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Zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit

Mit Büchern zum Glück und zur Lebenskunst hat er sich einen Namen gemacht: der Philosoph und Bestsellerautor Wilhelm Schmid. Nun hat er sich einem Thema gewidmet, was in aller Munde ist und gerade deshalb, so Wilhelm Schmid, eines neuen Blickwinkels bedarf: der Liebe.

Von Annette Brüggemann | 28.10.2010
    Mit Büchern zum Glück und zur Lebenskunst hat er sich einen Namen gemacht: Wilhelm Schmid. Nun hat er sich der Liebe gewidmet. Ein Besuch beim Philosophen und Bestsellerautoren.

    Wilhelm Schmid: "Gerade heute, wo so viele Beziehungen scheitern, könnte man ja glauben, viele Menschen verlieren auch den Glauben an die Liebe. Bei manchen ist das tatsächlich der Fall und bei sehr vielen ist das gar nicht der Fall (lacht). Was bewegt uns Menschen so hartnäckig diesem Thema hinterher zu gehen?"

    Er gehört zu denen, die es genau nehmen: der in Berlin lebende Philosoph und Bestsellerautor Wilhelm Schmid. Seine Bücher schwimmen nicht mit im Strom der philosophischen Ratgeberliteratur, sie bieten keine Anleitungen zum Glücklichsein, keine Rezepte für ein besseres Leben. Wilhelm Schmids Bücher führen durchs Tal der Erkenntnis hinauf auf Berge, von denen aus es eine erfrischend klare Sicht gibt - auf uns selbst und unser alltägliches Leben. Und so meint "die Liebe neu erfinden" zunächst einmal die Liebe neu zu denken. In einer Zeit, in der sie als ewig süßes Versprechen herhalten muss, das sich mit fast allem locken und verführen lässt. Dabei scheint unsere Gesellschaft - in aller Fülle - depressiv verstimmt: Verkrachte Paare sitzen in Nachmittagstalkshows herum, Singles suchen Anschluss und Ehen werden rasant wieder geschieden.

    Geht es uns zu gut? Sven Hillenkamp hat 2009 mit seinem Buch "Das Ende der Liebe. Gefühle im Zeitalter unendlicher Freiheit" den Finger auf die offene Wunde gelegt. Er zeichnete das überspitzte Szenario einer Welt, in der wir wie freie Radikale durch die Weltgeschichte jetten. Mit Suchmaschinen für Suchende. Und einer unendlichen Masse möglicher Traumpartner und -partnerinnen. Ein beschleunigtes Phantasma – ohne Grenzen und Empathie. Und ähnlich wie in der Politik alte Werte wie Vertrauen und Verantwortung neu justiert werden, schlägt Wilhelm Schmid eine Revision der Liebe vor, um auch der guten, alten Romantik eine Chance zu geben:

    "Ohne Romantik lohnt sich das Leben nicht so recht und die Liebe schon gleich gar nicht. Also, ich würde gerne daran festhalten, glaube auch, dass das vielen Menschen sehr nahe liegt – aber dafür ist was anderes nötig, als das, was wir bisher kennen. Und das ist kein kleiner Sprung oder kein kleiner Schritt, sondern das ist ein sehr großer Schritt. Wir müssen anerkennen, dass das Gros unseres Lebens und auch der große Teil einer Liebesbeziehung sich nicht in Romantik abspielt, sondern im banalen, trivialen, pragmatischen Alltag."

    Welchen Anspruch haben wir an die Liebe? Was alles soll sie können? Welche unerfüllten Sehnsüchte stillen? Wilhelm Schmid nimmt den Alltag ins Visier – als einen Ort, wo wir Liebe leben, wenn die Möglichkeit zur Wirklichkeit wird. Und schmutziges Geschirr und schreiende Kinder – ohne Supernanny in Sicht - zum Realitätstest werden. Spätestens dann wird deutlich, dass Liebe mehr ist als ein romantisches Gefühl. Spätestens dann nervt uns die Zahnlücke unseres Partners, die wir vorher so charmant fanden. Und plötzlich wird ihre so wunderbar hohe Stimme, die ein "Guten Morgen" zum Frühstück trällert, zur Zerreißprobe. Das halten wir nur aus, so Wilhelm Schmid, wenn Partnerschaft mehr als einen Spiegel ist, wenn wir gemeinsam über uns hinauswachsen können und auch wollen:

    "Ich gebe gerne zu, dass Männer da etwas stärker darauf geeicht sind als Frauen, sich nämlich bis Ultimo alle Möglichkeiten offen zu halten, also sich auch auf eine bestimmte Beziehung möglichst nicht vollständig einzulassen, weil es könnte ja noch andere Möglichkeiten geben. So realisieren wir nichts. Wir können nur wirklich etwas realisieren, wenn wir uns eine Möglichkeit auswählen und diese Möglichkeit dann mit ganzem Herzen, soll heißen mit der Investition unserer ganzen Existenz, verwirklichen."

