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Zwischen Himmel und Hölle

Sie galt als Höhepunkt des diesjährigen Holland Festivals: die Oper "La Commedia" von Louis Andriessen. Auf der Grundlage einiger Textpassagen Dantes und des Alten Testaments entwarft der Komponist eine Aufführung mit satirischem Blick auf Himmel und Hölle, wie sie in unserem heutigen Lebensalltag gegenwärtig sind.

Von Frieder Reininghaus | 13.06.2008
    Die Musikerinnen und Musiker erschienen in Arbeitskleidung. In der tiefen Arena sitzen hinter den 15 Streichern fünf Holzbläser - davon drei Flöten - sowie die zu massivem Einsatz befähigten zehn Blechbläser. Des weiteren wurden zwei Klaviere und zwei Elektrogitarren für Louis Andriessens spezifische Klangmischung aufgeboten, Harfe und Cimbalom, dazu mehrere Schlagzeuger und acht Choristen. Sie präsentieren unverfroren spättonales Ragout und Momente heftiger Atonalität, deftige Filmmusik-Fermente und Volksmusik-Anklänge - aber es ist alles halb so schlimm wie wild.

    Neben dem über weite Passagen vorherrschenden Dauerdruck der rhythmischen Impulse, die Andriessen aus der Rock- oder auch der Minimal-Music adaptierte, finden sich ausgesprochen lyrische Interludien. Manches von dem, was der Dirigent Reinbert de Leeuw mit energischen Händen zusammenhält, wirkt auf denkwürdige Weise gebändigt.
    Auch die Altachtundsechziger werden älter. So scheint es naheliegend, dass einer wie Louis Andriessen, der sich einst an einigen Aspekten der holländischen Landesgeschichte abgearbeitet hat und sich kritisch mit dem Duce wie mit Künstlerkult und -leiden auseinandersetzte, nun den Blick auf Transzendentes richtet: Den Rahmen seiner neuen Filmoper bildet Dantes Purgatorium. Es ist eine im Prinzip moderne, aber doch auch schon wieder etwas nostalgisch gezeigte Hölle: die Sphäre der schwerindustriellen Arbeitswelt mit Malochern in Sicherheitskleidung.

    Die Arbeitsmänner agieren rings herum: Insbesondere auf einer großen Hebebrücke über den tief positionierten Musikern und der von großen durchsichtigen Plastikkugeln erfüllten Bühne. Diese riesigen Seifenblasen, Objekte, welche die Seelen "verkörpern", präparieren sie ruhig und umsichtig für die eventuelle Entsendung in ein unsichtbar bleibendes Paradies.
    Vor allem zeichnet sich die der Läuterung dienende Vorhölle durch eine größere Anzahl von Bildleinwänden aus. Auf denen zeigen sich, jeweils leicht zeitversetzt und jedenfalls asynchron, leicht surrealistische Filmszenen aus Amsterdam und Umgebung: Das aus starken Typen bestehende Straßenmusiker-Ensemble "The Guild" kehrt in seine Stammkneipe ein. Zwei - natürlich Fahrrad fahrende - sozialpolitische Aktivistinnen aus einem Vorort kommen mit den deklassierten Musikanten in Berührung. Die Beziehungskonflikte eskalieren, als sich die eine von ihnen mit dem hübsch tätowierten Hornisten einlässt. Mitsamt den Instrumenten geht es hinaus ans Meer - da stellen sich wahrhaft poetische und militante Bilder vom Strand ein. Die bunte Gesellschaft gerät mit der Polizei aneinander und in Haft, doch der Geschäftsmann - in Wahrheit Luzifer - kauft sie frei.
    Für die Demonstration des Wegs durch die irdischen Freuden wählten Hart Hartleys Kameras neuerlich eine Fahrt durch Amsterdam. Sie begleiten eine Bootsfahrt der schrägen Musiker-Guild durch die Grachten. Beatrice, die als Prominente in der feineren Sphäre Amsterdams hofiert wurde, kehrt zum Flughafen Schiphol zurück. Sie ist in Gestalt der Sopranistin Claron McFadden freilich ebenso als Sängerin präsent auf dem Laufsteg, der die Musiker umgibt. Und wie der Schauspieler, der den luziferischen Geschäftsmann spielt. Oder wie Cristina Zavalloni, die als heutige Reinkarnation von Dante in die Haut einer italienischen Frauen-TV-Moderatorin fuhr - und überfahren wird. Als der Kinderchor den big-band-gestützten und wahrhaft comedy-haften Schlusschor absolviert hatte, zeigte sich das Premieren-Publikum ungeteilt angetan.

    Vielleicht war nicht die gesamte niederländische Prominenz gestern Abend im Theater Carrè an der Amstel versammelt, zumindest aber die hauptstädtische - also Harry Mulisch, Königin Beatrix et cetera. Und vielleicht wird die so hochgradig filmisch motivierte Commedia von Louis Andriessen für Amsterdam das, was Gustave Charpentier Luise vor hundert Jahren für Paris wurde. Die neue Filmoper ist jedenfalls Hommage à Amsterdam und sichtlich mehr einem neuen Lokalpatriotismus verpflichtet als der Vorbereitung für ein in den Sternen stehendes ewiges Leben.