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Zwischen Genie und Wahnsinn

"Ritter, Dene, Voss" trägt die Namen der Schauspieler im Titel, für die Thomas Bernhard das Stück geschrieben hat. Das Drama um Ludwig Wittgenstein, der gerade von seinen beiden Schwestern aus der Psychiatrie nach Hause geholt wurde, fordere "intelligente" Schauspieler, geht aus einer Anmerkung Bernhards hervor. Das ist die Berliner Besetzung gewiss. Doch Regisseur Oliver Reese hat das Drama aller sozialen und atmosphärischen Bezüge entkleidet.

Von Hartmut Krug |
    Am Deutschen Theater wird Thomas Bernhards Stück über einen wittgensteinschen Geistesmenschen zwischen Genie und Wahnsinn und seine beiden Schwestern, die sich nach der Rückholung des Bruders aus der Heilanstalt wieder zum Psycho-Kampf am Mittagstisch zusammenfinden, vom Regie führenden Interimsintendanten Oliver Reese aller sozialen und atmosphärischen Bezüge entkleidet.

    Gezeigt wird nicht die üppige "Jugendstilperversität" einer Villa in Döbling, wie in Claus Peymanns Salzburger Uraufführung im Jahre 1986, sondern eine bis zur Brandmauer hin offene und leere Bühne. Ein Esstisch und fünf Stühle sind ebenso wie das niedrige Spielpodest, auf dem sie an der Bühnenrampe stehen, in grell strahlendem Weiß gehalten. Statt sich dem Stück anzunähern und auszusetzen, hält es sich die Inszenierung als Demonstrationsobjekt vom Leib.

    Bei Reese findet keine Einfühlung in die Bernhardsche Welt statt, sondern es wird ein Denk-Stück mit seinen Kunstfiguren ausgestellt. Wodurch, wohl unbeabsichtigt, die Künstlichkeit und Konstruiertheit des nicht zu Bernhards besseren Stücken zählenden Werkes überdeutlich wird. Was ihm, um einen Lieblingsbegriff von Bernhard zu benutzen, "naturgemäß" nicht gut tut: So gespielt wirkt es recht altbacken und wie von der Zeit überholt.

    Denn während Bernhard den Schrecken und die Banalität einer von unveränderlicher Alltäglichkeit bestimmten Familienhölle auch sozial und emotional durchdekliniert, bekommen seine Texte, wenn sie wie in Reeses Inszenierung mit ihrem effekthascherischen Bedeutungspathos wie aufgesagt im offenen Raum verhallen, den Anschein einer ganz anderen, einer theatralen Banalität:

    Ritter: "Du rührst in der Suppe um / und denkst nur / wie du mich peinigen kannst / er ist philosophisch / um mich zu zerstören / und du rührst aus dem gleichen Grund / in der Suppe um."
    Dene: "So schön vorgestellt habe ich mir / diesen Abend / Nach Monaten zum erstenmal wieder / mit Ludwig zusammen nachtmahlen / wir drei allein / unbehelligt."
    Ritter: "Geschwisterliebe / zu dritt."


    Reeses Versuch, das Stück und seine Figuren vor uns auszustellen, schlägt lange keine szenischen Spannungsfunken. Erst sitzen die beiden Schwestern allein nebeneinander am Tisch und denken ihre Texte frontal zum Publikum, später setzt sich der Bruder zwischen sie. Die drei spielen nicht gegeneinander, sondern immer über die leeren Stühle der toten Eltern hin aufs Publikum zu.

    Obwohl die Inszenierung nur halb so lang wie die dreieinhalbstündige Uraufführung dauert, zieht sie sich doch ungemein zäh dahin. Erst im letzten Drittel gewinnt sie an Fahrt und bekommt auch komische Momente. Damit sind allerdings weder die verklemmt-vergeblichen erotischen Versuche zwischen den Geschwistern gemeint, noch der unglückliche Regieeinfall, die Familienporträts in peinlich parodistischen Posen von den Schwestern leibhaftig vorführen zu lassen - und auch der Einsatz einer Melone anstelle des Mittagsbratens gibt der Aufführung weder Schwung noch Witz.

    Komisch wird es aber, wenn Ulrich Matthes, der die Texte des Bruders lange abliefert, als betrachte er sie nur von außen, seine Figur mit deren Begeisterung zu Brandteigkrapfen erst fast zur Erstickung und dann zur Lebens-Sinnsuche bringt:

    Voss: "Wie schlecht ich mich manchmal fühle / ganz wie ein Sterbender / dann ist plötzlich wieder alles in Ordnung / weil ich denke / ich überwinde alles nur / mit Denken / nicht mit N a c h denken / mit Denken / Meine Schwestern sind meine Zerstörerinnen / sie vernichten mich."

    Auch schauspielerisch überzeugt die Inszenierung nur wenig. So wird die immanente Auseinandersetzung mit der Schauspielkunst, immerhin betätigen sich die beiden reichen Schwestern am Josefstädter Theater gelegentlich als Schauspielerinnen, nicht "ausgespielt". Und während Ulrich Matthes das Leiden des Bruders an der Macht der Gewohnheit zunächst routiniert ausstellt, bis er sich immer mehr in eine sinnsucherisch verzweifelte, wirkungssichere Tschechowfigur verwandelt, gibt Almut Zilcher die ältere der beiden Schwestern nur als grobe, fast vulgäre und dabei recht betuliche Figur.

    Constanze Becker immerhin spielt eine Frau von heute in einem Text von gestern: Ihre jüngere Schwester wirkt gelangweilt, pomadig aufsässig, patent, verzweifelt und zugleich boshaft. Damit bringt sie Leben in eine Inszenierung, die insgesamt an ihrer dramaturgischen Ausgedachtheit erstickt.