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Zwischen halb leerem und halb vollem Glas Wasser

Im Vergleich mit Amerikanern und Briten schauen die Deutschen durchaus hoffnungsvoll in die Zukunft, sind längst nicht so kleinmütig wie oft behauptet. Allerdings nur relativ im Vergleich zu den beiden Ländern. Die Gegenwart hat sich unserer Auffassung nach in den letzten Jahren zunehmend verschlechtert. Dies hat eine internationale Studie der Universität Köln ergeben.

Von Kersten Knipp |
    Nein, es geht uns nicht gut, im Gegenteil: Es geht uns immer schlechter. Seit zehn Jahren geht es bergab. Das sehen zumindest gut zwei Drittel der 3000 deutschen Befragten so. Und die, so das Marktforschungsinstitut YouGov Psychonomics, das die Studie durchgeführt hat, stehen repräsentativ für die gesamte deutsche Bevölkerung. Nur knapp 14 Prozent finden, das Leben habe sich verbessert. Aber das Erstaunliche ist: Mit diesen Werten stehen wir gar nicht mal so schlecht da: In den USA etwa berichten knapp 82 Prozent der Befragten von einer Verschlechterung ihres Lebens. Und auch die Briten halten nicht sonderlich viel von den Umständen, in denen sie leben. Solche Werte sind erstaunlich, erklärt Detlef Fetchenhauer, Leiter des Instituts für Wirtschafts- und Sozialpsychologie an der Universität Köln, der die Studie nun vorgestellt hat:

    "Man kann objektiv ja schon feststellen, dass sich die Lebensbedingungen in vielerlei Hinsicht ständig verbessern, in den letzten zehn, fünfzig Jahren verbessert haben und auch weiterhin verbessern. Wenn Sie etwa an die medizinische Versorgung denken, wenn Sie an die Heilungschancen bei schweren Krankheiten denken, Lebenserwartung, die technologische Entwicklung: Wir benutzen alle Handys, die vor 25 Jahren noch gar nicht existiert haben, und so weiter, und so weiter. Also eigentlich gäbe es schon durchaus Grund, davon auszugehen, dass die Lebensverhältnisse sich weiter verbessern. Aber in der subjektiven Wahrnehmung ist es offensichtlich ganz, ganz anders."

    Immerhin: Alle Befragten stimmen überein, dass es uns heute besser geht als vor 50 Jahren. Tatsächlich hatten die westlichen Länder den großen Wirtschaftsaufschwung damals auch noch vor sich. Jetzt hingegen spricht alles dafür, dass sie ihn hinter sich haben. Die entscheidende Frage lautet also: Was sagt unser Pessimismus über unseren Realitätssinn? Warum sind wir pessimistisch? Weil wir uns irre machen lassen, vor allem von den Medien? Oder weil wir die Lage doch recht genau erfassen, weil wir begriffen haben, dass wir unseren Wohlstand wohl kaum mehr steigern können, sondern im Gegenteil sogar dabei werden zusehen müssen, wie er schrumpft? Interessant wäre, welche Ergebnisse eine solche Studie in den Schwellenländern präsentieren würde. Sind die Bürger etwa in China, Brasilien und Indien genauso pessimistisch? Vermutlich nicht, meint Andreas Schubert, Vorstandsvorsitzender der YouGov Psychonomics AG. Dort sähen sie der Zukunft wohl viel entspannter entgegen. Denn Schubert beobachtet:

    "dass in Schwellenländern natürlich ein anderer Optimismus herrscht. Dort, wo kontinuierlich Aufschwung sich entwickelt, wo die wirtschaftlichen Verhältnisse der Menschen sich verändern - ich war gerade in Südafrika, zum Beispiel ein Land mit ganz viel Zukunftseuphorie der Beteiligten: Schwarze und Weiße, die sich dort in Interviews gezeigt haben."

    Woran also liegt der Pessimismus der Bürger in der westlichen Welt? Optimismus ist nur ein Mangel an Information, sagt ein böser Spruch. Demnach wären Deutsche, Briten und Amerikaner sehr, sehr gut informiert. Aber drückt die Studie wirklich den Realitätssinn der Befragten aus? Sozialpsychologe Detlef Fetchenhauer ist skeptisch:

    "Es fehlt derzeit so ein bisschen derzeit die gesellschaftliche Utopie. Also das positiv besetzte Ziel: Wo wollen wir hin? Unser Lebensgefühl ist momentan sehr, sehr defensiv: Wir wollen Arbeitsplätze bewahren, wir wollen die Umwelt bewahren, wir wollen den Wohlfahrtsstaat bewahren, also, es gibt wenig, was wir positiv erreichen wollen, sondern wir sind immer in so einer Art Abbruchsituation, wo wir sparen müssen, wo die Bundesregierung das wesentliche Ziel in der Haushaltskonsolidierung sieht. Und wenn man keine positiven Ziele hat, auf die man wirklich hinarbeiten kann, na dann orientiert man sich gerne an der Vergangenheit, die dann natürlich auch nostalgisch verklärt wird."

