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Zwischen Kunst und Wissenschaft

"Schreib das auf", lautet der permanente Schlachtruf des Schriftstellers an sich selbst. Die Ausstellung "Notation" widmet sich dem vielfältigen Spektrum der künstlerischen Prozesse zwischen Konzept und Werk. Sie setzt Arbeiten aus allen Bereichen der Kunst von 1900 bis heute zueinander in Beziehung: Zeichensysteme zu Literatur, Musik, Malerei, Choreografie, Architektur, Fotografie, Film und Medienkunst.

Von Christian Gampert |
    Eine Warnung vorweg: Dies ist eine intellektuell gemachte Ausstellung. Sie erzählt einerseits historisch, aber sie stellt vor allem Korrespondenzen her zwischen den einzelnen Künsten, also Malerei, Skulptur, Architektur, Tanz, Musik, Literatur, Fotografie, Film, Medienkunst - unter dem Aspekt der Notation. Die Problemstellung ist: Wenn ich etwas aufzeichne, also etwa Noten für ein Musikstück oder Tanzschritte für ein Ballett, ist das bereits das Kunstwerk? Oder entsteht das nicht erst im Moment der Realisierung, wenn es gespielt und getanzt wird? Sowohl, als auch. Vor allem entsteht das Kunstwerk im Zeitalter seiner (auch mechanischen) Reproduzierbarkeit immer wieder neu und, verwirrender Weise, immer wieder anders - als Original.

    Die Aufnahmen neuer Musik, mit ihren komplizierten Notationen, sind ein gutes Beispiel für Verschiedenheit, für Differenz, und charakteristischerweise gab es bei den Darmstädter Komponisten-Debatten der 50er, 60er Jahre konträre Positionen: Pierre Boulez etwa wollte das Geschriebene aufführen und erkannte nur eine Freiheit des Dirigierens, John Cage sah den Moment der Aufführung selber als das eigentlich kreative Ereignis. In jedem Fall hat sich mit Beginn der Klassischen Moderne unser Verständnis von Kunst völlig verändert, sagt der Kurator Hubertus von Amelunxen im Zentrum für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe. Seine Ausstellung argumentiert aus einer doppelten Perspektive:

    "Einmal die Notation - was wir kennen aus der Musik, die Partituren, Niederschrift des Klanges, des Zeitmediums Klang, um den Ton wiederholen zu können, die musikalische Reproduktion ... Und wir wollten sehen, in welchem Maße die musikalische Reproduktion sich wiederfinden lässt in der Kunst des 20. Jahrhundert - aber zurückgehend, historisch, auf das Medium der Reproduktion überhaupt, die Fotografie."

    Denn die Kunst des 20. Jahrhunderts lässt sich begreifen als Reaktion auf das neue Medium der Fotografie, auf die Reproduzierbarkeit, auf die Dimension der Zeit. Am Schönsten wird das klar bei dem französischen Physiologen Etienne-Jules Maray, der Ende des 19. Jahrhunderts Rauchwolken fotografierte und den Flug der Seemöwe sowie die einzelnen Schwingfiguren dann in einer Bronze-Plastik ineinanderfügte. Dass die künstlerische Arbeit prozesshaft ist, zeigte Mel Bochner 1966 in einer konzeptuellen Arbeit: vier Ordner mit je 100 Fotokopien von Entwürfen, Diagrammen, Grundrissen. Die Starrheit der Zeichen wird aufgelöst in die Möglichkeitsform. Und Allan McCollum demonstrierte 2005, so weit reicht der historische Bogen, mit seinem "Shapes Project", dass man aus einer elliptischen Grundform rein mathematisch 31 Milliarden Varianten herstellen kann - 1440 davon sind ausgestellt.

    Ungefähr so vielfältig ist auch die Ausstellung: Tanz-Notationen aus den 1920er-Jahren von Laban und Mary Whigman, minutiös geführte Regiebücher von Piscator, fotografierte Musteraufführungen von Brecht. Ordnungsschemata von Walter Benjamin für sein Passagen-Werk, Mikrogramme von Robert Walser aus dem "Bleistiftgebiet". Form- und Farb-Kombinatoriken von Paul Klee, in Teile zerlegte Akt-Fotografien von Balthasar Burkhard. Ein Höhepunkt ist das Modell des Philips-Pavillons von Iannis Xenakis für die Weltausstellung 1958: hyperbolische Formen, aus dem Geist der Musik, der Glissandi, entworfen. Edgar Varèse komponierte für diesen Raum dann sein Poème électronique.

    Diese grandiose Ausstellung balanciert zwischen Kunst und Wissenschaft - und nichts ist komplexer als das Kunstwerk, das einerseits ein robuster Tisch sein kann, während eines Gesprächs mit graphischen Notizen bemalt von Joseph Beuys; es kann aber auch ein fluides Etwas sein wie die Sauerstoff-Tabletten, mit denen Peter Weibel 1967 das Wort "Luft" formte und das dann unter Wasser hielt. Sie sprudeln, die Tabletten - und lösen sich auf.