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Zwischen Freiheit und Zwang

"Unser Volk hat sich bewusst für die Demokratie entschieden. Ein wichtiges Unterpfand dafür, dass diese Wahl nicht rückgängig gemacht wird, ist nach wie vor die Freiheit der Massenmedien. Sie ist unsere bedeutende Errungenschaft und wird von der Verfassung der Russischen Föderation garantiert. "

Von Uli Hufen |
    Hehre Worte waren das, die Wladimir Putin da sprach, zur Eröffnung des 59. Weltzeitungskongresses vor einigen Wochen in Moskau. Aber so richtig glauben mochten ihm nur wenige der 1.600 Journalisten, Verleger und Medienmanager, die in die russische Hauptstadt gekommen waren, um die Zukunft der Printmedien im Zeitalter von Kabelfernsehen, Internet und UMTS-Handys zu diskutieren. Wegen ernster Zweifel an der russischen Pressefreiheit hatten einige Mitglieder der World Association of Newspapers gegen die Wahl des Tagungsortes Moskau protestiert. In seiner Eröffnungsrede klagte ihr Präsident Gavin O'Reilly denn auch höflich aber bestimmt, der russische Staat tue nicht genug, um geeignete Bedingungen für eine starke und unabhängige Presse zu schaffen. Stattdessen befördere er eine Atmosphäre, in der Vorsicht und Selbstzensur die Arbeit der Journalisten einschränkten. Außerdem kontrolliere der Kreml über ihm nahe stehende Medien-Unternehmen einen wachsenden Teil der Presse. Putins Antwort fiel nüchtern aus:

    "Ich habe zu diesem Thema andere Informationen. Der Staatsanteil auf dem russischen Pressemarkt sinkt, während die Zahl der Publikationen ständig steigt. Das lässt sich leicht überprüfen. Natürlich, wie in praktisch jedem anderen Land der Welt gibt es auch bei uns einen beständigen Kampf zwischen der Gesellschaft und der Presse einerseits und dem Staat und seinen Interessen, wie sie die Beamten verstehen, andererseits. Das gibt es in fast jedem, nein: in jedem Land der Welt. Auch in Russland. Aber wir haben heute 53.000 Druckerzeugnisse, wir haben mehr als 3.000 Fernseh- und Radiostationen und ich denke, Sie werden mir zustimmen: Selbst wenn der Staat wollte, er könnte sie nicht alle kontrollieren. Und dennoch – es gibt Probleme, natürlich. "

    Die Reden von Putin und O'Reilly markieren das neueste Kapitel in einem seit nun fünf Jahren andauernden Streit zwischen Russland und dem Westen. Dabei werfen westliche Journalisten und Politiker dem Kreml und Putin persönlich schwere Verfehlungen gegen Demokratie und Pressefreiheit vor. Sie berufen sich dabei auch auf russische Menschenrechtler und kreml-kritische Journalisten wie Alexej Venediktov, den Chefredakteur des Radio-Senders "Echo Moskwy" – zu deutsch: "Echo Moskau":

    "Als Putin an die Macht kam, gab es sechs landesweit empfangbare Fernsehsender, vier staatliche und zwei private. Heute - gibt es sechs staatliche. Eine andere Zahl: Unter Putin wurden 49 Gesetzesänderungen eingebracht, die die Presse betrafen. Das Gesetz über den Terrorismus, der Steuerkodex, das Gesetz über die Werbung, das Gesetz über die Wahlen. Die Zahl der ermordeten oder angegriffenen Journalisten hat zugenommen, die Zahl der aufgeklärten Fälle eher nicht. … Diese drei Zahlen zeigen, dass wir einen negativen Trend haben. Was weiter daraus wird, was passieren muss – ich weiß es nicht. Aber der Trend geht zum Schlechten. "

    Zahlen wie diese haben im Westen die Vorstellung entstehen lassen, die russischen Medien des 21. Jahrhunderts würden auf ähnliche Weise unterdrückt wie in der Sowjetunion vor 20, 30 oder 50 Jahren. Dass die Realität heute komplizierter ist, darauf deutet schon die Existenz des von Alexej Venediktov geleiteten Radiosenders hin. Echo Moskau ist ein werbefinanziertes, kommerziell erfolgreiches Talk- und Informationsradio, das rund um die Uhr Nachrichten und politische Analysen sendet. Der 1990 gegründete Sender ist eine der meistzitierten Nachrichtenquellen aus Russland und beschäftigt radikale Putinkritiker wie Jewgenija Albats oder Julia Latynina. Als Echo Moskau im Jahr 2000 gemeinsam mit dem Fernsehsender NTW in den Besitz des halbstaatlichen Gazprom-Konzerns überging, glaubten viele, der Sender werde bald geschlossen. Doch das ist bis heute nicht geschehen:

    "Dafür gibt es verschiedene Gründe. Sie verbieten uns nicht, weil sie den Skandal nicht brauchen können. … Sie verbieten uns nicht, weil wir das Aushängeschild für die Pressefreiheit in Russland sind. Sie verbieten uns nicht, weil wir (auch für sie) eine Informationsquelle sind. Minister haben mir mehrfach gesagt, dass in Krisensituationen alle Echo Moskau hören. Auch der Kreml. Zum Beispiel als in Moskau der Strom ausfiel oder als die Geiselnahme in der Schule von Beslan passierte. … Wir recherchieren Fakten und Iformationen, auch für diese Leute, und wir machen dabei kaum Fehler. "

    Rund eine dreiviertel Million Menschen schalten das Radioprogramm von Echo Moskau täglich ein. Das ist viel, reicht aber bei weitem nicht aus, um mit den staatlich kontrollierten Fernsehsendern RTR, Erster Kanal und NTW zu konkurrieren. Trotzdem macht das Beispiel Echo Moskau deutlich, dass derjenige irrt, der alle russischen Medien über einen Kamm schert. Moskauer Zeitungskioske bieten eine breite Palette von überregionalen und lokalen Blättern, deren politisches Spektrum von weit links bis weit rechts reicht - aber zu berücksichtigen ist: Die vom Medienangebot her privilegierte Situation in Moskau ist mit jener in den abgelegenen Provinzen des Riesenlandes nicht zu vergleichen:

    "Die zentralen russischen Medien, ob elektronisch oder im Print-Bereich sind freier als die regionalen. Putin wird in den regionalen Medien kritisiert und die föderale Regierung sowieso, aber der eigene Chef???! - Ein Beispiel: Murtaza Rachimov in Baschkirien – die 'politische Nummer 1’ dort - zu kritisieren ist wirklich gefährlich. Das kann zu Schlimmerem führen als nur zum Verlust der Arbeit. … Oder nehmen Sie Moskau: … Vergleichen Sie die Lage in der nationalen und der lokalen Moskauer Presse, und Sie werden sehen, dass man in der nationalen Presse Putin loben und kritisieren kann, man kann ihn sogar diverser Verbrechen bezichtigen. … In der lokalen Presse kann man Putin auch kritisieren, aber Moskaus Bürgermeister Luschkov – den darf man dort nur loben. "

    Vitalij Tretjakov ist einer der führenden Köpfe des postsowjetischen Journalismus: Elf Jahre stand er der liberalen Nesawissimaja Gazjeta als Chefredakteur vor, die er 1990 selbst gegründet hatte. Unter seiner Führung wurde die Zeitung zum Flaggschiff des freien Journalismus nach dem Zusammenbruch der UdSSR. Seit Anfang 2006 ist Tretjakov Chefredakteur der Zeitung Moskovskije Novosti. Bei den meisten politischen Grundsatzfragen steht er heute auf Seiten Putins. Übrigens auch was dessen Medienpolitik betrifft:

    "Ich habe zwar eine Fernsehsendung, aber ich bin natürlich Printjournalist und bedaure, dass die Auflagen der Zeitungen heute so gering sind. Sie können sich in keiner Weise messen mit dem Einfluss des Fernsehens auf das Massenpublikum. Das ist klar. Ein offensichtlicher Fakt ist auch, dass es in den landesweit sendenden Fernsehanstalten heute wesentlich weniger Pressefreiheit gibt als in den Printmedien. Es wäre albern, das zu bestreiten. Ich finde das falsch, und ich habe meine Meinung oft klar gemacht, auch im Kreml, gegenüber denjenigen Leuten, von denen diese Dinge abhängen. "

    Anders als man also erwarten könnte, beschreibt der Putin-Unterstützer Tretjakov die Lage der russischen Massenmedien zunächst kaum anders als zuvor der Putin-Kritiker Alexej Venediktov. Der Streit beginnt jedoch bei der Frage, wie es zur heutigen Situation gekommen ist. Für Venediktov und die meisten westlichen Beobachter liegt die Schuld mehr oder weniger allein bei Wladimir Putin. Unter dessen Vorgänger Boris Jelzin seien die russischen Medien, allen voran das Fernsehen, frei und pluralistisch gewesen. Der Journalist und Medien-Theoretiker Ivan Zassurskij bürstet in seinem Buch "Media and Power in Postsoviet Russia" allerdings deutlich gegen diesen Strich:

    "Die erste Privatisierung zum Ende der Sowjetunion geschah bei den Massenmedien. Sie wurden tatsächlich unabhängig von ihren früheren sowjetischen Trägern - der Partei, den gesellschaftlichen Organisationen. Gleichzeitig gerieten sie aber in Abhängigkeit von der neuen Macht im Land, die ihnen erlaubte, ihre Zeitung im eigenen Namen neu zu registrieren."

