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Zwischen Krieg und Frieden

Im Februar 1999 ergriffen türkische Agenten in Nairobi den kurdischen Rebellenchef Abdullah Öcalan, der seither auf einer Gefängnisinsel im Marmara-Meer inhaftiert ist. Damit sei die aufständische Arbeiterpartei Kurdistans PKK erledigt und der blutige Kurdenkonflikt in Südostanatolien nach 15 Jahren und 40.000 Toten endlich vorbei, frohlockte die türkische Führung damals. Was ist in den zehn Jahren seither geschehen?

Von Susanne Güsten. Redakteurin am Mikrofon: Barbara Schmidt-Mattern | 14.02.2009
    Die PKK hat ihre Truppen aus der Türkei abgezogen - und aus Nordirak einen neuen Krieg gegen die Türkei begonnen. Der Ausnahmezustand wurde aufgehoben - doch die Freiheit will sich nicht einstellen. Die Kurden haben mehr kulturelle Rechte bekommen - und fühlen sich stärker ausgegrenzt und diskriminiert als je zuvor. Zehn Jahre danach: eine Zwischenbilanz des Kurdenkonflikts in der Türkei.


    Nairobi im Februar 1999: Türkische Agenten fassen den kurdischen Rebellen-Chef Abdullah Öcalan. Am 15. Februar, also morgen, jährt sich die Festnahme genau zum zehnten Mal. Doch Frieden ist nicht eingekehrt in Südostanatolien. Die Arbeiterpartei Kurdistans, kurz PKK, versteckt in gut geschützten Stellungen, im benachbarten Nordirak, wie ehedem ihre Kämpfer und Waffen. Die Kurden haben heute zwar mehr kulturelle Rechte als vor zehn Jahren, doch als Minderheit in der Türkei fühlen sie sich stärker diskriminiert als je zuvor. Symbolhaft für viele Kurden ist der Umgang des türkischen Staates mit PKK-Chef Abdullah Öcalan. Er sitzt ein, in Isolationshaft auf einer Gefängnisinsel im Marmara-Meer. Seit Jahren arbeitet ein halbes Dutzend Rechtsanwälte ständig und fast ausschließlich für Öcalan. Wer sie bezahlt, ist unklar - es könnte die PKK selbst sein oder auch ihre Sympathisanten - aber keiner der Anwälte äußert sich dazu. Über mangelnde Arbeit können die Juristen sich nicht beschweren: Serienweise richtet ihr Mandant Klagen an den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof. Es sind Beschwerden gegen seine Haftbedingungen und gegen die - so heißt es - Drangsalierung seiner Anwälte. Eine ganz auf den Fall Öcalan abgestellte Kanzlei koordiniert zudem die Arbeit von fast 200 kurdischen Anwälten, die sich aus der gesamten Türkei freiwillig gemeldet haben, um Öcalan zu vertreten. Sie alle tragen ihre Reise- und sonstigen Kosten selbst. Überhaupt ist ein Treffen mit Abdullah Öcalan für seine Anwälte ein mühseliges Unterfangen.


    Öcalans Anwälte
    Fünf Uhr morgens am Taksim in Istanbul - um diese Uhrzeit ist es selbst hier auf dem zentralen Platz der sonst so quirligen Millionenstadt noch still. Nur ein Auto wartet mit laufendem Motor, bis der letzte Passagier eingestiegen ist und einen verschlafenen Gruß gemurmelt hat.

    Die Rechtsanwälte von PKK-Chef Abdullah Öcalan sind es, die wie jeden Mittwoch früh zu ihrem wöchentlichen Besuchstermin auf der Gefängnisinsel Imrali aufbrechen. Zwei Anwälte aus Istanbul sind heute dabei und einer aus dem südwesttürkischen Denizli - das ändert sich jede Woche, denn insgesamt wechseln sich fast 200 kurdische Rechtsanwälte aus der ganzen Türkei mit den Besuchen auf der Insel ab. Anwalt Aydin Oruc ist stolz darauf, dass Öcalan in zehn Jahren noch kein einziges Mal vergeblich gewartet hat:

    "Jede Woche fährt jemand hin, zu jedem Termin. Und wenn der Besuchstermin wieder mal verschoben wird von den Behörden, dann fahren wir eben noch mal."

    Denn ob die Anwälte am Besuchstag auch tatsächlich auf die Insel übersetzen können, das hängt immer auch vom Wetter ab. Die Unterhaltung im Auto dreht sich deshalb um Windstärken und Wellengang.

    "Das Meer war gestern ziemlich bewegt.

    Bis Windstärke vier lassen sie uns meist fahren. Ab Windstärke 5 wird es kritisch, obwohl man es nie weiß bei denen."

    Die Rede ist vom Militär, das Öcalan bewacht und die Überfahrt zur Insel kontrolliert. Ob es klappt mit dem Besuchstermin, das erfahren die Anwälte immer erst bei Ankunft in dem Hafenstädtchen Gemlik am südlichen Ufer des Marmara-Meers.

