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Zwischen Dogmatismus und kultureller Rückbesinnung

Der Iran gilt von außen betrachtet als eine von Dogmatismus geprägt Islamische Republik. Doch viele Iraner bekennen sich demonstrativ zu ihren vorislamischen persischen Traditionen. Zumeist wird das vom Regime toleriert.

Von Elisabeth Kiderlen |
    Iran ist ein junges Land, knapp zwei Drittel seiner Bürger sind unter 25 Jahre. Aber seine größten Helden, diejenigen, die von Jung und Alt verehrt und geliebt werden, sind uralt. Rund 2500 Jahre alt wäre heute Kyrus oder Kyresch, wie die Iraner den Gründer ihres antiken Weltreichs nennen, und Hafis, der berühmte Dichter aus Shiraz, um die 690 Jahre. Kyrus steht für die Sehnsucht der Iraner nach Größe, Ansehen und Respekt der Weltgemeinschaft. Und wofür steht Hafis?

    "Hafis weiß, was die Menschen wünschen", sagt eine junge Frau in der Hafis-Stadt Shiraz im Süden Irans. Mit dem "Diwan", der Sammlung seiner Gedichte, ist sie zu seinem Grab gepilgert. Hafis hat von der Liebe gesungen, den duftenden Locken des Geliebten und vom Becher roten Weins. Er hat von der Schönheit gesungen und davon, wie man sich in schlechten Zeiten seine Freiheit erhält. Und er hat von Gott gesungen und davon, dass man Gottes Liebe überall findet und dafür schon gar nicht die frömmlerische orthodoxe Geistlichkeit braucht.

    Und auch heutzutage werden überall im Iran Hafis' Gedichte rezitiert oder gesungen und dazu manchmal im privaten Kreis das eine und andere Glas selbstgemachten Weins getrunken. Ein Iraner, der lange in Deutschland gearbeitet hat, übersetzt einige Zeilen des gesungenen Gedichts:

    "Für nur einen Schluck Wein, der keinem Menschen schadet, setzt dieses dumme Volk mich so unter Druck – frage nicht…"

    Am Grab von Hafis herrscht freitags, am islamischen Sonntag also, Hochbetrieb. Das kleine Mausoleum mit den vier Säulen, die ein rundes Dach tragen, liegt in einem hübschen Garten. Mit ernstem Gesicht steigen Pärchen, Familien, aber auch tragisch dreinblickende junge Männer die drei Stufen hoch und klopfen mit einem Finger aufs Grab. Kontaktaufnahme. Einige murmeln etwas, zumindest eine Strophe von Hafis kennen alle, auch die Analphabeten. Mitglieder einer Großfamilie, die in einem entfernten Dorf wohnen, erzählen, dass sie einmal im Jahr zu Hafis reisen würden, das Hafis-Orakel machten sie aber mindestens einmal die Woche. Beim "Fal", wie die Iraner dazu sagen, nennt man eine Zahl, schlägt das nummerierte Gedicht nach, und, da bei Hafis alles vieldeutig ist, sagt er auf die eine oder andere Weise immer die Wahrheit. Eine Germanistikstudentin hebt ihren Hafis-Gedichtband, den "Diwan", in die Höhe, stellt ihre Frage und liest das Gedicht "Wann werde ich sterben?" Sie interpretiert Hafis' Weissagung:

    "Hafis sagt, ich bin schön. Und niemand hat eine Schönheit wie ich. Meine schönen Augen niemand hat, meine schönen Haare niemand hat. Danke Hafis! Ich denke, jemand liebt mich, deshalb sollte ich für ihn nicht sterben, weil er wird sehr traurig."

    Die heitere Betriebsamkeit im Hafis-Garten ist im Iran etwas Unerhörtes. Und das nicht nur im Monat Ashura, in dem im ganzen Land um Huseyn getrauert wird, den im Jahr 680 in der Schlacht von Kerbala gefallenen Enkelsohn des Propheten.

    Huseyn war der dritte Imam, und sein Bild mit den braunen Locken und den hingebungsvollen sanften Augen hängt überall: das Urbild eines Märtyrers. Und weil Huseyn vor 1326 Jahren verraten und getötet wurde, gilt seit der islamischen Revolution öffentliche Fröhlichkeit als unanständig.
    Gegen Dogmatismus und Bigotterie jedoch ist das Werk des Dichters Hafis der Ewige, nicht zum Schweigen zu bringende Einspruch. In der Stadt Isfahan treffen sich Händler vom Basar, Handwerker, Ältere und Jüngere jeden Freitag auf einer alten Brücke, um zu singen – Schlager der 60er Jahre, Volkslieder und natürlich Hafis. Das ist nicht erlaubt, aber auch nicht verboten. Mal wird es toleriert, mal kommt die Polizei und zerstreut die Menge.

