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Zwischen den Welten

Biologie.- Wissenschaftler aus Vancouver haben das bislang größte Meeresvirus entdeckt. Es wurde "Cafeteria roenbergensis" getauft, und sein Genom ist ungeheuer komplex. Es hat eine Brückenfunktion zwischen Viren und Mikroorganismen inne.

Von Dagmar Röhrlich | 26.10.2010
    Unangenehm, klein und simpel - infektiöse Partikel ohne Zellhülle, die mit wenig genetischer Information auskommen, ihre unfreiwilligen Wirte parasitieren und töten: Das ist die klassische Sicht auf die Viren. Zwar macht Cafeteria roenbergensis keine Ausnahme, wenn es um das traurige Ende geht, das es den marinen Einzeller beschert, die es befällt. Aber in vielen anderen Punkten erweist sich dieses Virus als höchst ungewöhnlich:

    "Zusammen mit meinem Doktoranden Matthias Fischer habe ich ein Riesenvirus untersucht, das in texanischen Küstengewässern gefunden worden ist. Es gehört zu den komplexesten Viren, die wir kennen, ist sogar komplexer als manche zellulären Organismen. So enthält sein genetischer Code eine ganze Reihe von Informationen, die man nur bei einer lebendigen Zelle erwarten würde. Dazu gehören Gene, die eingesetzt werden, um DNA, RNA, Eiweiße oder Zucker herzustellen. Man könnte fast schon sagen, dass es gewissermaßen die Lücke zwischen zellulärem und viralem Leben überbrückt."

    Für Curtis Suttle von der University of British Columbia in Vancouver sind Viren durchaus lebendig. Er erklärt weiter, dass manche Viren zwar mit nur zwei Genen auskommen, aber dass Cafeteria, das es von seiner Größe her mit einem kleinen Bakterium aufnehmen kann, Hunderte besitzt. Unter anderem solche, mit denen es die meisten Proteine für seine Fortpflanzung synthetisiert. Zwar braucht es immer noch seinen gekaperten Wirt als "Brutkasten", aber in einem viel geringeren Ausmaß:

    "Diese Viren haben zwar wie alle anderen Viren keinen eigenständigen Stoffwechsel, können aber anscheinend außerhalb ihres Wirts ihre eigene DNA reparieren. Dazu brauchen sie nur Sonnenlicht. Die Planktontiere, die Cafeteria "überfällt", leben an der Meeresoberfläche, so dass das Virus die Schäden, die das Sonnenlicht an seiner DNA anrichtet, gleich wieder repariert."

    Wozu die meisten Gene des Riesenvirus dienen, ist noch unklar, erklärt Curtis Suttle. Aber wenn Cafeteria seine einzelligen Opfer überfällt, sind mehr als 300 an der Infektion beteiligt - mindestens:

    "Wir sehen ein Muster bei der Aktivierung dieser Gene. Manche Gene sind kurz nach der Infektion aktiv, andere gegen Ende, wenn die neuen Viren in ihre Kapseln verpackt werden."

    Untersucht man einfach die Genbruchstücke, die im Ozeanwasser schwimmen, sieht es so aus, als ob das Meer voll von Riesenviren ist. Curtis Suttle.

    "Wir finden ihre genetische Signatur überall, und wir beginnen erst die Bedeutung der Viren im marinen Ökosystem zu verstehen. Cafeteria befällt beispielsweise eines der häufigsten Mitglieder des Zooplanktons. Viren scheinen eine dominante Rolle zu spielen."

    Sie sind so etwas wie eine Recyclinganlage der Meere. Schließlich töten sie rund ein Fünftel aller marinen Mikroorganismen - täglich. Wenn die dann nach der Infektion platzen, setzen sie nicht nur die neuen Viren in die Umwelt frei, sondern auch ihren gesamten Zellinhalt. Der ist für die anderen Mikroorganismen ein gefundenes Fressen, weil die Nährstoffe darin sofort bioverfügbar sind: Und so treiben Viren die Ökosysteme an:

    "Dieser Kreislauf läuft wirklich sehr, sehr schnell, und wenn wir nun wissen, dass Cafeteria einen der wichtigsten Planktonorganismen befällt, erhalten wir neue Einsichten in die Funktionsweise dieser Ökosysteme. Noch vor 20 Jahren hätte wohl niemand gedacht, dass Viren wichtige Räuber sind, die so zentrale Mitglieder der Meeresökosysteme anfallen."

    Curtis Suttle ist davon überzeugt, dass Viren Lebewesen sind - allerdings solche, über die wir noch viel zu wenig wissen.