    Bis Gemlik ist es aber noch ein weiter Weg. Unter tiefschwarzem Nachthimmel saust der Renault des Anwaltsteams über die erleuchtete Bosporusbrücke auf die asiatische Seite von Istanbul und windet sich durch das verworrene Netz von Stadtautobahnen seinen Weg aus der Metropole hinaus zum Marmara-Meer. Unterwegs erzählt Anwalt Ömer Günes von dem Gefängnisregime auf der Insel Imrali, wo Abdullah Öcalan von eintausend Soldaten bewacht wird:

    "Imrali untersteht nicht dem Justizministerium, sondern dem Krisenzentrum des Ministerpräsidentenamtes. Es ist das einzige Gefängnis der Welt, in dem nur ein einziger Gefangener lebt. Man kann Imrali mit Guantanamo vergleichen, nur dass es durch die Einzelhaft und Isolation noch härter ist."

    Seinem Mandanten würden fast alle Rechte normaler Häftlinge verweigert, sagt Günes, darunter Telefongespräche, Fernsehen und teils auch Radio; seine Zeitung werde vom Zensor zerschnitten. Dazu käme immer wieder Zellenarrest, während dem er nur die Wand anstarren könne. Trotzdem sei Öcalan auch nach zehn Jahren auf Imrali kein gebrochener Mann:

    "Wenn wir ihn besuchen, ist seine geistige Verfassung immer gut. Er hat an Energie und Entschlossenheit nichts verloren in all den Jahren, trotz dieser Einschränkungen. Er ist eben eine starke Persönlichkeit. So wird der Staat ihn nicht unterkriegen können."

    Noch immer ist es dunkel draußen, der Renault erreicht das erste Etappenziel: den Fährhafen am Golf von Izmit, den die Anwälte auf ihrem Weg nach Gemlik überqueren müssen.

    Auf der Autofähre steigen die Anwälte aus dem Wagen, um sich an Deck die Beine zu vertreten. Ömer Günes überlegt, wie oft er die Überfahrt schon gemacht hat:

    "Ganz genau weiß ich es jetzt nicht, aber zu ungefähr 60 Besuchsterminen bin ich schon gefahren, vielleicht auch etwas mehr."

    Ein Sichelmond leuchtet am Himmel, die Fähre sticht in See. Auf der Überfahrt erzählt Günes, was die Anwälte in Gemlik erwartet:

    "Zunächst werden wir bei der Gendarmerie-Kommandantur durchsucht: mit Metalldetektoren, mit Sprengstoffsuchgeräten und mit Leibesvisitationen. Dann werden wir von Soldaten zum Hafen eskortiert und eingeschifft. Dreizehn solche Untersuchungen durchlaufen wir an einem Besuchstag: neun auf dem Hinweg zur Insel und vier auf dem Rückweg."

    Alle persönlichen Gegenstände werden den Anwälten für die Dauer des Besuchs abgenommen, auch Armbanduhren, Eheringe und Brillen. Das geschehe nicht nur aus Sicherheitsgründen, glaubt der Brillenträger Günes:

    "So wie Herr Öcalan in Isolation gehalten wird, so versucht der Staat auch uns Anwälte zu isolieren und zu drangsalieren, auch juristisch - ständig werden Strafverfahren gegen uns eröffnet. Dass wir als Anwälte unabhängig arbeiten müssen, dass wir auch einen Dienst für das Gemeinwesen leisten, dafür gibt es in der Türkei leider kein Verständnis."

    Mehr als einmal sind die Anwälte in Gemlik schon von einem lynchenden Mob erwartet worden, einmal sind sie nur mit knapper Not und zertrümmerten Autoscheiben entkommen. Alleine gegen Günes laufen derzeit sechs Strafprozesse und 20 Ermittlungsverfahren: eines davon weil er öffentlich "Herr" Öcalan sagt, wenn er von seinem Mandanten spricht - das wird als Verherrlichung einer kriminellen Organisation geahndet.

    Der Morgen dämmert über dem Marmara-Meer, als die Fähre bei Yalova am südlichen Ufer des Marmara-Meers anlegt.

    Eine letzte Fahrtstunde über eine Bergkette liegt jetzt noch vor den Anwälten, bis sie das Hafenstädtchen Gemlik erreichen. Beim anbrechenden Tageslicht überfliegen sie die Zeitungen, die sie in Yalova gekauft haben, um Öcalan die allerneuesten Nachrichten überbringen zu können - denn der nehme auch nach zehn Jahren noch regen Anteil am Weltgeschehen, sagt Günes:

    "Während des einstündigen Besuches spricht er immer sehr schnell. Er versucht ein anderthalb- oder zweistündiges Gespräch in dieser einen Stunde unterzubringen. Er spricht vor allem über die Probleme der Kurden und kaum über persönliche Dinge. Über gesellschaftliche Probleme redet er mit großer Begeisterung."

    Was Öcalan da so erzählt, das ist am nächsten Tag stets in allen PKK-nahen Medien nachzulesen - von weltpolitischen Verschwörungstheorien bis hin zu konkreten Anweisungen an die Kurdenbewegung. Um das Leck zu schließen, konfiszieren die Justizbehörden seit einigen Jahren alle Notizen der Anwälte - allerdings ohne sichtbaren Effekt: Die Mitschriften finden weiterhin zuverlässig ihren Weg in die einschlägigen Medien. Anwalt Günes gibt sich bedeckt:

    "Zu der Frage, ob wir diese Informationen weitergeben oder nicht, kann ich nicht viel sagen, weil gegen uns ermittelt wird. Deshalb sage ich lieber nichts dazu."

    Es wäre nicht der erste Prozess in dieser Frage - erst im Dezember ist Günes vom Vorwurf des Amtsmissbrauchs freigesprochen worden, weil ihm die Weitergabe der Informationen nicht nachgewiesen werden konnte. Weitere Ermittlungen sind im Gange.

