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Zwischen Gewalt und Umbruch

Wer hierzulande an die Ereignisse von 1968 erinnert, denkt an Berlin und Frankfurt, auch an Paris und Prag, allenfalls noch an Berkeley. Das Bild Che Guevaras spielt zwar eine Rolle - doch eher als Ikone. Was damals in Lateinamerika geschah, das dokumentiert jetzt die Ausstellung "Zwischen Revolution und Revolte: 1968 in Lateinamerika", die im Ibero-Amerikanischen Institut in Berlin eröffnet wurde.

Von Peter B. Schumann |
    Tlatelolco, der Platz der Drei Kulturen, in den Abendstunden des 2. Oktobers 1968. Schüsse auf rund 5.000 Studentinnen und Studenten, die sich hier zu einer friedlichen Demonstration für die Durchsetzung demokratischer Rechte und die Freilassung politischer Häftlinge versammelt haben. Das autoritäre Regime der Einheits-partei PRI lässt Polizei und sogar die Armee mit aufgepflanzten Bajonetten und Panzern gegen sie vorrücken. Die genaue Zahl der Opfer ist bis heute nicht bekannt.

    Das Massaker von Tlatelolco wirkte wie ein Schock auf das Bewusstsein der Mexikaner. Das Vertrauen in die Partei der institutionalisierten Revolution war zutiefst erschüttert. Aber es sollte noch drei Jahrzehnte dauern, bis sie im Jahr 2000 durch Wahlen von der Macht verdrängt wurde. Elisa Ramírez war damals Studentin der Politologie.

    "Die Erfahrungen jener Zeit", so sagt sie, "die Erfahrung des Gefängnisses, des Todes, der Solidarität hat viele von uns für immer geprägt und uns in unserem Kampf für die Demokratie bestärkt: innerhalb und außerhalb des Systems, in der Guerrilla, wo auch immer. Ich glaube, dass unsere heutige Demokratie wesentlich auf diese Bewegung zurückzuführen ist."

    In keinem anderen Land Lateinamerikas wurde die Studenten-Bewegung 1968 derart verfolgt und blutig niedergeschlagen wie in Mexico. Deshalb bildet sie auch in der Ausstellung des Ibero-Amerikanischen Instituts einen zentralen Teil der Erinnerung. Doch nicht nur der Grad an gegen sie gerichteter Repression unterscheidet die 68er-Rebellen Lateinamerikas von denen in Europa. Der Politologe Peter Birle:

    "Wir haben es in vielen Ländern mit Militärdiktaturen zu tun, schon zum damaligen Zeitpunkt. Brasilien ist seit 1964 Diktatur, es ist allerdings noch eine weiche Diktatur, und gerade im Jahr 1968 kommt dann der Umbruch von der weichen Diktatur zur richtig harten Repression. Argentinien ist ja auch seit 1966 wieder Diktatur gewesen. 1969 kommt es dann zu den großen universitären Protesten, dem Cordobazo. Aber es gab schon 1967 die Nacht der langen Stöcke, wo es viel Repression gab. Uruguay sollte man vielleicht erwähnen: Dort gibt es eine Mischung aus studentischen Protesten und einer in Entstehung begriffenen Guerrilla-Bewegung."

    Angesichts der Diktaturen oder autoritär geführter Demokratien beschränkten sich die Demonstranten nicht mehr auf bürgerliche Reformen, sondern forderten Revolution. Fidel Castro hatte ihnen in Cuba das Vorbild und Che Guevara mit seiner Fokus-Strategie die theoretische Orientierung geliefert. Aber die Rebellen trafen auf eine staatliche Gewaltmaschinerie, gegen die auch die Guerrilla-Taktik letztlich machtlos war.

    Politisch war die 68er-Bewegung in Lateinamerika zum Scheitern verurteilt - sieht man von Mexico ab. Und auch dieser späte Machtwechsel war eher ein Pyrrhus-Sieg. Doch Anne Huffschmid, die Kuratorin der Ausstellung, will nicht nur diese politische Seite beleuchten:

    "Eben auch das, was häufig aus dem Blick gerät, wenn man von 68 spricht: nämlich die Frage, wie sich Kultur im Alltag, in der Kulturproduktion, in der Kunst grundlegend verändert, die Geschlechterbeziehung, die Familienorganisation, die Pädagogik. Die Ausstellung ist der Versuch, auf diese sehr verschiedenen Felder, die von Hippie-Kultur bis zur Stadtguerrilla reichen können, Schlaglichter zu werfen."

    Den Europäern diente Lateinamerika als Projektionsfläche ihrer eigenen revolutio-nären Träume, und ein Dokumentarfilm brachte sie auf die Leinwand: "La hora de los hornos/ Die Stunde der Feuer " von Fernando Solanas, verboten in Argentinien, uraufgeführt in Italien. Es war ein flammender Aufruf zum Kampf gegen Ausbeutung und Hunger, mit dem sich auch die Rebellen in Europa solidarisierten:

    "Lateinamerika, das große Vaterland, die große unvollendete Nation. Mein Vorname: der Misshandelte, mein Name: der Erniedrigte, Stand: widersetzlich. Eine gemeinsame Vergangenheit, ein gemeinsamer Feind, ein gemeinsame Möglichkeit, die Geografie des Hungers. Unsere erste Gebärde, unser erstes Wort: Befreiung."