    Warum wir uns überhaupt fest binden, wenn dabei so viel auf dem Spiel steht, versucht Wilhelm Schmid zu ergründen. Um im Zeitalter virtueller Beziehungen ein verlässliches Du zu finden, ist eine Antwort. Um sich aus Selbstbezogenheit, Einsamkeit und Anonymität zu befreien, eine andere. Doch viel wichtiger ist die ganz einfache, alt bewährte Erkenntnis: Die Liebe gibt unserem Leben einen Sinn.
    Und auch diesen schönen Satz sagt Wilhelm Schmid: "Eine Wechselseitigkeit von Liebe kann nicht erzwungen werden." Dazu passt die Geschichte vom Wolf und der Giraffe, die der amerikanische Psychologe Marshall Rosenberg erfunden hat. Der aggressive, fordernde Wolf begegnet der gefühlvollen Giraffe, dem Landtier mit dem größten Herzen. "Liebst du mich?", fragt der Wolf. "Nein, im Moment nicht." - "Was – du liebst mich nicht?", entsetzt sich der Wolf. "Lieber Wolf", haucht die Giraffe und seufzt: "Ich meinte doch, in diesem Augenblick nicht. Aber vielleicht ändert sich das ja noch. Frag mich doch noch mal in fünf Minuten!" Liebe ist kein Gefühl, sie ist eine Emotion und nicht überall und jederzeit verfügbar, sagt damit Rosenberg.

    Die Liebe müsse atmen können, so umschreibt es Wilhelm Schmid. Sie müsse sowohl die Sehnsucht kennen, als auch ihren Gegenpol. Nicht immer in Bewegung sein, nicht immer Veränderung wollen, sich nicht immer woanders hinsehnen – bleiben, beharren und den Alltag genießen lernen, ist seine Devise:

    "Philosophen denken ja immer so grundsätzlich, wie nur irgend möglich (lacht). Die Grundüberlegung hier ist: Grundsätzlich fürs Leben ist offenkundig Polarität. Wenn das stimmt, dann stimmt der moderne Grundsatz nicht, dass alles ständig in Bewegung sein muss. Wo ist da der andere Pol? Der andere Pol ist Beharrung."

    Die Idee der Polarität ist es, die das gesamte Buch Wilhelm Schmids grundiert. Er räumt auf mit der ewig süßen Harmonie. Und mit einer Romantik, die die Verschmelzung mit dem Partner auf eine so totale Weise idealisiert, dass dem kaum noch Luft zum Atmen bleibt. Dieser ekstatische Moment war im ursprünglichen Sinne der Romantik auch nur als Momentaufnahme gedacht. Wenn er mehr Leben gewann, dann nur als Fiktion in der Literatur. Auch Streit, Konflikte und temporäre Trennungen gehören zum Liebesleben und sind für Wilhelm Schmid noch lange kein Grund, das Handtuch zu werfen.

    "Wir können, ist meine Erfahrung, ziemlich gut leben mit problematischen Seiten des Lebens, wenn wir uns drauf eingestellt haben, dass es sie gibt, dass sie auch ihre Existenzberechtigung haben, dann brauchen wir nämlich keine Kraft mehr damit zu vergeuden, gegen das anzukämpfen, wogegen wir jetzt nicht ankommen können. Kämpfen Sie mal im Ärger gegen den Ärger an, das ist sehr schwierig und es ist ja vielleicht auch sinnlos. Was geschieht im Ärger? Im Ärger geschieht die Wiederherstellung der Polarität. Wir hatten viel Freude miteinander, jetzt muss der andere Pol her. Warum muss der andere Pol her? Weil das Leben Spannung braucht. Und Spannung gibt es nun mal nur zwischen gegensätzlichen Polen. Und wenn's nur der Ärger ist, dann sind wir ja gut bedient. Und wenn wir den Ärger abarbeiten, so wie sich's gehört, ersparen wir uns möglicherweise damit den ganz großen Ärger, der dann auch das Ende der Beziehung bedeuten kann."

    Nicht verdrängen, der Realität mutig ins Auge blicken – auch das steckt zwischen den Zeilen von Wilhelm Schmid. Und wenn eine Trennung wirklich ansteht, sie auch vollziehen. "Die Liebe neu erfinden" ist voller reifer Reflexionen. Rund sieben Jahre hat Wilhelm Schmid an seinem Buch gearbeitet. Geschrieben ist es ohne Kitsch, Zynismus oder Nüchternheit. Plausibilität ist Schmids Kriterium.
    Er erfindet das Rad nicht neu. Aber er haucht der alten Liebeskunst im Gewand des 21. Jahrhunderts neues Leben ein. Das mag auf den ersten Blick altmodisch klingen, ist aber klassisch-elegant gelöst. Wilhelm Schmid nimmt unsere Träume ernst, auch den, die Grenzen der Endlichkeit in der Liebe überwinden zu wollen. So geben sich Wirklichkeitssinn und Möglichkeitssinn die Hand und so zieht Wilhelm Schmid gegen Ende seines Buches den Eros als Joker und guten Dämon aus dem Ärmel:

    "Das ist der Eros, wie er in Platons Symposion in Erscheinung tritt. Als Dämon und Dämon hieß damals: Mittler zwischen Gott und Mensch. Nicht wie er dann später zum Mittler zwischen Mensch und Teufel gemacht worden ist. Nein, Dämon ist der Mittler zwischen, sagen wir nun so, zwischen der Dimension des Endlichen und der Dimension des Unendlichen. In der Erotik – das wissen alle, die jemals ein bisschen Erotik erfahren haben – lösen sich die Grenzen des Endlichen auf, lösen sich die Grenzen unserer wirklichen Existenz auf, und es treten plötzlich Möglichkeiten in Erscheinung. Auch schon zwischen Zweien, die sich lange kennen, wird mehr möglich als nur Alltag und nur das, was wir bisher miteinander hatten."

    Wilhelm Schmid: Die Liebe neu erfinden.
    Suhrkamp Verlag.
    Gebunden, 399 Seiten, 19,90 Euro.
    ISBN: 978-3-518-42203-8