    "Die Vorwürfe lauten meist auf Unterstützung einer terroristischen Vereinigung, auf Beihilfe oder auf Mitgliedschaft. Wir weisen das natürlich zurück. () Wir sagen erstens, dass unsere Notizen ja von den Justizbehörden beschlagnahmt werden und wir sie schon deshalb nicht an die Presse weitergeben können. Wir sagen zweitens, dass es keine Straftat wäre, wenn wir sie weitergeben würden. Und drittens sagen wir, dass wir es nicht getan haben und es keine Beweise dafür gibt."

    Eine ganze Reihe von Anwälten ist trotzdem schon verurteilt worden und hat nun Besuchssperre - dennoch finden sich immer neue Anwärter auf das Mandat.

    Ein letzter Stopp wird noch eingelegt vor Gemlik: eine Frühstückspause an einer Raststätte. Hier gilt es für die Anwälte gut zuzugreifen, denn bis zum Abend gibt es nichts mehr zu essen. Insgesamt fünf Stunden dauert die Überfahrt zur Insel und zurück, eine Stunde das Gespräch mit Öcalan und mehrere Stunden die Durchsuchungen und Wartezeiten in Gemlik. Mitternacht wird es sein, bis die Männer wieder in Istanbul sind - wenn alles gut geht und sie nicht gleich nach Istanbul zurückgeschickt werden, um ihr Glück morgen wieder zu versuchen. Besorgt blicken die Anwälte aus dem Fenster und versuchen, die Windstärke zu deuten.

    Pünktlich um halb neun parkt der Renault vor der Kommandantur in Gemlik. Gespannt warten die Männer im Wagen auf das entscheidende Signal der Soldaten, das schließlich kommt.

    Die Überfahrt ist genehmigt, die Anwälte raffen ihre Papiere und Mäntel. Abdullah Öcalan bekommt heute Besuch.

    Zwei Männer, zwei Kämpfer, zwei Gegner: Der eine ein Kurde, der andere ein Türke. Mit scheinbarer Nüchternheit schildert der Schriftsteller Ahmet Ümit in seiner Kurzgeschichte "Der Spielkamerad" die Begegnung dieser beiden Männer. Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive des türkischen Armee-Hauptmanns. Er und der PKK-Kämpfer jagen einander in den anatolischen Bergen, im Südosten der Türkei. Mit jedem Hinterhalt und jedem getöteten Kameraden wächst der Hass auf beiden Seiten, aber auch die gegenseitige Neugier. Wie ähnlich sich die Gegner sind, bemerken sie erst, als es zu spät ist.

    Die Hoffnung der Kurden auf einen eigenen Staat ist fast 90 Jahre alt: Sie geht zurück auf den Friedensvertrag von Sèvres von 1920. Darin wurde den Kurden ausdrücklich das Recht auf einen eigenen Staat zugestanden - nur trat dieser Vertrag nie in Kraft. Stattdessen wurde 1923 die türkische Republik gegründet, mit dem Ziel, einen einheitlichen homogenen Staat zu schaffen. Mit der ethnischen Vielfalt des untergegangenen Osmanischen Reiches wollte die junge Republik nichts mehr zu tun haben. Kurden und andere Minderheiten galten fortan als Bürger zweiter Klasse. Diese Politik der "Türkisierung", die mit der Republikgründung begann, löste in den folgenden Jahrzehnten nach 1923 mehr als ein Dutzend kurdischer Aufstände aus. Als Reaktion darauf überließen die wechselnden Regierungen in Ankara den Südosten Anatoliens einfach sich selbst: Wirtschaft, Infrastruktur, Bildung - in keinen dieser Bereiche wurde investiert: Der Südosten wurde zum Armenhaus der Türkei. Erst seit einigen Jahren gibt es auf Drängen der Europäischen Union zaghafte Versuche, die Region aufzupäppeln. Wie ernst es der Regierung damit wirklich ist, darüber gehen die Meinungen in der Türkei auseinander. Immerhin sind in den letzten Jahren 50 tausend Sozialwohnungen im Südosten gebaut worden. Und bis zu 15 Milliarden Dollar will die Regierung Erdogan in das so genannte "Südostanatolien-Projekt" stecken, um die Wirtschaft anzukurbeln. Doch viele Kurden sind skeptisch, denn sie kennen seit ihrer Geburt nur Armut und Arbeitslosigkeit.

    Öcalans Anhänger
    Ein Teehaus in Diyarbakir - eines von fast zweitausend Teehäusern in dieser Millionenstadt, wo die Arbeitslosigkeit über 60 Prozent liegt. Ein paar Kurusch kostet das Glas Tee, dafür können die Männer den ganzen Tag im halbwegs beheizten Raum unter nackten Glühbirnen zusammensitzen und die Zeit totschlagen.

    Von morgens bis abends klackern die Spielsteine in endlosen Runden von Okey - einem Teehaus-Spiel, das wegen der quadratischen Steinchen von weitem aussieht wie Scrabble, in den Regeln aber eher Romme ähnelt. Der Zigarettenrauch hängt in dichten Schwaden darüber. Dabei wird pausenlos geschwatzt und diskutiert - doch die Unterhaltung stockt, wenn ein Fremder das Teehaus betritt.

