Morgen geht Israel zur Wahl. Rund viereinhalb Millionen Wähler sind aufgerufen, über die Verteilung von 120 Sitzen in der Knesset, dem israelischen Parlament, zu entscheiden. Überschattet wird der Urnengang von der seit über zwei Jahren anhaltenden Gewalt in den besetzten Gebieten und palästinensischen Selbstmordattentaten auf israelische Städte, Busse und Siedlungen. Die zweite Intifada hat bislang mehr als siebenhundert Israelis und über zweitausend Palästinenser das Leben gekostet.
Amram Mitzna von der Arbeitspartei, der Herausforderer des amtierenden Ministerpräsidenten Ariel Scharon, fordert in seinem Wahlprogramm einen radikalen Schnitt: Innerhalb eines Jahres will er den Gazastreifen räumen und mit dem Rückzug aus einem großen Teil der Westbank beginnen – wenn es sein muss, auch ohne ein Abkommen mit den Palästinensern. Allen Meinungsumfragen zufolge trifft er damit die Stimmung einer breiten Mehrheit der Wähler – und liegt doch in den Wahlprognosen abgeschlagen zurück. Yoav Peled, Politologe an der Universität von Tel Aviv, sucht nach Erklärungen:
Alle Meinungsfragen zeigen, dass eine klare Mehrheit der israelischen Öffentlichkeit Mitznas Plan unterstützt und bereit ist, sich aus dem größten Teil der besetzten Gebiete zurückzuziehen, die meisten Siedlungen zu räumen und den Palästinensern einen eigenen Staat zuzugestehen. Aber sie trauen Mitzna nicht zu, das alles so umzusetzen, dass ihre eigene Sicherheit dabei gewahrt bleibt. Die Menschen leben in Angst, in Todesangst, wegen dieser Terroranschläge, und weil sie keine Lösung sehen, haben sie auch keine Hoffnung, und vertrauen darauf, dass Scharon ihnen Sicherheit geben kann.
Zehn Jahre nach Beginn des Friedensprozesses haben Israelis wie Palästinenser die Hoffnung auf eine Lösung des Konflikts weitgehend begraben – und schieben die Schuld der jeweils anderen Seite zu: Der ungebremste Ausbau israelischer Siedlungen, palästinensische Propaganda gegen das Existenzrecht Israels, israelische Obstruktion getroffener Vereinbarungen, palästinensische Kollaboration mit terroristischen Gruppen, der Status Jerusalems, die Rechte der Flüchtlinge – die Liste der gegenseitigen Vorwürfe und der unauflösbaren Gegensätze schien endlos, lange schon bevor beide Seiten in dem gegenwärtigen Strudel aus Gewalt und Vergeltung versanken.
Innerhalb von einhundert Tagen werde er Ruhe und Sicherheit wiederherstellen, versprach der für seine rabiaten Methoden bekannte ehemalige General Scharon bei seinem Amtsantritt vor zwei Jahren. Doch weder die wochenlange Besetzung und Bombardierung palästinensischer Städte noch die gezielte Tötung einzelner Drahtzieher hat Israel diesem Ziel näher gebracht. Am sechsten Januar starben dreiundzwanzig Menschen bei einem Bombenanschlag in Tel Aviv. Scharons Popularität hat das so wenig geschadet wie Parteispendenaffären und die Verstrickung seiner Söhne in undurchsichtige Immobiliengeschäfte. In der Wahlkampagne seiner Likud-Partei gibt es nur einen Slogan: Die Nation will Scharon.
Er ist eine Führernatur. Er hat die Gabe, die seltene Gabe, die unerklärlich ist – Charisma, die Fähigkeit, Verehrung zu erzeugen. Lange bevor er in die Politik ging, haben seine Soldaten schon ein Lied gesungen mit den Worten: Arik, König von Israel.
Der israelische Publizist und Friedensaktivist Uri Avnery hat Ariel Scharons Karriere seit mehr als vierzig Jahren beobachtet – ein Weg über atemberaubende Höhen und Tiefen. Einst hochdekorierter und von seinen Truppen verehrter General, verurteilte ihn eine israelische Untersuchungskommission nach dem Libanonkrieg von 1982 als moralisch Verantwortlichen für die Massaker in den Flüchtlingslagern von Sabra und Shatila. Sharon musste als Verteidigungsminister zurücktreten. Über Jahrzehnte galt er als unbeirrbarer Gegner jedes Kompromisses mit den Palästinensern. Heute jedoch glauben seine Anhänger, dass allein Scharon den Weg zum Frieden öffnen kann. Gewaltige, geschichtsträchtige Taten erwartet die Studentin Hilla, Wahlkampfhelferin in der Tel Aviver Zentrale der Likudpartei, von ihrem Idol.
