Die Chinesen entdecken Konfuzius neu, Venezuela und Ecuador ihre indianischen Wurzeln, einige Bürger der arabischen und der westlichen Länder die Religion: In einer Welt, die ihr Stresspotenzial in den letzten Jahren deutlich erhöht hat, wächst offenbar das Bedürfnis nach Orientierung. Diesem Bedürfnis bieten sich die Traditionen an; und das heißt, Orientierung sucht man nach wie vor im Eigenen.
Was aber, wenn dieses Eigene immer mehr erwünschte oder unerwünschte "Gesellschaft" durch das Fremde erhält? In den modernen Einwanderungsgesellschaften des Westens sind die Folgen des Zuzugs besonders deutlich zu spüren. Zugleich müssen sich diese Gesellschaften in internationalen Organisationen, etwa der UNO, immer öfters mit den Standpunkten anderer Regionen auseinandersetzen. Das, so der Philosoph Bernhard Waldenfels, bedeutet vor allem eines: Wir müssen uns mit dem Gedanken vertraut machen, dass der Westen seinen Anspruch, eine globale Leitkultur zu sein, nicht länger aufrechterhalten kann.
"'Interkulturalität' verstehe ich als ein Geflecht, das bedeutet: ein Ineinander von Eigenem und Fremden. Wir entdecken vieles Fremde in uns selbst - und umgekehrt auch -, sodass wir von vorne herein… Diese Monokultur - das setzt ja voraus, dass eine Kultur im Zentrum steht. Und lange haben wir in Europa diese Illusion gehabt, die Kultur kommt eigentlich aus Europa, die Kultur - nicht eine, also unsere, sondern die Kultur. Und dieser Traum einer monolithischen europäischen Vernunft, die zugleich für die Vernunft überhaupt auftritt, die ist ausgeträumt."
Wie aber lässt sich mit nichtwestlichen Vernunftkulturen umgehen? Die Bürger des Westens sehen sich enorm herausgefordert, durch die Migration auch in ihren eigenen Ländern. Erstaunlich ist das nicht. Gut möglich, meint Karl Ludewig, Psychologe am "Institut an der Ruhr", dass man fremde Kulturen grundsätzlich nicht verstehen kann.
"Ich glaube, worum es geht, ist weniger das Verstehen des Fremden als die Akzeptanz des Fremden als etwas, was nichts Veränderbares ist. Und ich glaube, das ist das Wesentliche. Und dieses ließe sich auch auf Interkulturalität erweitern. Der Anspruch, eine fremde Kultur zu verstehen, ist möglicherweise ein überhöhter Anspruch, der vielleicht gar nicht einzubringen ist. Denn würde man sich verstanden haben und hätte man sich assimiliert, dann gäbe es keinen Unterschied mehr. Was wir im Grunde genommen erleben, ist der Unterschied, und dieser Unterschied wird so lange bestehen bleiben, solange die Integration nicht stattgefunden hat. Und dann würde man nicht mehr von Fremden sprechen."
Doch der Weg dahin ist schwierig. Denn Menschen, so der Psychotherapeut Mohamed Al Hachemi, reden nicht nur für sich selbst. Ob sie wollen oder nicht, sie stehen immer unter dem Einfluss kultureller Traditionen. Das stützt sie einerseits, erschwert andererseits aber auch unbefangenen Umgang mit Fremden. Denn die Macht der Tradition prägt die Menschen, macht sie, ohne dass sie es merken, auch befangen - mit der Folge, dass der Mensch, wenn er den Mund aufmacht, niemals nur für sich selbst spricht.
"In dem Raum, wo drei Menschen sind, sind eigentlich nicht sichtbar: sechs oder sieben, acht oder neun Generationen, die auch sozusagen mit beteiligt sind an dieser Geschichte. Insofern, wenn wir uns darüber einigen können, dass jetzt nicht sozusagen die Geschichten nur bestimmten Völkern eigen sind und die anderen haben es nicht, das ist es nicht. Deutschland hat Geschichten, andere haben auch Geschichten. Nur die Bedeutung, die man dem zumisst oder nutzt oder nutzbar macht, das ist der Unterschied."