    Das von vielen erwartete rigide Verbot westlicher Musik wurde von Präsident Ahmadinedschad zwar ausgesprochen, aber nicht durchgesetzt. Man will die Jugend nicht vergrätzen. Im Januar passierte dann etwas Interessantes: Ausgerechnet der iranische Präsident, der von den westlich orientierten unter seinen Landsleuten seiner volkstümlichen Frömmigkeit wegen verspottet wird, verteidigt in einem Fernsehinterview die Fröhlichkeit. Die Universität, sagte er, "soll eine fröhliche, gesunde, aktive Umgebung für die Studenten sein". Für westliche Ohren ist das eine Belanglosigkeit, für Iran bedeutet die Äußerung immerhin eine kleine ideologische Akzentverschiebung. Es ist kein Geheimnis, dass die Generation von Technokraten, die mit Ahmadinedschad an die Macht gekommen ist und in den Ministerien, Universitäten, Banken und der staatlichen Verwaltung seither Posten für Posten besetzt, die Geistlichkeit am liebsten weit weg von Teheran und den Regierungsgeschäften und zurück in den theologischen Hochschulen der heiligen Stadt Ghom sehen würde.

    Durch die Jahrhunderte lässt sich an der Haltung der Regierenden zu Hafis wie zu Kyrus die ideelle Ausrichtung des jeweiligen Regimes ablesen. Reza Schah und mehr noch sein Sohn Mohammad Reza Pahlevi, der 1979 von der islamischen Revolution ins Exil gezwungen wurde, stellten sich bewusst in die Tradition der vorislamischen Könige. Sie wollten das Land radikal modernisieren, die Macht der traditionalistischen islamischen Geistlichen brechen und mit Verweis auf die einstige Größe Persiens ihren Anspruch auf Vormachtstellung im Mittleren Osten untermauern. Acht Jahre vor der islamischen Revolution veranstaltete der Schah in Persepolis eine riesige Feier zum 2500-jährigen Bestehen der Monarchie. Zusammen mit Staatsmännern und gekrönten Häuptern aus aller Welt fuhr Mohammad Reza auch zum Grab Kyrus' des Großen in Pasargard, um dem Gründer des antiken Perserreichs Reverenz zu erweisen.
    Sehr einsam auf der Hochebene von Murghab steht Kyrus' Grab, im fernen Rund schneebedeckte Berge. Steile Stufen führen hinauf zu einer leeren Türöffnung. In dieser enormen Weite steht es da wie ein vergessenes Spielzeughäuschen, nur dass dieses Totenhaus aus dicken geschichteten Marmorquadern errichtet ist. 14 Meter hoch ragt der Bau in den Himmel. Auch Alexander der Große ist hier gewesen, um sich in die Nachfolge von Kyrus, dem Gründer des ersten Weltreichs, zu stellen und ihm zu huldigen. Heute sitzt ein Wächter vor dem Haus und balanciert auf einem dreibeinigen Stuhl, das vierte Bein ist abgebrochen.

    "Ich, Kyrus, der König, ein Achämenide, habe dies gebaut","

    so steht es auf einem Stein, der einst zur Audienzhalle gehörte. Doch von Pasargard, der von Kyrus erbauten ersten Kapitale des persischen Weltreichs, ist außer dem Grab, einigen Fundamenten, Säulen und Steinquadern nicht viel zu sehen. Jetzt hat die iranische Antikenbehörde zum ersten Mal Archäologen aus aller Welt, darunter auch Deutsche, zu Hilfe gerufen, um zusammen mit den eigenen Fachleuten in der Umgebung von Pasargard nach Zeugnissen aus der Epoche der Achämeniden zu graben - denn demnächst soll ein Staudamm Teile der Ebene überfluten. Es gibt Bedenken, dass Kyrus' Grab durch Bodenfeuchtigkeit zerstört werden könnte, aber Pasargard ist Weltkulturerbe, und die UNESCO hat dem Staudammprojekt nicht widersprochen. Doch im Internet rüsten sich Exilgruppen zum Kampf, auch Farah Dibah, die Frau des letzten Schahs, mischt sich ein.

    ""An Herrn Koichiro Matsuura, Generaldirektor des UNESCO–Zentrums für Weltkulturerbe. Lieber Herr Matsuura, ich möchte Ihre Aufmerksamkeit auf die Konstruktion eines Dammes in Iran lenken. Die große Nähe des Damms zum Grab von Kyrus dem Großen hat nationale wie internationale Befürchtungen wegen der möglichen Gefährdung von Irans Kulturerbe hervorgerufen."