Mit dieser Einstellung – wir wollen Frieden, es gibt aber keinen Frieden, man kann mit den Arabern doch keinen Frieden machen, die Araber wollen uns umbringen, die Araber wollen uns ins Meer werfen – sehnt man sich nach einem starken Führer. Man sehnt sich eigentlich nach einem israelischen De Gaulle – was man wirklich will, ist ein starker Führer, der aber Frieden machen kann, gerade weil er so ein starker Führer ist. Und Arik Scharon paßt genau dazu.
Immer wieder habe Scharon seine Bereitschaft zu "schmerzhaften Konzessionen” bekundet, betonen seine Anhänger. Sogar einem palästinensischen Staat werde er zustimmen, wenn nur die Terrorkampagne endlich beendet werde. Scharons Gegner glauben dagegen, er wolle die Palästinenser in drei bis vier isolierten, nur formell unabhängigen Enklaven zusammenpferchen und den Rest der besetzten Gebiete jüdischen Siedlern überlassen.
Busfahren in Israel – ein Nervenkitzel der besonderen Art. Am Sonntagmorgen, dem israelischen Wochenanfang, verlassen die Überlandbusse die Küstenmetropole Tel Aviv voll besetzt mit Wehrpflichtigen und Reservisten auf dem Weg zu ihren Einheiten – ideale Ziele für palästinensische Attentäter. Arabische Zeitungen, muslimische Kopftücher und arabische Gespräche ziehen misstrauische Blicke der Uniformierten auf sich.
Am östlichen Rand der israelischen Küstenebene inmitten sattgrüner Felder und Olivenhaine, liegt das Kibbutz Metzer – nur wenige hundert Meter von den besetzten Gebieten entfernt. Seit ihrer Ankunft in den Fünfziger Jahren haben sich die aus Argentinien eingewanderten Kibbutzbewohner um gute Beziehungen zu ihren neuen Nachbarn bemüht. Gemeinsam mit den Bewohnern eines benachbarten Dorfes in der Westbank versuchen sie, die Zerstörung arabischer Olivenhaine durch den von der Regierung Scharon vorangetriebenen Bau eines Sicherheitsstreifens zu verhindern. Doch im vergangen November holte die bittere Realität des Konflikts auch diese Insel des guten Willens ein: Ein Palästinenser aus der Westbankstadt Tulkarem erschoss zwei Kleinkinder und ihre Mutter aus nächster Nähe, anschließend eine weitere Frau sowie den Sekretär des Kibbutz. Seinen Posten hat nun der Ingenieur Dov Avital eingenommen. Trotz der grausamen Tat hält er Verständigung nach wie vor für den einzig gangbaren Weg.
Ich muss eine klare Unterscheidung machen zwischen denen, die für diese Morde verantwortlich sind, und allen anderen, die damit nichts zu tun haben. Wenn wir uns der Herde derer anschließen, die nur Rache und Vergeltung verstehen, dann haben diese Killer gewonnen. Wir werden ganz einfach hier zusammenleben müssen, und zwar für immer, und wenn wir nicht irgendwann lernen zusammenzuleben, dann werden wir uns immer weiter gegenseitig umbringen. Es gibt auf beiden Seiten Leute, die sich eine Welt vorstellen, in der die andere Seite einfach nicht existiert. Aber sie werden uns nicht ins Meer werfen und wir sie nicht die Wüste, und niemand wird einfach verschwinden. Solange wir die Westbank kontrollieren, gibt es keine Lösung. Eine klare Trennung zwischen uns und den Palästinensern bedeutet, dass auch die Siedlungen verschwinden müssen, jedenfalls die meisten. Falls irgend jemand glaubt, wir könnten auf beiden Seiten sein und die Westbank in ein großes Gefängnis für die Palästinenser verwandeln, dann wird er sich gewaltig täuschen.
Wie die meisten anderen Kibbutze hat auch Metzer neben dem landwirtschaftlichen längst ein industrielles Standbein aufgebaut. Bewässerungssysteme aus dem Kibbutz, perfektioniert für die Landwirtschaft in wasserarmen Gegenden, werden heute in alle Welt exportiert. In den Werkhallen der Fabriken von Metzer besetzen Araber mit israelischer Staatsangehörigkeit leitende Positionen – eine Seltenheit in Israel, dessen jüdische Bevölkerung ihre arabischen Mitbürger seit dem Beginn der Intifada wieder als gefährliche fünfte Kolonne betrachtet.
