Euro und hat 521 Seiten. Erschienen ist es bei Bertelsmann.