    Vollends verstummen die Männer, wenn sie nach ihrer Meinung zu PKK-Chef Abdullah Öcalan gefragt werden. Einer nach dem anderen schüttelt stumm den Kopf, legt den Finger auf die Lippen oder bittet entschuldigend um Verständnis:

    "Es gibt viel zu sagen zu diesem Thema, aber wir können es nicht sagen. Da kommt sonst noch was nach für uns, wir müssen schließlich auch an morgen denken.

    Die Leute haben Angst, offen zu sprechen und die Wahrheit zu sagen. Sie können aus Angst nichts sagen. Du weißt nie, wer dir zuhört, und die Polizei holt nicht nur Verbrecher ab."

    Erst die Fürsprache eines kurdischen Begleiters lässt die Männer etwas aufatmen, im Laufe der Unterhaltung taut die Runde langsam auf. Was auf der Gefängnisinsel Imrali passiert, beschäftige die Menschen hier sehr, sagt ein Mann, ein Markthändler von etwa 40 Jahren:

    "Mit Imrali macht der Staat einen Fehler. Abdullah Öcalan sollte zumindest in ein normales Gefängnis verlegt werden, wo er mit anderen Gefangenen zusammen sein kann. Es ist nicht richtig, ihn ganz alleine einzusperren. Der Staat sollte nicht vergessen, dass hinter dem Mann eine gewaltige Kraft steht. Wenn ihm nur der kleinste Kratzer zugefügt wird, dann gibt es hier einen riesigen Aufstand. Das kann keiner mehr kontrollieren."

    Dass die Nachrichten von der Gefängnisinsel hier intensiv verfolgt werden, ist deutlich. Über jedes Detail von Öcalans Klagen wissen die Männer Bescheid - von dem unfreiwilligen Haarschnitt, über den er sich unlängst bei seinen Anwälten beschwert hat, bis hin zum jüngsten Zellenarrest. Ein junger Arbeitsloser redet sich über die Kontaktsperre in Rage:

    "Gefoltert wird er, wie oft ist er schon in Zellenhaft gesteckt worden. Ein Wort reicht, und er wird einen Monat lang in Zellenhaft gesteckt. Warum? Um ihn zum Schweigen zu bringen."

    Sein Nachbar nickt den Kopf und stimmt ihm zu:

    "Und dann dauernd die Scherereien um die Besuche der Rechtsanwälte, wo immer die Wetterbedingungen schlecht gewesen sein sollen oder das Schiff kaputt, alles damit sie nicht zu ihm können."

    Dass Öcalan nicht nur rechtskräftig verurteilt ist für den Tod vieler unschuldiger Menschen, sondern sich auch selbst zu dieser Schuld bekannt hat, kann den Jugendlichen nicht beirren:

    "Sie nennen ihn einen Terroristenchef, aber das interessiert hier im Südosten niemanden. Die PKK ist eine Realität in der Türkei, in Syrien, in Irak, und alle Kurden dort sehen in Öcalan ihren Führer."

    Eine neue Runde heißer Teegläser wird aufgetragen, der Zucker verrührt. Ein bärtiger Mann setzt sich mit seinem Glas vom Nebentisch herüber und versucht zu erklären, warum Öcalan hierzulande noch immer so geachtet ist:

    "Früher, noch 1980, durfte man auf der Straße nicht Kurdisch sprechen, das war verboten. Dann kam die PKK und ihr Kampf, und erst dann haben sie die kurdische Sprache freigegeben. Das reicht unserem Volk heute nicht mehr. Aber selbst das hätten sie uns nie zugestanden ohne die PKK."

    Kopfnicken in der Runde und an den umliegenden Tischen, wo inzwischen die Stühle zurückgeschoben sind und die Unterhaltung mit großer Anteilnahme verfolgt wird. Eine Minderheitsmeinung ist es in den Teehäusern von Diyarbakir ganz offenkundig nicht, die der junge Mann da formuliert:

    "Er ist unser Führer, wir werden ihn nie vergessen. Er ist der Vorsitzende der Kurden. Wenn wir Kurden heute unter einigermaßen normalen Bedingungen leben können, dann haben wir es ihm zu verdanken, und das wissen alle. Ich wünschte, er wäre nicht im Gefängnis!"


    1978 gründete Abdullah Öcalan gemeinsam mit seinen Mitstreitern die PKK - mit Waffengewalt sollte langfristig die Gründung eines eigenen Kurdenstaates durchgesetzt werden. Als es 1980 zum Militärputsch in der Türkei kommt, verhärten sich die Fronten. 1984 bricht im Südosten des Landes der Bürgerkrieg aus. 4000 kurdische Dörfer hat die türkische Armee allein in den 90er Jahren zerstört. Jahrelang lang war die ganze Region im Ausnahmezustand. Frieden ist bis heute nicht eingekehrt. Mehrfach ist die türkische Armee allein im letzten Jahr in den Nordirak einmarschiert. Von dort aus greift die PKK immer wieder die Türkei an. Die Europäische Union, die seit 2005 Beitrittsgespräche mit der Türkei führt, fordert ein Ende der Kämpfe und mehr Rechte für die Kurden, aber kein Appell aus Brüssel hat bisher wirklich etwas bewirkt. Besonders pervers ist die Situation für kurdische Wehrdienstleistende. Sie können sich dem Dienst nicht entziehen, denn in der Türkei gibt es kein Recht auf Wehrdienst-Verweigerung. Wer gute Beziehungen hat, versucht immerhin, nicht gerade an der Front im Südosten eingesetzt zu werden. Doch den meisten Kurden fehlen diese guten Beziehungen, und so sterben überproportional viele kurdische Wehrdienstleistende im Kampf gegen kurdische Rebellen. Rechnet man deren Opfer noch hinzu, so wird deutlich, dass im Kurdenkonflikt vor allem Kurden sterben. Aber auch viele junge Türken kommen ums Leben. Wie gefährlich der Armeedienst tatsächlich ist, das ist in der Türkei eine Frage der sozialen Herkunft.