Über den Hügeln von Haifa lebt die Mehrheit der arabischen Bevölkerung Israels - Palästinenser, die bei der Staatsgründung vor fünfzig Jahren im Lande bleiben konnten, die israelische Staatsbürgerschaft und das Wahlrecht erhielten. Heute stellen sie knapp ein Sechstel der israelischen Wähler. Schon Yitzhak Rabin konnte die Verträge von Oslo nur mit der Unterstützung arabischer Wähler und Parteien durchsetzen. Arabische Stimmen ermöglichten 1999 den fulminanten Sieg Ehud Baraks über Benjamin Netanyahu, ihr nahezu geschlossener Boykott ermöglichte zwei Jahre später den Triumph Scharons. Asad Ranem, Dozent für Politologie an der Universität von Haifa und Direktor einer Vereinigung für jüdisch-arabische Verständigung in der Kleinstadt Tamra in Galiläa:
In Israel gilt die folgende politische Gleichung: Die Linke kann nicht ohne die Stimmen der Araber an die Macht gelangen und die Rechte nicht ohne die Religiösen. Aber in den letzten Jahren haben die arabischen Wähler mehr und mehr den Glauben an die israelischen Linksparteien verloren, besonders an die Arbeitspartei. Unter der Regierung Barak wurden dreizehn arabische Bürger bei Demonstrationen getötet, und schon Rabin hat die arabischen Parteien nur benutzt, um an die Macht zu kommen – die Situation hat sich ein wenig verbessert, aber von wirklicher Gleichberechtigung war auch bei ihm nie die Rede. Und von all dem beschlagnahmten Land aus arabischem Besitz wurde nichts zurückgegeben, obwohl das meiste von den Israelis noch immer nicht genutzt wird.
Wer arabische Siedlungen wie Tamra, Kabul oder Ibellin besuchen will, braucht weniger Mut als Geduld: Alle drei bis vier Stunden fahren Busse die rund zwanzig Kilometer von Haifa gelegenen Dörfer an – zum Kibbutz Metzer gibt es jede halbe Stunde eine Verbindung. Der Unterschied hat Methode: über Jahrzehnte haben arabische Kommunen, Schulen und Sozialeinrichtungen nur einen Bruchteil der Mittel erhalten, die auf jüdische Gemeinden verwendet wurden. Das Gefühl, im jüdischen Staat Israel Bürger zweiter Klasse zu sein, unterminiert die Glaubwürdigkeit der israelischen Demokratie bei den arabischen Wählern. In den Dörfern von Galiläa drohen den israelischen Linksparteien und ihren arabischen Verbündeten Stimmen verloren zu gehen, die für eine Mehrheit links des Likud unverzichtbar sind.
Jedem politisch denkenden Araber ist klar, dass unsere Situation nicht aus der Knesset heraus verändert werden kann. Dort sitzen 120 Abgeordnete, 10 Araber und 110 Juden. Diese 110 jüdischen Abgeordneten stehen geradezu automatisch gegen die Araber zusammen. Alle jüdischen Parteien, auch Linksparteien wie Meretz, sind sich einig, dass Israel ein jüdischer Staat sein soll und dass wir Araber keinen Anspruch auf wirkliche Gleichberechtigung haben. Ich gehe davon aus, dass ein großer Teil der arabischen Wähler diese Wahlen boykottieren wird.
Kaum besser als seine arabischen Bürger behandelte der von der Arbeitspartei kontrollierte israelische Staat über lange Jahre jüdische Einwanderer aus orientalischen Ländern, die Mizrahim. In den Siebziger Jahren machte sich Menachem Begin die Verbitterung der Mizrahim zunutze und mobilisierte sie für den Likud. So wurde die Arbeitspartei zum ersten Mal seit der Staatsgründung abgewählt, der Likud stellte die neue Regierung. In den Neunziger Jahren erzielte die Shas-Partei mit religiösen Parolen spektakuläre Erfolge unter den Mizrahim. Der Politologe Yoav Peled über die Verbindungen zwischen sozialer Position, ethnischem Hintergrund und der Einstellung zum Friedensprozeß:
Unsere Gesellschaft ist noch immer durch eine tiefe ethnische Kluft gespalten. Ursache ist die tiefe Verbitterung über die Unterdrückung und Ausbeutung dieser Einwanderer aus den muslimischen Ländern in den fünfziger Jahren, als der Staat von der Arbeitspartei kontrolliert wurde. Jetzt sind es die Kinder und Enkel dieser Menschen, die am unteren Ende der sozialen Leiter stehen – die Palästinenser stehen natürlich noch tiefer - während die europäische Juden, die Aschkenasim, die Mittel- und Oberschicht stellen. Die Arbeitspartei repräsentiert genau diesen Teil der Gesellschaft, und sie hat den Oslo-Prozess begonnen, um im Prozess der Globalisierung auf der Seite der Gewinner zu stehen – denn nur wenn Frieden herrscht, kann Israel sich erfolgreich in diesen Prozess integrieren.
