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Zwischen Förderung und Schädigung

Die Ausbeutung von Kindern beim Teppichknüpfen, Kleidernähen oder in der Fußballproduktion ist hierzulande gesellschaftlich geächtet - auch wenn viele Konsumenten gerne Billigartikel aus Indien, Pakistan oder China kaufen. Eine Vortragsreihe im Hamburger Museum der Arbeit versuchte eine differenzierte Annäherung an das Thema.

Von Ursula Storost | 16.02.2012
    Von "Menschenverkrüppelungsanstalten" sprach der Pädagoge Adolf Diesterweg, nachdem er im Jahr 1828 die Wuppertaler Textilfabriken besucht hatte.

    Vollends zerrissen hat mir das Herz der Anblick der Kinder. Anstatt dass unsere Bauernkinder unter Bäumen und Blumen aufleben, hören diese Sklavenkinder nichts als das Geschnurr der Maschinen, an die sie vom sieben oder achten Lebensjahre an geschmiedet werden.

    Kind zu sein, das war in vergangenen Jahrhunderten kein Kinderspiel, bestätigt Gernot Krankenhagen, Gründungsdirektor des Hamburger Museums der Arbeit. Seit Beginn der Industrialisierung in England im 18. Jahrhundert, nutzten Fabrikbesitzer billige Kinderarbeit um Profit zu machen.

    "Im Manchester-Kapitalismus war's in England einfach notwendig, dass im Aufbau die Kinder mitarbeiten. Die Maschinen waren nicht so weit entwickelt und unter den Maschinen, zum Beispiel den Textilmaschinen, mussten die Flusen, die dort in großen Mengen anfielen, weggekehrt werden. Da waren Kinder viel besser dafür als Erwachsene. Also haben die Unternehmer Arbeiter nur eingestellt, wenn die ihre Kinder mitgebracht haben."

    Mit Fortschreiten der Industrialisierung verbreitete sich auch die Kinderarbeit. Ohne dass irgend jemand Anstoß daran nahm, erklärt der Sozialwissenschaftler und Technikhistoriker Dr. Jürgen Bönig. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hamburger Museum der Arbeit.

    "Die Kindheit ist überhaupt etwas, was man erst im 19. Jahrhundert als besondere Phase erfunden hat. Dass man sagt, der Mensch entwickelt sich. Und aus dieser Vorstellung, dass das Individuum seinen eigenen Entwicklungsgesetzmäßigkeiten hat, etwas ausprobieren muss, etwas lernen muss, hat sich überhaupt die Vorstellung entwickelt, die Menschen haben das Recht darauf, diese Entwicklung zu vollziehen."



    1839 erließ man in Preußen ein Kinderschutzgesetz. Kinder unter neun Jahren durften gar nicht mehr, solche zwischen neun und 16 Jahren maximal zehn Stunden täglich in Fabriken arbeiten.

    "Man wusste einfach, dass diese Kinder auch sehr schnell krank werden. Das Krankwerden war auch einer der Gründe, warum der Staat interveniert hat und gesagt hat, ich brauch meine Soldaten und meine Staatsbürger. Und deshalb haben sie angefangen Grenzen zu setzen, ab welchem Alter man in der Fabrik arbeiten darf."

    Die Gesetze bewirkten aber nicht, dass Kinder armer Eltern mehr Zeit für Schule und Spaß hatten. Viele mussten, wie ihre Eltern, nach wie vor für einen Hungerlohn schuften, um die nackte Existenz zu sichern. Jetzt in der expandierenden Heimarbeit.

    "Die Möglichkeit, auf diese Plätze Einfluss zu nehmen, war natürlich sehr viel geringer. In der Fabrik gab's immer noch die Organisation der dort Beschäftigten dahinter. Da hat der Staat reingeguckt, die Gewerbeaufsicht aufgepasst."

    Kinder aus unterbezahlten Heimarbeiterfamilien hatten wenig zu lachen. Zum Beispiel in der thüringischen Puppenherstellung.

    Mutter näht die Bälge. Das Umwenden besorgt der Fünfjährige, weil seine kleinen Finger dazu am geschicktesten sind, während die sechsjährige Schwester die Bälge mit Sägespänen füllen muss. Der Dreijährige darf noch herumspielen. "Der Johann ist jetzt schon drei Jahre", tröstet die Mutter den deprimierten Vater, "mit vier kann man ihn schon anweisen."

    Wo auch die Heimarbeit nicht ausreichte, um alle zu ernähren, da schickten die Eltern ihre Kinder in die Fremde. Wie die sogenannten Schwabenkinder, die alljährlich im Herbst aus dem österreichischen Vorarlberg über die Alpenpässe nach Schwaben wanderten, erzählt Professor Hermann Bausinger.