    Die Armee - Türkische Veteranen
    Der Verkehr rauscht vorbei am Soldatenfriedhof von Istanbul, wo die Hausfrau Zehra das Grab ihres einzigen Sohnes besucht. Von Schluchzen geschüttelt, hält sich Zehra an dem weißen Marmor des Grabes fest - eines von hunderten solcher Gräber, die hier, mit türkischen Fahnen geschmückt, in Reih und Glied liegen.

    Jeden Tag kommt Zehra zum Soldatenfriedhof, seit ihr Sohn Hasan vor eineinhalb Jahren getötet wurde - gefallen als 22-Jähriger beim Wehrdienst im südostanatolischen Sirnak. Mit einem Zipfel ihres Kopftuches wischt die Mutter die Tränen ab, um von Hasan zu erzählen: Die Schule hatte er abgeschlossen, und er hatte feste Arbeit als Verkäufer. Eine 20-jährige Ehefrau und zwei Kleinkinder hat er hinterlassen - die leben nun alle bei Zehra.

    Vor allem freitags und am Wochenende ist der Soldatenfriedhof von Istanbul voller Mütter wie Zehra, voller gebrochener Väter und Witwen und Halbwaisen, deren Leben durch den Krieg in Südostanatolien zerstört ist. "Endstation Heldenfriedhof" steht auf der Straßenbahn, mit der sie aus den entlegensten Vierteln der Metropole zu den Gräbern kommen.

    Unmittelbar neben dem Soldatenfriedhof unterhält der "Verein der Angehörigen der Gefallenen" sein Hauptquartier. Die Familien von rund 15.000 gefallenen Soldaten und Polizisten gehören dem Verein landesweit an. Trotzdem sind die Vereinsräume ärmlich und eiskalt. Zum Heizen fehle leider das Geld, entschuldigt der Vorsitzende Mehmet Güner die Temperatur im Beratungsraum, die deutlich unter zehn Grad liegt.

    "Wir kratzen mit Benefizveranstaltungen das Geld für die Miete zusammen, aber wir bekommen keine öffentliche Unterstützung. Ich habe versucht, die städtischen Gaswerke zu überzeugen, uns umsonst ans Gas anzuschließen. Ich habe gesagt, seht mal, das ist ein Verein von Menschen, die für unser Land große Opfer gebracht haben, tut doch mal was für die. Aber sie haben abgelehnt."

    Im eisigen Raum empfangen Güner und seine Mitarbeiter deshalb die Angehörigen von gefallenen Soldaten, die bei ihnen Rat und Hilfe suchen - so wie der 24-jährige Yusuf und sein knapp 30-jähriger Cousin. Der Cousin ist auf einem Auge blind und auf einem Ohr taub, seit er als Wehrdienstleistender im Gefecht gegen die PKK schwer verletzt wurde. Eine Hälfte seines Gesichts ist von Brandnarben entstellt, zum Sprechen ist er zu verschüchtert:

    "Nun sprich doch, Vetter, komm, erzähl doch!"

    Schließlich erbarmt sich Yusuf und spricht für seinen Cousin:

    "Wir wollten mal fragen, ob Sie meinem Cousin hier weiterhelfen können, er ist ja Kriegsversehrter, wie Sie sehen. Bei ihm in Erzincan gibt es einen Beamten, der hat Mietbeihilfe gekommen, und nun wollten wir fragen, ob mein Cousin als Kriegsversehrter auch einen Mietzuschuss bekommen kann und wo wir den beantragen können."

    "Er ist kein Beamter, oder?"

    "Nein, kein Beamter. Er ist Kriegsveteran."

    "Dann hat er keinen gesetzlichen Anspruch auf staatliche Mietbeihilfe. Die Mietbeihilfe bekommen nur Staatsbeamte und Offiziere. Also, wenn die im Krieg fallen, dann bekommen ihre Angehörigen vom Staat die Miete bezahlt. Aber für die Truppen gilt das nicht. Für die Wehrpflichtigen, die in dem Konflikt getötet oder verstümmelt werden, zahlt der Staat den Angehörigen keine Mietbeihilfe."

    Wie oft er diese bittere Auskunft schon hat erteilen müssen, das kann Mehmet Güner gar nicht mehr zählen. Denn die meisten gefallenen Soldaten in diesem Krieg - genauer: zwei von drei Gefallenen - sind Wehrpflichtige. Zwischen 20 und 25 liegt das Durchschnittsalter der Gefallenen, sagt der Vorsitzende - und noch eines ist ihm im Lauf der Jahre aufgefallen:

    "Alle Gefallenen stammen aus armen Familien. Kein einziges Kind aus reichem Haus kommt in diesem Krieg ums Leben. Sobald der Sohn einer reichen Familie einberufen wird zum Wehrdienst, sorgen die Angehörigen mit ihren Verbindungen dafür, dass er ihn irgendwo in der Westtürkei ableisten kann. Die sind per Du mit hohen Regierungsbeamten, mit Generälen, Parlamentsabgeordneten und Ministern. Schauen Sie, ich bin seit 10 Jahren Vorsitzender dieses Vereins und ich weiß, wovon ich spreche. Ich habe alle Unterlagen. Es sind ausschließlich die Kinder der Armen, die in diesem Krieg sterben."