Der Friedensprozeß hat Israel in den Neunziger Jahren einen beachtlichen Aufschwung beschert. Bisher verschlossene Märkte öffneten sich, ausländisches Kapital strömte ins Land, die Wirtschaftsleistung wuchs dramatisch. Doch schon in den Zeiten des Booms wurden die Früchte des Friedens höchst ungleich verteilt: Die Privatisierung von Staatsbetrieben, Kürzungen im Sozialbereich und der Zustrom billiger Arbeitskräfte aus Afrika, Fernost und Osteuropa trafen die schwächeren Schichten der Bevölkerung hart. In den letzten zwei Jahren haben die neue Intifada und die internationale Konjunkturflaute die israelische Wirtschaft in eine tiefe Krise gestürzt, Arbeitslosigkeit und Armut verschärft. Mehr als ein Drittel aller Israelis lebt heute unterhalb der offiziellen Armutsgrenze. Das soziale Klima wird rauher.
Natürlich ist es eine Erscheinung, die nicht nur Israel eigen ist, dass arme Leute, die nichts haben, die gedemütigt werden, die kein Selbstvertrauen haben, einen Führer brauchen und einen radikalen Nationalismus brauchen, um sich selbst für vollwertig zu halten. Diese armen Schichten des herrschenden Volkes sind immer die, die Minderheiten und andere Völker hassen und verachten und die das brauchen, um irgendwie einen Selbstrespekt zu haben. Ariel Scharon ist der vollkommene Führer für diese Massen.
Zwischen säkularen und religiösen, russischen und arabischen, askenasischen und Mizrahim-Parteien wird der voraussichtliche Wahlsieger Ariel Scharon am 29. Januar vor einem schwierigen Stück Arithmetik stehen. Seiner eigenen Likud-Partei werden wenig mehr als die Hälfte der einundsechzig Sitze vorhergesagt, die für eine Mehrheit im Parlament erforderlich sind. Herausforderer Amram Mitzna hat seine Arbeitspartei mit viel Medienaufwand gegen eine große Koalition unter Scharon eingeschworen. Die religiöse Shas und die kompromisslos säkulare Shinui-Partei, insgesamt für etwa dreißig Sitze gut, bekämpfen sich unerbittlich und lehnen jede Zusammenarbeit kategorisch ab. Willige Bündnispartner wird Scharon allein am äußersten rechten Rand des politischen Spektrums finden.
Wenn die Arbeitspartei ihren Charakter beweisen will und nicht in eine Einheitsregierung eintreten wird, dann wird Scharon darauf angewiesen sein, eine Regierung aufzustellen, in der er total auf die rechtsradikalsten Elemente angewiesen sein wird – Leute, gegen die Le Pen und Haider Waisenknaben sind. Es sei denn, dass die Arbeitspartei eine solche Niederlage erleiden wird, dass sie Mitzna herauswerfen und die alten Kumpane, die sich nur sehr ungern von ihren Sesseln getrennt haben, wieder zu Scharon zurücklaufen. Und er zählt darauf, er ist vollkommen sicher, dass er nach der Wahl die Minister der Arbeitspartei bestechen kann, wieder in die Regierung zurückzukehren.
Wie immer die Intrigen und Winkelzüge in den Hinterzimmern der Parteienzentralen ausgehen mögen – die wahren Herausforderungen stehen dem alten und neuen Ministerpräsidenten erst noch bevor. Kompromissvorschläge aus vergangenen Verhandlungsrunden liegen noch immer in den Schubladen europäischer und amerikanischer Vermittler. Die Arabische Liga hat Israel einstimmig Frieden und gutnachbarliche Beziehungen gegen einen Rückzug auf die Grenzen von 1967 angeboten, und die Mehrheit der Palästinenser ist durch die endlose Gewalt mindestens ebenso zermürbt wie ihre israelischen Nachbarn. Nach dem Ende der Krise im Irak wird auch Washington sich wieder dem ältesten und wohl gefährlichsten Konflikt in der Region zuwenden. Dann erst wird Ariel Scharon beweisen müssen, ob er die Hoffnungen seiner Wähler erfüllen und die Chance zum Frieden ergreifen kann.