    "Und dort gab's so was wie einen Sklavenmarkt, da wurden die getestet, ob sie entsprechende Muskulatur noch haben. Und haben dann den Winter über gearbeitet. Und sie haben gearbeitet meistens für eine Hose, die sie nachher gekriegt haben. Sonst nichts, sondern die Löhnung bestand darin, dass sie Essen kriegten."

    Herrmann Bausinger ist ehemaliger Leiter des Ludwig Uhland Instituts für empirische Kulturwissenschaften an der Universität Tübingen. Trotz der deprimierenden Kindheitsgeschichten sei bewiesen, Kinder wollen gerne arbeiten, sagt er. Und verweist auf eine Untersuchung ungarischer Volkskundler.

    "Und zwar wird dort beschrieben, wie die Kinder schon mit drei, vier, fünf Jahren anfangen, ihre Eltern nachzuahmen in ihrer Arbeit. Also sie hacken mit dem Stock im Feld. Und das geht dann eigentlich fließend über in die wirkliche Arbeit. wenn die mal neun oder zehn sind, dann sind sie stolz darauf, dass sie mit aufs Feld dürfen und dass sie dort hacken. "

    Spiel und Arbeit gingen da ineinander über, wo Elternarbeit Vorbild für einen Lebensentwurf sei, sagt der Volkskundler. Hermann Bausinger:

    "Ich will damit nicht sagen, dass die Verhältnisse immer ideal waren. Die Kinder auf einem Bauernhof, die wurden auch von ihren eigenen Eltern ausgenutzt und zur Arbeit auch gezwungen. Aber es war doch in anderer Weise integriert in das alltägliche Geschehen und insofern ist es nicht verwunderlich, dass die Kinder das zum Teil auch sehr gerne und mit Stolz gemacht haben."

    Differenziert betrachten müsse man auch die heutige weltweite Kinderarbeit, glaubt der Hamburger Internist Dr. Helgo Meyer-Hamme, der sich in Indien engagiert.

    "Diese Kinder leiden unter der Arbeit nicht so, wie wir uns das vorstellen. Ganz im Gegenteil. Sie sind häufig sehr, sehr stolz, dass sie ihre Familie unterstützen, dass sie Verantwortung tragen für die Familie."

    Etwa 40 Millionen Kinder arbeiten im heutigen Indien. Ihr größtes Problem sei nicht, dass sie arbeiten müssten, sondern die Rahmenbedingungen wie Eintönigkeit, lange Arbeitszeiten und:

    "Dass sie eigentlich immer von den Arbeitgebern schlecht behandelt worden sind. Sie sind geschlagen worden, beschimpft worden."

    Helgo Meyer-Hamme ist Gründer des Projekts "Help for Education and Live Guide Organisation". Seit 14 Jahren bemühen er und 450 Vereinsmitglieder sich darum, Kinder in Kalkutta vor ausbeuterischer Kinderarbeit zu bewahren und ihnen eine möglichst umfassende Ausbildung zukommen zu lassen.

    "Unsere Erfahrungen mit der ersten Generation sozusagen sind sehr gute Erfahrungen. Auch wenn die Kinder nach der sechsten, siebten Klasse abgegangen sind. Sie können wenigstens lesen, sie können schreiben, sie können zu einem guten Teil auch ein bisschen Englisch. Diese Jungen und Mädchen, die durch unser Projekt gelaufen sind, sind keine Tagelöhner mehr geworden, was sie sonst geworden wären ohne Schulausbildung."

    In einem Land, in dem Analphabetentum und Armut Alltag ist, in dem der Schulbesuch Geld kostet, sei es normal, Kinder arbeiten zu lassen.

    "Die Eltern hungern und die Kinder auch. Und es ist einfach eine Notsituation und kulturell und sozial ist die Kinderarbeit dort durchaus akzeptiert."

    Würde man die Kinderarbeit dort verbietet, würden die Kinder in die Illegalität abtauchen, sich prostituieren oder mit kriminellen Machenschaften Geld verdienen, sagt Helgo Meyer-Hamme. Ausbeuterische Kinderarbeit könne man nur bekämpfen, indem man die Ursache bekämpft: Armut durch Ausbeutung.

    "Faire Einkommen für arme Menschen in den sogenannten Drittweltländern. Dass also auf Plantagen arbeitende Menschen ein faires Einkommen bekommen, so dass sie dann auch ihre Kinder nicht mehr zur Arbeit schicken müssen."

    Veranstaltungshinweis:

    "Kinder brauchen Arbeit – aber welche?"
    Podiumsdiskussion zum Abschluss der Vortragsreihe zur Ausstellung
    mit Maria von Welser, stellvertretende Vorsitzende von Unicef Deutschland
    Dr. Klaus Mehrens, IG Metall
    Dr. Jan-Uwe Rogge
    Dr. Helgo Meyer-Hamme
    Moderation: Sabine Rheinhold, früher NDR-Wirtschaftsredaktion
    Sontag, 19. Februar 2012, 15.30 Uhr