In Zukunft werden die Bürger - nicht nur der westlichen, sondern aller Gesellschaften - noch stärker als bisher auf ihre Fähigkeit zur Selbstreflektion angewiesen sein. Warum denke ich, wie ich denke? Und was bedeutet das für den Umgang mit Fremden? Diese Frage steht am Anfang jeden angemessenen, sprich friedlichen, Miteinanders in multikulturellen Gesellschaften. Und auf noch etwas kommt es an, meint Karl Ludewig: auf das Wissen über fremde Kulturen. Schließlich ist es eine in mehreren Studien erhärtete Erfahrung,…
"…dass das Fremde, in dem Moment, in dem man sich ihm annähert und versucht, Kontakt herzustellen, daraus Beziehungen macht, weniger fremd wird und weniger gefährlich. Das ist vielleicht eine der Möglichkeiten, die man hätte; und ich glaube, dass Bildung sich auch in diesem Sinne so bewegt, weil: Das, was Bildung erreicht, ist ja so etwas wie ein Gewohnheitspotenzial. Und wenn es sehr viele Menschen gibt mit dunkler Farbe zum Beispiel, in einer Gesellschaft wie den USA, gewöhnt man sich so sehr daran, dass sie auf einmal nicht mehr fremd sind. Wenn plötzlich zwei, drei Dunkelfarbige in einer Gesellschaft von Weißen erscheinen - oder auch zwei, drei Weiße in einer Gesellschaft von Schwarzen - sind sie fremd, sind sie anders. Und was anders ist, ist unergründbar und von daher vielleicht gefährlich."
Tatsächlich ist in multikulturellen Gesellschaften auf Dauer natürlich etwas anderes gefährlich: der Eindruck dieser oder jener Gruppe, sie werde nicht genügend geachtet, habe schlechtere Chancen als andere Gruppen oder werde sogar diskriminiert. Auch solche Eindrücke können trügerisch sein. Um sie aber gar nicht erst aufkommen zu lassen, so der Psychotherapeut Mohamed Al Hachemi, kommt es darauf an, Arroganz zu vermeiden, wie sie sich in der oft gar nicht einmal bewusst formulierten Überzeugung äußert, man wisse es ohnehin besser als der andere.
"Wenn eine Kultur denkt, sie ist dominanter als die andere, dann kann die andere erzählen, was sie will. Denn sie hat die Wahrheit gepachtet. Einigen wir uns darauf, dass die und die erst einmal ihre Erfahrungen erzählen. Und es geht gar nicht um die Lösung, sondern es geht um Wissen, um Transfer von Wissen. Und in dem Moment, wo ich merke: 'Aha, der Deutsche erlebt das so und der Araber erlebt das so, und der Türke erlebt das so' - in dem Moment gehen solche Nationen weg. Sondern es geht nur um mich und dich und den und den. Und in dem Moment, in dem wir diese Ebene erreichen, lernen wir gemeinsam. Dann sind wir auch bereit, die Erfahrung von anderen anzunehmen."
Das oberste Gebot in modernen Einwanderungsgesellschaften wäre also kulturelle Bescheidenheit. Natürlich gibt es Fragen, in denen die Antwort der einen Kultur plausibler ist als die von anderen. Das gilt etwa für alle Fragen, die mit Menschenrechten zu tun haben. Die Forderung ihrer uneingeschränkten Geltung für jeden Menschen, wie sie erstmals im Westen vertreten wurde, hat sich als allen andere Formulierungen als überlegen erwiesen.
Das heißt aber nicht, dass der westliche Lebensstil anderen Traditionen in jeder Hinsicht überlegen ist. Und es heißt auch nicht, dass es neben dem westlichen Vernunftverständnis nicht auch andere, nicht weniger achtbare Formen gebe. Eine einzige Vernunftkultur, so der Philosoph Bernhard Waldenfels, gibt es nicht - stattdessen gibt es mehrere.
"Ich gebrauche 'Vernunft' immer im Plural – 'Rationalitäten'; wie 'Kulturen' auch. Und dann gibt es nicht ein Nebeneinander, wie so Monaden, sondern es gibt dann eine Überschneidung von vielen. Und die schafft natürlich auch Friktionen. Also der 'Clash of Cultures' oder 'Civilizations' ist ein Phänomen, das natürlich dann genau auftritt, wenn man nicht ein Zentrum hat und das andere ohnehin an den Rand drängt und sich dagegen verteidigt oder die Grenzen hinausschiebt. Das ist eine Situation, wo wir umlernen müssen."