Amram Mitzna von der Arbeitspartei, der Herausforderer des amtierenden Ministerpräsidenten Ariel Scharon, fordert in seinem Wahlprogramm einen radikalen Schnitt: Innerhalb eines Jahres will er den Gazastreifen räumen und mit dem Rückzug aus einem großen Teil der Westbank beginnen – wenn es sein muss, auch ohne ein Abkommen mit den Palästinensern. Allen Meinungsumfragen zufolge trifft er damit die Stimmung einer breiten Mehrheit der Wähler – und liegt doch in den Wahlprognosen abgeschlagen zurück. Yoav Peled, Politologe an der Universität von Tel Aviv, sucht nach Erklärungen:
Alle Meinungsfragen zeigen, dass eine klare Mehrheit der israelischen Öffentlichkeit Mitznas Plan unterstützt und bereit ist, sich aus dem größten Teil der besetzten Gebiete zurückzuziehen, die meisten Siedlungen zu räumen und den Palästinensern einen eigenen Staat zuzugestehen. Aber sie trauen Mitzna nicht zu, das alles so umzusetzen, dass ihre eigene Sicherheit dabei gewahrt bleibt. Die Menschen leben in Angst, in Todesangst, wegen dieser Terroranschläge, und weil sie keine Lösung sehen, haben sie auch keine Hoffnung, und vertrauen darauf, dass Scharon ihnen Sicherheit geben kann.
Zehn Jahre nach Beginn des Friedensprozesses haben Israelis wie Palästinenser die Hoffnung auf eine Lösung des Konflikts weitgehend begraben – und schieben die Schuld der jeweils anderen Seite zu: Der ungebremste Ausbau israelischer Siedlungen, palästinensische Propaganda gegen das Existenzrecht Israels, israelische Obstruktion getroffener Vereinbarungen, palästinensische Kollaboration mit terroristischen Gruppen, der Status Jerusalems, die Rechte der Flüchtlinge – die Liste der gegenseitigen Vorwürfe und der unauflösbaren Gegensätze schien endlos, lange schon bevor beide Seiten in dem gegenwärtigen Strudel aus Gewalt und Vergeltung versanken.
Innerhalb von einhundert Tagen werde er Ruhe und Sicherheit wiederherstellen, versprach der für seine rabiaten Methoden bekannte ehemalige General Scharon bei seinem Amtsantritt vor zwei Jahren. Doch weder die wochenlange Besetzung und Bombardierung palästinensischer Städte noch die gezielte Tötung einzelner Drahtzieher hat Israel diesem Ziel näher gebracht. Am sechsten Januar starben dreiundzwanzig Menschen bei einem Bombenanschlag in Tel Aviv. Scharons Popularität hat das so wenig geschadet wie Parteispendenaffären und die Verstrickung seiner Söhne in undurchsichtige Immobiliengeschäfte. In der Wahlkampagne seiner Likud-Partei gibt es nur einen Slogan: Die Nation will Scharon.
Er ist eine Führernatur. Er hat die Gabe, die seltene Gabe, die unerklärlich ist – Charisma, die Fähigkeit, Verehrung zu erzeugen. Lange bevor er in die Politik ging, haben seine Soldaten schon ein Lied gesungen mit den Worten: Arik, König von Israel.
Der israelische Publizist und Friedensaktivist Uri Avnery hat Ariel Scharons Karriere seit mehr als vierzig Jahren beobachtet – ein Weg über atemberaubende Höhen und Tiefen. Einst hochdekorierter und von seinen Truppen verehrter General, verurteilte ihn eine israelische Untersuchungskommission nach dem Libanonkrieg von 1982 als moralisch Verantwortlichen für die Massaker in den Flüchtlingslagern von Sabra und Shatila. Sharon musste als Verteidigungsminister zurücktreten. Über Jahrzehnte galt er als unbeirrbarer Gegner jedes Kompromisses mit den Palästinensern. Heute jedoch glauben seine Anhänger, dass allein Scharon den Weg zum Frieden öffnen kann. Gewaltige, geschichtsträchtige Taten erwartet die Studentin Hilla, Wahlkampfhelferin in der Tel Aviver Zentrale der Likudpartei, von ihrem Idol.