    Nicht ganz ohne Grund wird von vielen geargwöhnt, dass die Geistlichen nichts dagegen hätten, wenn die antiken Zeugnisse verschwänden. Kurz nach der Revolution wollten einige Geistliche, allen voran Ayatollah Khalkhali, Henkersrichter am revolutionären Gerichtshof in Teheran, alle Orte vorislamischer Kultur ein für allemal vernichten und aus dem Bewusstsein der Iraner tilgen. Dabei ging es Khalkhali vornehmlich um Persepolis. Der imposante Herrschersitz zeige, dass auch so genannte heidnische Kulturen Bauten überragender Schönheit schaffen könnten. Deshalb, so die islamistischen Revolutionäre damals, sollten sie verschwinden. Und dann hatte ja auch der gehasste Schah die Stätte zum Ort seiner Selbstinszenierung erkoren.

    Wäre es nach Ayatollah Khalkhali gegangen, wäre Persepolis 1989 zum zweiten Mal zerstört worden, nachdem Alexander der Große die Paläste schon 330 vor Christus niedergebrannt hatte. Doch die Bewohner der nahen Stadt Shiraz gingen auf die Barrikaden: Persepolis mit seinen hohen Säulen, geflügelten Stieren, kämpfenden Löwen und mit den exquisiten Reliefs Tribut bringender Völker hatte ihnen als Touristenmagnet gute Einnahmen beschert. So wurden Persepolis, Pasargard und die Königsgräber von Naqush-e Rostan letztendlich verschont, aber das Misstrauen bleibt. Eine Studentin sagt warum:

    "Warum wurde die Chemiefabrik an einer Stelle gebaut, von der der Wind die Abgase und Dämpfe direkt zu den Gräbern des Darius und Xerxes bläst? An einigen Stellen, Sie können es genau sehen, sind die großen Reliefs schon völlig verwittert. Und werden nicht überall in Iran die Moscheen aufs sorgfältigste restauriert, aber die präislamischen Monumente vernachlässigt? Aber wenn ich Persepolis sehe, bin ich sehr stolz: Das waren wir, das wurde von den Persern erbaut."

    Es gehört ein Schuss Paranoia zu dieser Aussage, aber sie zeigt: Es ist nicht nur das Geld, das den Ort bedeutsam macht, in Persepolis versichern sich die Iraner der eigenen Identität als uraltes Kulturvolk. Ein junger persischer Arzt, der seit sechs Jahren an einem deutschen Krankenhaus arbeitet, erzählt, was ihm Persepolis bedeutet.

    "Persepolis gilt als Symbol der persischen Geschichte. Jeder Perser ist stolz auf seine Geschichte und Persepolis ist einfach Symbol dafür. Das hat mit unserer glorreichen Geschichte zu tun, Persepolis ist Spitze des Berges unserer Geschichte."

    Und nebenbei bestätigen sich hier die Iraner auch die eigene Überlegenheit über die Araber. Manchmal will es dabei scheinen, als hätten sie den Arabern noch nicht verziehen, dass diese im 7. Jahrhundert Persien erobert hatten. "Alles Schlechte kommt von den Arabern", diese Haltung ist insbesondere unter Jugendlichen verbreitet. Inzwischen gibt es auch eine Anweisung der Schulbehörde, in der die Lehrer angewiesen werden, persische statt arabische Wörter zu verwenden. I die persische Sprache sind im Lauf der Zeit viele arabische Worte eingedrungen. Und die iranische Germanistikstudentin macht die Araber sogar für die Ungleichheit von Frauen und Männern verantwortlich:

    "Das große Problem für Frauen ist die arabische Kultur. Einige Männer denken wie in der Zeit der Dummheit in Arabistan. Sie respektieren Frauen nicht, sie denken, sie sind nicht gleich wie Männer. Ich suche jemanden, der mit mir gleich ist. Und ich habe mein eigenes Grundgesetz, in meinem Grundgesetz sind Männer und Frauen gleich."

    Für die Iraner ist Kyrus nicht nur der stolze Eroberer aller Länder zwischen Hindukusch und Nordgriechenland, ihm sei auch die erste Formulierung der Menschenrechte zu verdanken. Und tatsächlich wurden in seinem Reich Religion und Kultur der unterworfenen Völker geachtet. Heute, da dem Regime Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden, betonen die Iraner gern, dass ihre Zivilisation die erste war, die überhaupt religiöse Toleranz ausübte. Eine Umfrage des Nationalen Vereins der Jugend Irans zum Nationalgefühl kam 2005 zum Ergebnis:

    "86 Prozent der Jugendlichen sind stolz, Iraner zu sein. 70 Prozent ziehen Iran jedem anderen Land vor."