Was aber, wenn dieses Eigene immer mehr erwünschte oder unerwünschte "Gesellschaft" durch das Fremde erhält? In den modernen Einwanderungsgesellschaften des Westens sind die Folgen des Zuzugs besonders deutlich zu spüren. Zugleich müssen sich diese Gesellschaften in internationalen Organisationen, etwa der UNO, immer öfters mit den Standpunkten anderer Regionen auseinandersetzen. Das, so der Philosoph Bernhard Waldenfels, bedeutet vor allem eines: Wir müssen uns mit dem Gedanken vertraut machen, dass der Westen seinen Anspruch, eine globale Leitkultur zu sein, nicht länger aufrechterhalten kann.
"'Interkulturalität' verstehe ich als ein Geflecht, das bedeutet: ein Ineinander von Eigenem und Fremden. Wir entdecken vieles Fremde in uns selbst - und umgekehrt auch -, sodass wir von vorne herein… Diese Monokultur - das setzt ja voraus, dass eine Kultur im Zentrum steht. Und lange haben wir in Europa diese Illusion gehabt, die Kultur kommt eigentlich aus Europa, die Kultur - nicht eine, also unsere, sondern die Kultur. Und dieser Traum einer monolithischen europäischen Vernunft, die zugleich für die Vernunft überhaupt auftritt, die ist ausgeträumt."
Wie aber lässt sich mit nichtwestlichen Vernunftkulturen umgehen? Die Bürger des Westens sehen sich enorm herausgefordert, durch die Migration auch in ihren eigenen Ländern. Erstaunlich ist das nicht. Gut möglich, meint Karl Ludewig, Psychologe am "Institut an der Ruhr", dass man fremde Kulturen grundsätzlich nicht verstehen kann.
"Ich glaube, worum es geht, ist weniger das Verstehen des Fremden als die Akzeptanz des Fremden als etwas, was nichts Veränderbares ist. Und ich glaube, das ist das Wesentliche. Und dieses ließe sich auch auf Interkulturalität erweitern. Der Anspruch, eine fremde Kultur zu verstehen, ist möglicherweise ein überhöhter Anspruch, der vielleicht gar nicht einzubringen ist. Denn würde man sich verstanden haben und hätte man sich assimiliert, dann gäbe es keinen Unterschied mehr. Was wir im Grunde genommen erleben, ist der Unterschied, und dieser Unterschied wird so lange bestehen bleiben, solange die Integration nicht stattgefunden hat. Und dann würde man nicht mehr von Fremden sprechen."
Doch der Weg dahin ist schwierig. Denn Menschen, so der Psychotherapeut Mohamed Al Hachemi, reden nicht nur für sich selbst. Ob sie wollen oder nicht, sie stehen immer unter dem Einfluss kultureller Traditionen. Das stützt sie einerseits, erschwert andererseits aber auch unbefangenen Umgang mit Fremden. Denn die Macht der Tradition prägt die Menschen, macht sie, ohne dass sie es merken, auch befangen - mit der Folge, dass der Mensch, wenn er den Mund aufmacht, niemals nur für sich selbst spricht.
"In dem Raum, wo drei Menschen sind, sind eigentlich nicht sichtbar: sechs oder sieben, acht oder neun Generationen, die auch sozusagen mit beteiligt sind an dieser Geschichte. Insofern, wenn wir uns darüber einigen können, dass jetzt nicht sozusagen die Geschichten nur bestimmten Völkern eigen sind und die anderen haben es nicht, das ist es nicht. Deutschland hat Geschichten, andere haben auch Geschichten. Nur die Bedeutung, die man dem zumisst oder nutzt oder nutzbar macht, das ist der Unterschied."