    Der russische Journalismus der frühen 90er Jahre war risikofreudig und frei. Frei im Sinne von anarchisch. Objektiv oder ausgewogen war er selten. Aber das interessierte damals niemanden. In Russland nicht, weil es kaum Erfahrungen mit der westlichen Art von Journalismus gab und im Westen nicht, weil die neuen Zeitungen plötzlich auf der richtigen Seite der Geschichte standen. Alles war gut. Bis es erneut um die Macht-Frage ging:

    "1996 hatten wir alle Angst vor der ja absolut möglichen Revanche des Kommunismus. Darum machten wir damals schlicht Propagandaarbeit. "

    Sergej Roy war von 1994 bis 2004 Chefredakteur der liberalen englischsprachigen Tageszeitung Moscow News. Er erinnert sich gut an diese Zeit, wenn auch nicht besonders gern: Wenige Monate vor den Präsidentschaftswahlen im Juni '96 lag Boris Jelzin Umfragen zufolge bei unter zehn Prozent. Favorit auf seine Nachfolge war Gennadij Zjuganow, der Kandidat der kommunistischen Partei KPRF. Vor dieser Ausgangssituation trafen sich die sieben reichsten Männer Russlands in Davos, um Jelzins Wiederwahl zu organisieren - unter ihnen der Ölmagnat Michail Chodorkovskij und die Medienoligarchen Vladimir Gusinskij und Boris Berezovskij, denen damals die Sender ORT und NTV gehörten:

    "Es flossen diese unfassbaren Summen aus Jelzins Stab, das gesamte Fernsehen und die Printmedien arbeiteten für seine Wiederwahl. … In meiner Zeitung gab es keinerlei bezahlte Texte, dafür lass ich mir die Hand abhacken. Aber wir riefen ehrlich und voller Überzeugung dazu auf, Jelzin zu wählen. Und wir schrieben schlecht über seine Gegner. "

    Jelzin gewann. Doch kaum jemand in Moskau bezweifelt, dass 1996 nicht nur die Medien manipuliert wurden, sondern auch das Wahlergebnis selbst. Schon kurz nach der Wahl Putins zum Präsidenten im März 2000 entzog der Kreml den zuvor mit der Aura der Allmacht auftretenden Oligarchen Vladimir Gusinskij und Boris Berezovskij die Kontrolle über ihre Fernsehsender NTW und ORT. Alexej Venediktov erkennt darin ein reines Machtkalkül des Kreml:

    "Putin verstand ganz genau, dass er ein Produkt des Fernsehens ist: Ein kleiner Beamter wird Präsident - was ist da passiert? Nichts Besonderes – man hat ihn einfach geschickt präsentiert! …Aber wo ist die Garantie, dass sich nicht ein anderer auf dieselbe Weise des Fernsehens bedient? Darum ist es besser, diese Ressource in der Tasche zu haben. Berlusconi hat Recht! "

    Genau wie Venediktov weiß auch Vitalij Tretjakov, dass die Enteignung von Gusinskij und Berezovskij sich negativ auf die Meinungsvielfalt im russischen Fernsehen ausgewirkt hat. Aus seiner Sicht war dieser Schritt dennoch nötig:

    "Nach Putins Wahlsieg kamen die Oligarchen Beresovskij und Gusinskij zu ihm und – so ist die Wahrheit – sie sagten ihm: 'Ab jetzt machst du, was wir dir sagen.’ Was hätte ein Mann mit menschlicher und politischer Selbstachtung sagen sollen, der gewählter Präsident seines Landes ist? - 'Ja’? - Putin sagte, dass er das nicht tun werde. Daraufhin sagten sie – ich vereinfache jetzt etwas: 'Dann werden wir gegen dich kämpfen.’ - Und da hat er ihnen eben die Waffen für den Kampf weggenommen. "

    Mit der Entmachtung von Gusinskij und Berezovskij endete jene Epoche des russischen Fernsehens, während der die großen Schlachten um politischen Einfluss und um die fetten Filetstücke der zu privatisierenden russischen Wirtschaft live vor den Augen des meist schockiert-ohnmächtigen Publikums ausgetragen wurden. Vorbei war die Zeit der großen Fernseh-Demagogen Sergej Dorenko und Jevgenij Kiselev, vorbei aber vor allem die Zeit, in der offen und kritisch über den Tschetschenienkrieg berichtet werden konnte. Das russische Fernsehen wurde langweiliger und vorhersehbarer. Geht es um die Innenpolitik, herrschen seitdem vorauseilender Gehorsam, Vorsicht und Selbstzensur. Ivan Zassurskij:

    "Die Fernsehsender und die Journalisten, die dort arbeiten, werden in ständiger Angst vor einem möglichen Lizenzentzug gehalten. Da reicht eine Warnung: Den Sender TW 6 gibt es nicht mehr, an seiner Stelle haben wir jetzt einen Sport-Kanal. Und die Leute haben verstanden! TW 6 war ein sehr gutes Lehrbeispiel für den Bereich 'Fernsehen’, genau so wie die Enteignung des Ölkonzerns Yukos ein nachdrückliches Exempel für die Wirtschaft war. Man braucht nicht zehn solcher Fälle, ein einziger reicht, im Fernsehen genauso wie in der Wirtschaft. "

    Wer nun allerdings annimmt, das russische Fernsehen insgesamt sei heute eine Orwell’sche Machtmaschine ohne jegliche kritische Berichterstattung, der irrt. Die Hauptnachrichtensendungen der landesweit empfangbaren Kanäle lassen sich zwar zweifelsfrei als regierungstreue Propagandasendungen beschreiben. Doch sind auf den diversen russischen TV-Frequenzen ebenso mehr als zwei Dutzend politische Diskussionssendungen zu finden. Auf NTW etwa moderiert Vladimir Solovev zwei durchaus kontrovers angelegte politische Talkshows, beim Ersten Kanal führt Vladimir Pozner durch die Sendung Vremena.

    Parallel zu diesen politischen Diskussionen um die Zukunft des Fernsehens vollziehen sich auch in Russland jene technischen Revolutionen, die inzwischen weltweit die Medienwelt verändern. Fernsehen, Radio und Printmedien verlieren Schritt für Schritt ihre führende Rolle als Informationsquellen an das Internet. Auch in Russland geht jene Epoche zu Ende, in der eine kleine Gruppe von Journalisten und Medienmanagern die Medieninhalte für Millionen passiver Bürger produzieren und kontrollieren konnte.

    "Wenn der Staat - warum auch immer - entscheidet, sich die Fernsehsender untertan zu machen, dann brechen die Informationen und die freie Diskussion im Internet durch. Das sind spontane Ausdrucksformen dessen, was man Zivilgesellschaft nennt. Die Selbstorganisation der Menschen, die hat mit Parteien und Stiftungen nichts zu tun, und das ist das Wichtigste. "

    Für den 26-jährigen Journalisten Oleg Kaschin ist das Internet heute professionelles Rechercheinstrument, Mittel des Austauschs und Publikationsort zugleich. Schließlich haben analytische Internet-Nachrichtenportale und Online-Zeitungen wie die web-Adressen polit-dot-ru, gazeta-dot-ru, lenta-dot-ru oder russ-dot-ru schon heute mehr Leser als die meisten der großen Traditionszeitungen. Ergänzt werden die professionell produzierten Internetpublikationen durch neue internet-spezifische Kommunikationsformen, die auch hierzulande unter Begriffen wie Citizen Journalism und Blogs in die Diskussion gekommen sind. Mehrere hunderttausend Russen unterhalten Onlinetagebücher, täglich kommen Hunderte neu hinzu. In den letzten Jahren ist auf diese Weise ein virtuelles Netzwerk entstanden, in dem von Tschetschenien bis Putin und von Sport bis Mord praktisch alles frei und kontrovers diskutiert wird, was die Menschen bewegt. Noch ist das staatlich kontrollierte Fernsehen das alles entscheidende medienpolitische Instrument, wenn es um die Beeinflussung oder Manipulation breiter Bevölkerungsschichten zugunsten der Staatsmacht geht. Doch Oleg Kaschin beschreibt einen sich verstärkenden Trend, mit dem er viel Hoffnung verbindet:

    "Also in meiner Generation, für Leute unter 30, ist die Hauptinformationsquelle schon ziemlich lange das Internet. … Auf dem zweiten Platz stehen Printmedien: Zeitungen, Zeitschriften, Wochenzeitungen wie Expert, wo ich jetzt arbeite, die russische Newsweek, Kommersant-Vlast’, Kommersant-Den’gi usw. Erst danach kommt das Fernsehen, sogar das Radio liegt noch vor dem Fernsehen. Also: Das Fernsehen kommt ganz zum Schluss! "