    Für sie ist nicht einsichtig, warum ausgerechnet Iran keine eigenständige Atomtechnologie und –forschung haben sollte. Dabei geht es nicht um Waffen, sondern um Rechte. Die Atomkraft ist für sie eine Zukunftstechnologie, an der sie wie andere Nationen teilhaben wollen. Ähnliches gilt für die Klonforschung. Technikfolgenabschätzung ist hier eher unbekannt, der unbedingte Wille, Anschluss an moderne Wissenschaft und Technologie zu gewinnen, treibt den Iran voran. Unabhängigkeit vom Westen und Kampf gegen die eigene Schwäche, das sind die Ziele, hinter denen sich auch solche zusammenfinden, die mit dem islamistischen Regime nichts am Hut haben.

    Augenhöhe mit dem Westen, das ist die eine Sehnsucht. Die andere zielt auf einen Glauben jenseits einer politisierten Religion. "In Iran war die Frömmigkeit so groß", sagt ein Bonmot, "dass nur eine muslimische Revolution sie zerstören konnte." Im westlich orientierten Teheraner Norden mag die Religionsferne ausgeprägt sein, aber schon in Isfahan, der zweitgrößten Stadt Irans, trifft man auf große Frömmigkeit auch unter Jugendlichen, wie viel mehr also in den kleineren Städten und Dörfern. "Der Westen dürstet nach Spiritualität", zitiert die "Tehran Times" am 15. Dezember Präsident Ahmadinedschad und bestätigt den religiösen Iranern damit ein Gefühl ihrer Überlegenheit. Doch wo sich der Glaube nicht in blinde Gefolgschaft und Märtyrerbereitschaft verwandelt hat, hat er sich aus den Moscheen in die Privaträume und die Versammlungen der Mystiker zurückgezogen.

    "Also, das ist wie bei einer Knospe. In der Knospe liegt die Schönheit, liegt die Wahrheit. Wenn sie sich öffnet, dann kann man auch die Schönheit, die Herrlichkeit, das Wunder sehen. Dein Herz muss sich öffnen. Ich bin die Wahrheit, ich bin Gott in dem Sinne, alles, was es gibt, ist Gott."

    Für solch eine Aussage der alles umfassenden Liebe und Göttlichkeit wurde der frühe Mystiker Halladj 922 hingerichtet. Auch Hafis geriet mit seinem Lobpreisungen von Liebe und Rausch in lebensgefährliche Konflikte mit den orthodoxen Mullahs. Aber immer wieder zog er den Kopf aus der Schlinge. Ein Beispiel: das Thema Wein.

    "Wein war ja verboten im Islam. Daher haben die Dichter den Wein als etwas bezeichnet, das Gott näher bringt. Gottestrunkenheit."

    Nie war der Dichter festzulegen. Während der Revolution gab es Forderungen, seine Gedichte als respektlos und aufrührerisch zu verbieten. Aber ein bedeutender Gelehrter, Ayatollah Murtada Mutakhari, hob die Bedenken gegen Hafis' Verse dadurch auf, dass er alle heiklen Stellen eindeutig zu Metaphern erklärte. In diesem Sinn hat sogar der gestrenge Revolutionsführer Ayatollah Khomeini Gedichte über den Wein geschrieben. Und auch Kyrus wird nicht mehr vernachlässigt. Über sein Grab, so der Plan, soll ein Museum errichtet werden. Denn kann ein Land, das solche Helden hat, sich mit einem Platz am Katzentisch der Geschichte begnügen? Zwischen Washington und Teheran ist ein Wettrennen um die Gunst der Iraner entbrannt. Rund 70 Millionen Dollar haben die USA jüngst bewilligt, um Bestrebungen zur Destabilisierung des Regimes zu finanzieren. Teheran muss also Rücksicht auf die Wünsche des eigenen Volks nehmen, es geht ums eigene Überleben. Huseyn Harsidj, Vizerektor der Universität Isfahan und Parteigänger von Ahmadinedschad, formuliert das so:

    "Wenn wir unsere eigenen Leute hinter uns haben, haben wir keine Probleme. Wenn wir unsere Probleme mit Korruption und Armut gelöst hätten, müssten wir keine amerikanische Vorherrschaft fürchten, noch nicht einmal eine Invasion des Iran. Dann wäre unsere Revolution garantiert und Ausländer könnten nichts gegen uns tun."