Mit dieser Einstellung – wir wollen Frieden, es gibt aber keinen Frieden, man kann mit den Arabern doch keinen Frieden machen, die Araber wollen uns umbringen, die Araber wollen uns ins Meer werfen – sehnt man sich nach einem starken Führer. Man sehnt sich eigentlich nach einem israelischen De Gaulle – was man wirklich will, ist ein starker Führer, der aber Frieden machen kann, gerade weil er so ein starker Führer ist. Und Arik Scharon paßt genau dazu.
Immer wieder habe Scharon seine Bereitschaft zu "schmerzhaften Konzessionen” bekundet, betonen seine Anhänger. Sogar einem palästinensischen Staat werde er zustimmen, wenn nur die Terrorkampagne endlich beendet werde. Scharons Gegner glauben dagegen, er wolle die Palästinenser in drei bis vier isolierten, nur formell unabhängigen Enklaven zusammenpferchen und den Rest der besetzten Gebiete jüdischen Siedlern überlassen.
Busfahren in Israel – ein Nervenkitzel der besonderen Art. Am Sonntagmorgen, dem israelischen Wochenanfang, verlassen die Überlandbusse die Küstenmetropole Tel Aviv voll besetzt mit Wehrpflichtigen und Reservisten auf dem Weg zu ihren Einheiten – ideale Ziele für palästinensische Attentäter. Arabische Zeitungen, muslimische Kopftücher und arabische Gespräche ziehen misstrauische Blicke der Uniformierten auf sich.
Am östlichen Rand der israelischen Küstenebene inmitten sattgrüner Felder und Olivenhaine, liegt das Kibbutz Metzer – nur wenige hundert Meter von den besetzten Gebieten entfernt. Seit ihrer Ankunft in den Fünfziger Jahren haben sich die aus Argentinien eingewanderten Kibbutzbewohner um gute Beziehungen zu ihren neuen Nachbarn bemüht. Gemeinsam mit den Bewohnern eines benachbarten Dorfes in der Westbank versuchen sie, die Zerstörung arabischer Olivenhaine durch den von der Regierung Scharon vorangetriebenen Bau eines Sicherheitsstreifens zu verhindern. Doch im vergangen November holte die bittere Realität des Konflikts auch diese Insel des guten Willens ein: Ein Palästinenser aus der Westbankstadt Tulkarem erschoss zwei Kleinkinder und ihre Mutter aus nächster Nähe, anschließend eine weitere Frau sowie den Sekretär des Kibbutz. Seinen Posten hat nun der Ingenieur Dov Avital eingenommen. Trotz der grausamen Tat hält er Verständigung nach wie vor für den einzig gangbaren Weg.
Ich muss eine klare Unterscheidung machen zwischen denen, die für diese Morde verantwortlich sind, und allen anderen, die damit nichts zu tun haben. Wenn wir uns der Herde derer anschließen, die nur Rache und Vergeltung verstehen, dann haben diese Killer gewonnen. Wir werden ganz einfach hier zusammenleben müssen, und zwar für immer, und wenn wir nicht irgendwann lernen zusammenzuleben, dann werden wir uns immer weiter gegenseitig umbringen. Es gibt auf beiden Seiten Leute, die sich eine Welt vorstellen, in der die andere Seite einfach nicht existiert. Aber sie werden uns nicht ins Meer werfen und wir sie nicht die Wüste, und niemand wird einfach verschwinden. Solange wir die Westbank kontrollieren, gibt es keine Lösung. Eine klare Trennung zwischen uns und den Palästinensern bedeutet, dass auch die Siedlungen verschwinden müssen, jedenfalls die meisten. Falls irgend jemand glaubt, wir könnten auf beiden Seiten sein und die Westbank in ein großes Gefängnis für die Palästinenser verwandeln, dann wird er sich gewaltig täuschen.
Wie die meisten anderen Kibbutze hat auch Metzer neben dem landwirtschaftlichen längst ein industrielles Standbein aufgebaut. Bewässerungssysteme aus dem Kibbutz, perfektioniert für die Landwirtschaft in wasserarmen Gegenden, werden heute in alle Welt exportiert. In den Werkhallen der Fabriken von Metzer besetzen Araber mit israelischer Staatsangehörigkeit leitende Positionen – eine Seltenheit in Israel, dessen jüdische Bevölkerung ihre arabischen Mitbürger seit dem Beginn der Intifada wieder als gefährliche fünfte Kolonne betrachtet.