In Zukunft werden die Bürger - nicht nur der westlichen, sondern aller Gesellschaften - noch stärker als bisher auf ihre Fähigkeit zur Selbstreflektion angewiesen sein. Warum denke ich, wie ich denke? Und was bedeutet das für den Umgang mit Fremden? Diese Frage steht am Anfang jeden angemessenen, sprich friedlichen, Miteinanders in multikulturellen Gesellschaften. Und auf noch etwas kommt es an, meint Karl Ludewig: auf das Wissen über fremde Kulturen. Schließlich ist es eine in mehreren Studien erhärtete Erfahrung,…
"…dass das Fremde, in dem Moment, in dem man sich ihm annähert und versucht, Kontakt herzustellen, daraus Beziehungen macht, weniger fremd wird und weniger gefährlich. Das ist vielleicht eine der Möglichkeiten, die man hätte; und ich glaube, dass Bildung sich auch in diesem Sinne so bewegt, weil: Das, was Bildung erreicht, ist ja so etwas wie ein Gewohnheitspotenzial. Und wenn es sehr viele Menschen gibt mit dunkler Farbe zum Beispiel, in einer Gesellschaft wie den USA, gewöhnt man sich so sehr daran, dass sie auf einmal nicht mehr fremd sind. Wenn plötzlich zwei, drei Dunkelfarbige in einer Gesellschaft von Weißen erscheinen - oder auch zwei, drei Weiße in einer Gesellschaft von Schwarzen - sind sie fremd, sind sie anders. Und was anders ist, ist unergründbar und von daher vielleicht gefährlich."
Tatsächlich ist in multikulturellen Gesellschaften auf Dauer natürlich etwas anderes gefährlich: der Eindruck dieser oder jener Gruppe, sie werde nicht genügend geachtet, habe schlechtere Chancen als andere Gruppen oder werde sogar diskriminiert. Auch solche Eindrücke können trügerisch sein. Um sie aber gar nicht erst aufkommen zu lassen, so der Psychotherapeut Mohamed Al Hachemi, kommt es darauf an, Arroganz zu vermeiden, wie sie sich in der oft gar nicht einmal bewusst formulierten Überzeugung äußert, man wisse es ohnehin besser als der andere.
"Wenn eine Kultur denkt, sie ist dominanter als die andere, dann kann die andere erzählen, was sie will. Denn sie hat die Wahrheit gepachtet. Einigen wir uns darauf, dass die und die erst einmal ihre Erfahrungen erzählen. Und es geht gar nicht um die Lösung, sondern es geht um Wissen, um Transfer von Wissen. Und in dem Moment, wo ich merke: 'Aha, der Deutsche erlebt das so und der Araber erlebt das so, und der Türke erlebt das so' - in dem Moment gehen solche Nationen weg. Sondern es geht nur um mich und dich und den und den. Und in dem Moment, in dem wir diese Ebene erreichen, lernen wir gemeinsam. Dann sind wir auch bereit, die Erfahrung von anderen anzunehmen."
Das oberste Gebot in modernen Einwanderungsgesellschaften wäre also kulturelle Bescheidenheit. Natürlich gibt es Fragen, in denen die Antwort der einen Kultur plausibler ist als die von anderen. Das gilt etwa für alle Fragen, die mit Menschenrechten zu tun haben. Die Forderung ihrer uneingeschränkten Geltung für jeden Menschen, wie sie erstmals im Westen vertreten wurde, hat sich als allen andere Formulierungen als überlegen erwiesen.
Das heißt aber nicht, dass der westliche Lebensstil anderen Traditionen in jeder Hinsicht überlegen ist. Und es heißt auch nicht, dass es neben dem westlichen Vernunftverständnis nicht auch andere, nicht weniger achtbare Formen gebe. Eine einzige Vernunftkultur, so der Philosoph Bernhard Waldenfels, gibt es nicht - stattdessen gibt es mehrere.
"Ich gebrauche 'Vernunft' immer im Plural – 'Rationalitäten'; wie 'Kulturen' auch. Und dann gibt es nicht ein Nebeneinander, wie so Monaden, sondern es gibt dann eine Überschneidung von vielen. Und die schafft natürlich auch Friktionen. Also der 'Clash of Cultures' oder 'Civilizations' ist ein Phänomen, das natürlich dann genau auftritt, wenn man nicht ein Zentrum hat und das andere ohnehin an den Rand drängt und sich dagegen verteidigt oder die Grenzen hinausschiebt. Das ist eine Situation, wo wir umlernen müssen."