    Viel kann der Verein nicht tun für seine unglücklichen Mitglieder. Dem kriegsversehrten Cousin, der seine beiden Kinder zur Schule schicken will, vermittelt Mehmet Güner schließlich immerhin ein privates Stipendium von mildtätigen Mitbürgern. Doch Yusuf hat auch selbst ein Anliegen:

    "Herr Vorsitzender, ich wollte auch was fragen. Mein Vater ist als Soldat gefallen, und ich bekomme von der Armee einfach keine Bescheinigung. Ich bin schon überall gewesen, aber die Militärbehörden sagen, sie könnten die Unterlagen nicht mehr finden. Sogar beim Heeresoberkommando war ich schon in Ankara, aber die haben mich nicht mal angesehen, nicht mal geantwortet haben sie mir. Die müssten uns doch wenigstens antworten, aber keiner antwortet uns, keiner."

    Bekümmert hört ihm der Vereinsvorsitzende zu. Obwohl er ein glühender Nationalist ist, mag Güner dem Jungen da nicht widersprechen. Zu oft hört er solche und ähnlich verzweifelte Klagen von seinen Mitgliedern, den Hinterbliebenen der tausenden an der Front verfeuerten Soldaten. Besonders bitter werden diese Klagen immer dann, wenn in Ankara über eine politische Lösung des Kurdenkonfliktes geredet wird, sagt Güner - wenn wieder eines der sogenannten Rückkehrerprogramme aufgelegt wird, bei denen den PKK-Kämpfern straffreie Rückkehr ins Land und Starthilfen für die Re-Integration ins zivile Leben angeboten werden.

    "Dann sagen unsere Mitglieder: ‚Wären wir doch bloß Terroristen geworden! Denen werden sämtliche Rechte zugesprochen, und unsere Kinder sterben, wir bekommen keinerlei Hilfen. Wir hätten auch Terroristen werden sollen.' Es gibt viele Familien, die so denken."

    Unter allen 81 Provinzen der Türkei hält die Provinz Sirnak in Südost-Anatolien den traurigen Rekord. Seit Ausbruch des bewaffneten Kampfes zwischen der Armee und der PKK im Jahre 1984 hat keine Gegend so viele Soldaten, Polizisten und Milizionäre verloren wie Sirnak. Die entsprechenden Zahlen stammen vom türkischen Verteidigungsministerium. Sirnak ist eine rein kurdische Provinz. Doch nicht alle stehen dort auf der gleichen Seite. Eine Art Gegenstück zur PKK sind die so genannten Dorfschützer - kurdische Milizen, die an der Seite der türkischen Armee gegen die PKK kämpfen. Teils aus Überzeugung, teils aus Überlebensnot haben sich die Dorfschützer auf die Seite des türkischen Staates geschlagen. Viele sind der Miliz beigetreten, weil die PKK zuvor ihre Dörfer überfallen und ganze Familien getötet hat. Die Armee zahlt ihnen nun einen bescheidenden Sold und eröffnet ihnen so einen Ausweg aus der Armut. Der Kampf wird damit zur Existenzgrundlage. Gelegentlich werden deshalb Vorwürfe laut, die Dorfschützer hätten gar kein Interesse daran, dass Frieden einkehrt im Südosten. Wieder sind in letzter Zeit Hinweise aufgetaucht, kurdische Dorfschützer würden sich einspannen lassen, um die Lage im Kurdengebiet am Kochen zu halten.

    Die Dorfschützer von Alatas haben sich weniger aus politischen Gründen auf die Seite der türkischen Armee geschlagen, sondern eher aus Mangel an Alternativen. Die Miliz sichert ihnen ein Einkommen, aber der Frust gegen den türkischen Staat sitzt dennoch tief.

    Kurdischen Milizen
    Eine Schafherde zieht die Landstraße entlang. Sie führt durch die südostanatolische Provinz Mardin über einen Gebirgspass zum Tigris hinunter, und dann weiter zur irakischen Grenze. Sonst regt sich nichts, weder auf der Straße noch ringsum, in der kargen und steinigen Landschaft, die sich bis zu den Bergen erstreckt.

    Da ertönt plötzlich ein Gruß aus der Stille. Wie aus dem Boden gewachsen, steht ein Mann in Tarnuniform und mit Maschinenpistole auf der Schulter an der eben noch menschenleeren Landstraße. Auf Kurdisch beginnt er ein Schwätzchen mit dem Hirten. Hinter ein paar Felsbrocken am Straßenrand kommt nach und nach ein halbes Dutzend weitere bewaffnete Männer hervor, die sich zum Gespräch dazu gesellen. Es sind so genannte "Dorfschützer" - Mitglieder der kurdischen Miliz, die seit Jahrzehnten an der Seite der türkischen Armee gegen die kurdische Rebellengruppe PKK kämpft. Ein junger Milizionär wechselt ins Türkische, um seinen Dienst zu erklären:

    "Wir bewachen diese Straße, denn hier in den Bergen sind überall Terroristen. Wir schützen das Leben der Menschen auf dieser Straße, so wie diesen Hirten hier. Und wir schützen die Erdölpipeline vor Anschlägen, sie verläuft aus dem Irak bis zum Mittelmeer, da, direkt da drüben."