Über den Hügeln von Haifa lebt die Mehrheit der arabischen Bevölkerung Israels - Palästinenser, die bei der Staatsgründung vor fünfzig Jahren im Lande bleiben konnten, die israelische Staatsbürgerschaft und das Wahlrecht erhielten. Heute stellen sie knapp ein Sechstel der israelischen Wähler. Schon Yitzhak Rabin konnte die Verträge von Oslo nur mit der Unterstützung arabischer Wähler und Parteien durchsetzen. Arabische Stimmen ermöglichten 1999 den fulminanten Sieg Ehud Baraks über Benjamin Netanyahu, ihr nahezu geschlossener Boykott ermöglichte zwei Jahre später den Triumph Scharons. Asad Ranem, Dozent für Politologie an der Universität von Haifa und Direktor einer Vereinigung für jüdisch-arabische Verständigung in der Kleinstadt Tamra in Galiläa:
In Israel gilt die folgende politische Gleichung: Die Linke kann nicht ohne die Stimmen der Araber an die Macht gelangen und die Rechte nicht ohne die Religiösen. Aber in den letzten Jahren haben die arabischen Wähler mehr und mehr den Glauben an die israelischen Linksparteien verloren, besonders an die Arbeitspartei. Unter der Regierung Barak wurden dreizehn arabische Bürger bei Demonstrationen getötet, und schon Rabin hat die arabischen Parteien nur benutzt, um an die Macht zu kommen – die Situation hat sich ein wenig verbessert, aber von wirklicher Gleichberechtigung war auch bei ihm nie die Rede. Und von all dem beschlagnahmten Land aus arabischem Besitz wurde nichts zurückgegeben, obwohl das meiste von den Israelis noch immer nicht genutzt wird.
Wer arabische Siedlungen wie Tamra, Kabul oder Ibellin besuchen will, braucht weniger Mut als Geduld: Alle drei bis vier Stunden fahren Busse die rund zwanzig Kilometer von Haifa gelegenen Dörfer an – zum Kibbutz Metzer gibt es jede halbe Stunde eine Verbindung. Der Unterschied hat Methode: über Jahrzehnte haben arabische Kommunen, Schulen und Sozialeinrichtungen nur einen Bruchteil der Mittel erhalten, die auf jüdische Gemeinden verwendet wurden. Das Gefühl, im jüdischen Staat Israel Bürger zweiter Klasse zu sein, unterminiert die Glaubwürdigkeit der israelischen Demokratie bei den arabischen Wählern. In den Dörfern von Galiläa drohen den israelischen Linksparteien und ihren arabischen Verbündeten Stimmen verloren zu gehen, die für eine Mehrheit links des Likud unverzichtbar sind.
Jedem politisch denkenden Araber ist klar, dass unsere Situation nicht aus der Knesset heraus verändert werden kann. Dort sitzen 120 Abgeordnete, 10 Araber und 110 Juden. Diese 110 jüdischen Abgeordneten stehen geradezu automatisch gegen die Araber zusammen. Alle jüdischen Parteien, auch Linksparteien wie Meretz, sind sich einig, dass Israel ein jüdischer Staat sein soll und dass wir Araber keinen Anspruch auf wirkliche Gleichberechtigung haben. Ich gehe davon aus, dass ein großer Teil der arabischen Wähler diese Wahlen boykottieren wird.
Kaum besser als seine arabischen Bürger behandelte der von der Arbeitspartei kontrollierte israelische Staat über lange Jahre jüdische Einwanderer aus orientalischen Ländern, die Mizrahim. In den Siebziger Jahren machte sich Menachem Begin die Verbitterung der Mizrahim zunutze und mobilisierte sie für den Likud. So wurde die Arbeitspartei zum ersten Mal seit der Staatsgründung abgewählt, der Likud stellte die neue Regierung. In den Neunziger Jahren erzielte die Shas-Partei mit religiösen Parolen spektakuläre Erfolge unter den Mizrahim. Der Politologe Yoav Peled über die Verbindungen zwischen sozialer Position, ethnischem Hintergrund und der Einstellung zum Friedensprozeß:
Unsere Gesellschaft ist noch immer durch eine tiefe ethnische Kluft gespalten. Ursache ist die tiefe Verbitterung über die Unterdrückung und Ausbeutung dieser Einwanderer aus den muslimischen Ländern in den fünfziger Jahren, als der Staat von der Arbeitspartei kontrolliert wurde. Jetzt sind es die Kinder und Enkel dieser Menschen, die am unteren Ende der sozialen Leiter stehen – die Palästinenser stehen natürlich noch tiefer - während die europäische Juden, die Aschkenasim, die Mittel- und Oberschicht stellen. Die Arbeitspartei repräsentiert genau diesen Teil der Gesellschaft, und sie hat den Oslo-Prozess begonnen, um im Prozess der Globalisierung auf der Seite der Gewinner zu stehen – denn nur wenn Frieden herrscht, kann Israel sich erfolgreich in diesen Prozess integrieren.