    Mag sein, dass die Studie - erstellt wurde sie im August dieses Jahres - in die Zeit eines ideellen Vakuums fällt. Staatsverschuldung, Klimawandel, im Gebälk knirschende Renten- und Sozialsysteme, dazu der derzeit hochgespielte Unmut über Muslime, die Sorge, vor steigenden Energiepreisen, die moralische Bankrott wenn nicht der beiden Kirchen so doch mancher ihrer führenden Repräsentanten durch die Missbrauchsfälle: Die Gegenwart ist wenig dazu angetan, sonderlich frohgemut zu stimmen. Und so ist Anlass zum Pessimismus gegeben, denn auf die großen Herausforderungen der Zukunft stehen Antworten noch aus. Die Deutschen sind zum Beispiel an ständiges ökonomisches Wachstum gewöhnt - was geschehen soll, wenn es ausbleibt, ist derzeit noch offen. Dies kann durchaus pessimistisch stimmen. Zugleich, beobachtet Andreas Schubert von YouGov Psychonomics, paart sich dieser Pessimismus aber mit einem ausgeprägten Realismus:

    "Wir hatten eine Untersuchung, wie die Deutschen auch zu den Steuersparambitionen der FDP standen. Und man wundert sich doch, dass die Deutschen doch sehr realistisch in der Sache waren. Sie hatten festgestellt, dass die wirtschaftliche Situation es nicht erlaubt, mit solchen Ideen herauszukommen, und sie forderten mehr Realismus von der Politik. Nichtsdestotrotz, dass wir jetzt eine Gesamtkonsolidierung unserer Haushalte brauchen, nur nichtsdestotrotz müssen wir einzelne Leuchttürme schaffen, wir müssen zeigen, wo gibt es noch Perspektiven? Das muss jetzt nicht eine breite Euphorie sein, aber ich glaube, es müssen einzelne Signale sein, wo sich die Gesellschaft und die Wirtschaft weiter entwickeln können."

    Wir bräuchten also neue Ideale, zumindest ein paar Ideen, die uns weiterführen könnten. Es ginge darum, Prioritäten zu setzen in einer Gesellschaft, die sich nicht mehr alles leisten kann, weil ihr das Geld ausgeht. Es geht um die Auseinandersetzung mit kommenden Realitäten. Es geht um die Kunst der Umwertung. Darum, Werte und Wünsche, Standards und scheinbare Selbstverständlichkeiten neu zu verhandeln. Solche Diskussionen werden uns einen Eindruck von der Relativität menschlicher Lebensformen verschaffen, der befreiend wirken könnte. Denn nicht alles ist Sachzwang, was so scheint. Nicht jeder Verzicht ist ein auch Verlust. Der Verzicht bietet die Möglichkeit, andere Dinge zu erhalten, sie vielleicht überhaupt erst wahrzunehmen. Allerdings hat sich ein neuer Umgang mit den Herausforderungen der Zukunft noch kaum entfaltet. Und auch der Bundesregierung, beobachtet Detlef Fetchenhauer, fehlt für große Pläne die Kraft. Eigentlich reicht sie nicht einmal für einen stringent durchgehaltenen Kurs - einem Kurs, auf den sich dann auch die Bürger begeben würden:

    "Die derzeitige Koalition ist ja am Anfang auch als Retro-Koalition bezeichnet worden. Also mir fehlte da von Anfang an die positive Utopie. Da und da wollen wir hin. Sondern man war sozusagen bei beiden Parteien froh und glücklich, wieder miteinander koalieren zu können, die große Koalition hatte man hinter sich gelassen, die FDP war froh, wieder an der Macht zu sein. Und so dachte man quasi, würde das so eine Art Selbstläufer werden. Und ich glaube, wenn man Menschen begeistern will - das wissen wir auch aus der Organisationsforschung -, wenn Sie Mitarbeiter in einem Unternehmen begeistern wollen, dann müssen Sie positiv besetzte Ziele formulieren, die Menschen mitreißen, mit eigenem guten Vorbild vorangehen. Und das ist halt etwas, was in der Politik derzeit doch sehr, sehr fehlt."

    Das ist allerdings ein Problem, mit dem sich bislang noch jede Spielform des Idealismus hat plagen müssen: das Arrangement zwischen der Poesie des Herzens und der Prosa der Wirklichkeit. Die Welt als Wille und Vorstellung, das klingt schön, jedenfalls aus der Feder von Arthur Schopenhauer. Leider gibt es außer dem Willen aber auch die Realitäten. Und an denen mühen sich Philosophen und Politiker derzeit gleichermaßen ab.

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