    Ali ist mit jedem einzelnen Mann in seiner Mannschaft verwandt. Alle 24 Stunden ist Ablöse. Mit einem Kleinlaster geht es dann zurück ins Dorf, das etwa zehn Kilometer abseits der Landstraße in den Bergen liegt.

    Ein typisches kurdisches Dorf ist Alatas, das sich an eine abgelegene Bergspitze schmiegt. Ein paar Häuschen aus Felsbrocken und Lehmziegeln, ein paar Dutzend Hühner und viele, viele Kinder. Einer der Milizionäre - er heißt Galip - hat alleine mehr als 30 Kinder.

    Wie viele es genau sind, versuchen seine drei Frauen an den Fingern zusammenzuzählen, während die Nachbarn ins Türkische übersetzen - das können im Dorf nur die Männer.

    "Also, ich habe acht Kinder, und sie hat zwölf und sie hat vierzehn."

    Es entspinnt sich eine Diskussion, ob nur die lebenden Kinder gezählt werden oder auch die toten. Fest steht am Ende nur, dass es mehr als 30 lebende Kinder sind. Einmal im Jahr fährt Galip in die Kreisstadt und meldet die neuesten Babys der drei Frauen als Drillinge der Erstfrau an - das ist seine Art des Entgegenkommens an die Gesetze der Türkischen Republik, die Vielehen verbietet. Ansonsten mischt sich der Staat nicht weiter ein in die Angelegenheiten des Stammes. Dafür kann er sich auf dessen Loyalität verlassen. Der 30jährige Ahmet etwa kämpft schon seit 15 Jahren für die Türkei:

    "Mein Onkel ist 1992 von der PKK getötet worden, da habe ich seine Waffe aufgenommen und mich zur Miliz gemeldet - ich war damals erst 15. Die PKK hatte die Landstraße gesperrt - genau an der Stelle, wo wir uns vorhin getroffen haben - und hat alle Fahrzeuge beschossen, die entlang kamen. Mein Onkel saß in einem zivilen Minibus, einem Sammeltaxi. Mit ihm sind sieben Menschen in dem Minibus gestorben, auch Kinder waren dabei."

    Mit der PKK würden die Menschen in dieser Gegend nur eines verbinden, nämlich Blutvergießen, sagt Ahmet. Deshalb wollten sie nichts wissen von den Rebellen. Alleine sind sie mit dieser Ansicht nicht: Rund 70.000 staatstreue kurdische Milizionäre stehen in Südostanatolien derzeit unter Waffen - das sind mehr Kämpfer, als die PKK jemals gehabt hat. Zusammen mit ihren Angehörigen zählen die Dorfschützer und ihre Sippen mehr als eine Million Menschen. Natürlich gebe es auch andersdenkende Stämme, sagt Ali:

    "Wir haben aber nichts mit ihnen zu tun, wir können ihre Dörfer nicht betreten. Unsere Dörfer hier sind alle bei der Miliz. Dort hinter Idil, die Landstraße hinunter, da gibt es Dörfer, die vielleicht zu den Terroristen halten, mit denen wollen wir nichts zu tun haben. Nur Frauen tauscht unser Stamm mit ihnen aus, also Bräute, das ist unser einziger Kontakt."

    In Idil haben sich erst in den letzten Wochen wieder mehr als tausend Kurden freiwillig zur staatlichen Miliz gemeldet; die Behörden kommen mit der Waffenausgabe kaum nach. Der Run auf die Staatsmiliz hat freilich nicht nur politische Gründe, wie einer der Dorfschützer von Alatas einräumt:

    "Wir sind arm, deshalb sind wir bei der Miliz. Wovon sollten wir sonst leben? Bei der Miliz bekommen wir immerhin die 600 Lira Sold. Sonst gibt es doch keine Arbeit. Wenn du im Dorf den ganzen Tag arbeitest, verdienst du keine zehn Lira. Deshalb müssen wir bei der Miliz sein. Uns bleibt nichts anderes übrig, auch wenn wir vom Staat nicht dazu gezwungen werden."


    Die Kurden sind ein Volk ohne eigenen Staat. In Irak, Iran und Syrien bilden sie jeweils Minderheiten. Die 12 Millionen Kurden, die auf türkischem Staatsgebiet leben, machen immerhin knapp 20 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Von Integration kann jedoch kaum die Rede sein, die große Mehrheit fühlt sich höchstens assimiliert oder diskriminiert, oder beides. Umso überraschender kam für viele die Grußbotschaft, mit der Premierminister Erdogan sich am Neujahrstag an die Kurden wandte, und zwar auf kurdisch. Das wäre vor wenigen Jahren noch unvorstellbar gewesen. Erdogan war es auch, der im Sommer 2005 erstmals zugab, die Türkei habe ein Kurdenproblem. Seitdem hat sich wenig getan. Erst jetzt kommt offenbar wieder Bewegung in die Kurdenpolitik. Die Hochschulbehörde kündigt an, bald kurdische Studiengänge einzuführen; und das Justizministerium bereitet eine Reform vor, um das Kurdisch-Verbot bei Gefangenengesprächen aufzuheben. Viel Aufmerksamkeit bekommt auch das neue Fernseh-Programm von TRT 6, also ein Staatssender, der erstmals ein Vollprogramm auf kurdisch sendet.