Der Friedensprozeß hat Israel in den Neunziger Jahren einen beachtlichen Aufschwung beschert. Bisher verschlossene Märkte öffneten sich, ausländisches Kapital strömte ins Land, die Wirtschaftsleistung wuchs dramatisch. Doch schon in den Zeiten des Booms wurden die Früchte des Friedens höchst ungleich verteilt: Die Privatisierung von Staatsbetrieben, Kürzungen im Sozialbereich und der Zustrom billiger Arbeitskräfte aus Afrika, Fernost und Osteuropa trafen die schwächeren Schichten der Bevölkerung hart. In den letzten zwei Jahren haben die neue Intifada und die internationale Konjunkturflaute die israelische Wirtschaft in eine tiefe Krise gestürzt, Arbeitslosigkeit und Armut verschärft. Mehr als ein Drittel aller Israelis lebt heute unterhalb der offiziellen Armutsgrenze. Das soziale Klima wird rauher.
Natürlich ist es eine Erscheinung, die nicht nur Israel eigen ist, dass arme Leute, die nichts haben, die gedemütigt werden, die kein Selbstvertrauen haben, einen Führer brauchen und einen radikalen Nationalismus brauchen, um sich selbst für vollwertig zu halten. Diese armen Schichten des herrschenden Volkes sind immer die, die Minderheiten und andere Völker hassen und verachten und die das brauchen, um irgendwie einen Selbstrespekt zu haben. Ariel Scharon ist der vollkommene Führer für diese Massen.
Zwischen säkularen und religiösen, russischen und arabischen, askenasischen und Mizrahim-Parteien wird der voraussichtliche Wahlsieger Ariel Scharon am 29. Januar vor einem schwierigen Stück Arithmetik stehen. Seiner eigenen Likud-Partei werden wenig mehr als die Hälfte der einundsechzig Sitze vorhergesagt, die für eine Mehrheit im Parlament erforderlich sind. Herausforderer Amram Mitzna hat seine Arbeitspartei mit viel Medienaufwand gegen eine große Koalition unter Scharon eingeschworen. Die religiöse Shas und die kompromisslos säkulare Shinui-Partei, insgesamt für etwa dreißig Sitze gut, bekämpfen sich unerbittlich und lehnen jede Zusammenarbeit kategorisch ab. Willige Bündnispartner wird Scharon allein am äußersten rechten Rand des politischen Spektrums finden.
Wenn die Arbeitspartei ihren Charakter beweisen will und nicht in eine Einheitsregierung eintreten wird, dann wird Scharon darauf angewiesen sein, eine Regierung aufzustellen, in der er total auf die rechtsradikalsten Elemente angewiesen sein wird – Leute, gegen die Le Pen und Haider Waisenknaben sind. Es sei denn, dass die Arbeitspartei eine solche Niederlage erleiden wird, dass sie Mitzna herauswerfen und die alten Kumpane, die sich nur sehr ungern von ihren Sesseln getrennt haben, wieder zu Scharon zurücklaufen. Und er zählt darauf, er ist vollkommen sicher, dass er nach der Wahl die Minister der Arbeitspartei bestechen kann, wieder in die Regierung zurückzukehren.
Wie immer die Intrigen und Winkelzüge in den Hinterzimmern der Parteienzentralen ausgehen mögen – die wahren Herausforderungen stehen dem alten und neuen Ministerpräsidenten erst noch bevor. Kompromissvorschläge aus vergangenen Verhandlungsrunden liegen noch immer in den Schubladen europäischer und amerikanischer Vermittler. Die Arabische Liga hat Israel einstimmig Frieden und gutnachbarliche Beziehungen gegen einen Rückzug auf die Grenzen von 1967 angeboten, und die Mehrheit der Palästinenser ist durch die endlose Gewalt mindestens ebenso zermürbt wie ihre israelischen Nachbarn. Nach dem Ende der Krise im Irak wird auch Washington sich wieder dem ältesten und wohl gefährlichsten Konflikt in der Region zuwenden. Dann erst wird Ariel Scharon beweisen müssen, ob er die Hoffnungen seiner Wähler erfüllen und die Chance zum Frieden ergreifen kann.