    Ein neuer kurdischer Staatssender
    Ses, das heißt sechs auf Kurmanci, der wichtigsten kurdischen Sprache in Ostanatolien. Ses, das ist auch das erste kurdische Wort, das den meisten Türken geläufig geworden ist. Denn der Kanal 6 des türkischen Staatssenders TRT ist es, der seit dem 1. Januar ein kurdischsprachiges Vollprogramm ausstrahlt - er firmiert deshalb folgerichtig als TRT Ses.

    Zum Star des neuen Staatssenders und geradezu zum Symbol dieser Reform ist über Nacht die kurdische Sängerin Rojin geworden, die täglich eine zweistündige Show auf TRT Ses bestreitet - mit Talkshow-Gästen, mit Publikumsbeteiligung und natürlich mit viel Musik von Rojin.

    Als Sängerin ist Rojin bei den türkischen Kurden schon seit vielen Jahren bekannt und beliebt. Ihre Clips und Konzerte liefen bisher bei dem Sender, dem TRT Ses nun die Zuschauer abjagen will: bei dem PKK-nahen Sender Roj-TV, der via Satellit aus Dänemark nach Südostanatolien funkt, wo er von praktisch jedem Haushalt empfangen wird. Rojin passte nicht nur wegen ihrer kurdischen Lieder perfekt zu Roj-TV und dessen Botschaft, sondern auch wegen ihrer leidvollen Erfahrungen mit dem türkischen Staat:

    "In diesem Land unter dem kurdischen Namen Rojin aufzutreten und kurdische Lieder zu singen, war immer sehr schwer. Ich habe Furchtbares durchgemacht. Wegen meines Namens wurde ich einmal zehn Tage lang festgehalten und geprügelt, an den Folgen meiner gebrochenen Nase leide ich bis heute. Meine Konzerte wurden immer wieder verhindert. Wir wollen hier niemanden mit einem solchen Namen singen hören, hieß es immer, wir wollen hier keine Terroristen."

    Dass ausgerechnet Rojin zum neuen Staatssender wechselte, ist für viele Kurden in der Türkei nun eine Sensation. Leicht habe sie sich die Entscheidung nicht gemacht, sagt die Sängerin:

    "Zuerst wollte ich das Angebot nicht annehmen, weil gleich so viele schlimme Erinnerungen hochkamen. Ich traute der Sache natürlich nicht: Wir tun uns alle schwer damit. Aber wir müssen einfach Vertrauen haben! Das ist das größte Problem, das gegenseitige Vertrauen."

    Ihr guter Glaube in die Aufrichtigkeit der türkischen Reform, den Rojin schließlich aufbrachte, wird längst nicht von allen Kurden geteilt. In kurdischen Medien und Internetforen wird die einst so beliebte Sängerin angegriffen und als Verräterin beschimpft. Aufrufe zum Boykott ihrer Musik werden dort ebenso verbreitet wie mehr oder minder offene Drohungen gegen sie. Viele andere kurdische Künstler haben abgelehnt, bei TRT Ses mitzuwirken. Und PKK-Chef Öcalan selbst hat den kurdischen Staatssender in einer seiner Postillen von der Gefängnisinsel als Täuschungsmanöver des türkischen Staats verurteilt. Rojin hat die Courage, dagegen zu halten:

    "Ich habe viel Schweres durchgemacht in diesem Land, aber dies ist doch eine gute Entwicklung. Ob der Sender nun wegen der Europäischen Union eingeführt wurde, wie manche behaupten, oder wegen der bevorstehenden Kommunalwahlen, wie andere argwöhnen: Es ist doch wunderbar, dass wir in unserem Land jetzt in unserer eigene Sprache sprechen und senden können, nach allem, was wir durchgemacht haben. Früher leugneten sie die Existenz unserer Sprache, sie sagten, das sei nur das Geräusch von Schritten im Schnee, sie sagten, es gebe keine Kurden, nur Bergtürken. Jetzt sagt die Türkei 24 Stunden am Tag in ihrem Staatsfernsehen, dass es diese Sprache gibt und dieses Volk gibt - das ist doch schön!"

    Rojin nutzt ihre Show, um heiße Frauenthemen der Region anzuschneiden - von der Vielehe über Genitalverstümmelung bis hin zu so genannten Ehrenmorden. TRT lasse ihr bei diesen Themen freie Hand, sagt sie:

    "Der Sender mischt sich nicht ein, überhaupt nicht. Die Chefredaktion will nur nicht, dass wir politisch werden. Aber ich war ohnehin nie ein politischer Mensch. Ich habe nur kurdische Lieder gesungen - das wurde früher als politische Aktion verstanden."

    Nun singt Rojin ihre kurdischen Lieder im Staatsfernsehen. Ein Vorbild hat sie für ihre Sendung auch:

    "So wie Oprah Winfrey in Amerika, so möchte ich für die kurdischen Frauen und für alle Frauen in diesem Land einen Weg weisen. () Schließlich bin ich in diesem Land ja auch so etwas wie eine schwarze Frau." (lacht)


    Literatur:

    Ahmet Ümit: "Der Spielkamerad" erschienen in: Von Istanbul nach Hakkâri. Eine Rundreise in Geschichten. Hg.: Tevfik Turan. Türkische Bibliothek im Unionsverlag Everest (Türkei), 2005