Der Roman schildert die Erlebnisse Gyuri Azarels, der als Kleinkind von den Eltern getrennt und seinem fanatisch religiösen Großvater Jeremia in die Hände gegeben wird. Dieser lebt in einem Zelt außerhalb der Dorfgemeinschaft und hat den verängstigten Jungen dazu auserkoren, ihn auf eine letzte Reise nach Jerusalem mitzunehmen, die freilich nie zustande kommt. Wie der biblische Prophet sieht sich Jeremia als einen Mahner, der vergeblich zur Buße aufruft und zusehen muss, wie sein Volk in den Untergang zieht. Er meint aber nicht den wachsenden Antisemitismus im ehemaligen Habsburgerreich, den der Autor subtil dokumentiert, sondern die sündige, auf wirtschaftlichen Erfolg erpichte Lebensweise der Juden selbst. Besonders den Rabbinern warf der Großvater vor, ihre Tradition zu verraten, da sie mit den "Heiden” leben und ihnen dabei helfen, "das jüdische Volk in den Assimilationsöfen der Fremde einzuschmelzen” - ein starkes Bild für die zwiespältigen Auswirkungen der Assimilation, das sich auf grauenhafte Weise erfüllt hat. Auch für den Autor selbst, der 1945 in Bergen-Belsen umkam.
Der Roman beginnt mit einem Rückblick des erwachsenen Erzählers auf seine Zeit mit dem verbohrten Sonderling. Großvater Jeremia hält strenge Fasten ein und unterzieht sich täglich peinigenden Reinigungsritualen im eiskalten Fluss. Die Kleider für das Kind nimmt er nicht von den Eltern an, ohne sie zu reinigen, und zum Entsetzen des Jungen verbrennt er dessen Spielsachen. Indem er den zutiefst verstörten Gyuri mit einem Gebetsschal an sich kettet, zwingt er ihn, an diesen Läuterungen teilzunehmen. Allein schon diese Passagen lohnen die Lektüre, sie sind obendrein wie das ganze Buch wunderbar geschrieben:
Mich ängstigten die Farben und die Stimmen, mich ängstigten das Bleiben und die Flucht. Das Mauerwerk am Synagogenhof, das die Vorfahren aus alten Trümmerstücken errichtet hatten, war angefüllt mit unförmigen Steinen, deren außergewöhnliche Formen mich noch mehr erschreckten als der offene Hinterhof mit dem freien Weg zu den Gräbern, woher farbtrunkenes Gestrüpp herüberdrohte. Ich sah darin lebendige, bunte Tiere, die reglos dastanden, um mich einzuschüchtern und den Weg zu versperren, wenn ich vor Großvaters Gemurmel und dem Singsang der Schüler fliehen wollte. Die Steine faszinierten mich, Schädel von Riesen aus alten Zeiten starrten mich an, aus den Hohlräumen und Rissen ihrer Münder grinste buntes Geißblatt herüber.
Die Kinderperspektive wird hier noch von den Einsichten des Erwachsenen durchbrochen. Das scheint auf den ersten Blick nicht ganz stimmig, hat aber seinen Sinn, denn das Kleinkind kann ja seine Gedanken noch nicht klar ausdrücken. Im Rückblick belächelt der Erzähler das engstirnige Festhalten des Großvaters an orthodoxen Regeln, die mit seiner Frömmigkeit eigentlich nichts zu tun haben. Doch verhehlt er auch nicht eine gewisse Bewunderung für die Kraft und Kompromisslosigkeit des alten Eiferers.
Als der Großvater stirbt, kehrt Gyuri zu seiner Familie zurück, ohne dort je wieder heimisch zu werden. Der Roman wechselt nun zunehmend in die Perspektive des Kindes und seine eigene Sprache. Außerstande, jemandem seine Gedanken mitteilen zu können, und durch die archaische Welt des Großvaters mit einer übersteigerten Phantasie geplagt oder auch gesegnet, erhofft der Junge in der häuslichen Umgebung ebenso starke Zeichen, wie er sie zuvor erlebt hatte. Als diese ausbleiben, hält, wie er sagt, das "Ungeheuer Langeweile” in seiner Seele Einzug. Mehr als bloße Zerstreuung fehlt ihm geistige Anregung und vor allem emotionale Zuwendung in der weltlichen Rabbinerfamilie.
Aus seiner von der visionären Welt des Großvaters und später von Märchen geprägten, oft altklugen Sicht streben die Mutter und seine älteren Geschwister Ernuschko und Oluschka nur nach materiellen Gütern, sind sie oberflächlich und eitel. Am schlimmsten ist für den aufgeweckten Gyuri der kleinliche, kleingeistige Vater, der trotz seiner eigenen Rebellion gegen seinen Vater Jeremia kein Verständnis für seinen schwierigen Jüngsten hat und nur den äußeren Schein wahren will. Wie Pap dieses Thema literarisch verarbeitet, ist, obwohl der Roman ganz aus einem Guss ist, verwandt mit anderen Dichtern und Denkern seiner Zeit. Es erinnert an Franz Kafkas und Sigmund Freuds Erkundungen von Familienbeziehungen, vor allem an den ungarischen Psychoanalytiker Sandor Ferenczi, der über die Sprachverwirrung zwischen übermächtigen Erwachsenen und Kindern nachdachte und den Todestrieb des ungeliebten Kindes untersuchte.
Gyuris enttäuschtes Liebesbedürfnis treibt ihn so zur Verzweiflung, dass er sich einmal sogar aus dem Fenster stürzen will und später, als er endlich auch zur Schule gehen darf, die beschränkten Lehrer mit Fragen nach der Existenz Gottes provoziert. Erst recht bringt er damit seinen pflichtbewussten Vater zur Raserei, und der Konflikt gipfelt darin, dass der Neunjährige sein Elternhaus verlässt und sich allein durchzuschlagen versucht. Dieser Schlussteil des Buches ist ein sich großartig steigernder innerer Monolog. Der in seinem Stolz gekränkte sensibl-trotzige Junge hadert mit den Autoritäten, dem Vater, aber auch mit Gott und mit der vermeintlichen eigenen Feigheit. Er malt sich aus, wie er beide in der Synagoge der Heuchelei anklagen wird, und treibt sich derart zum Äußersten, dass er schließlich schreiend zusammenbricht. Mit diesem wilden Aufbegehren erweist sich Gyuri als würdiger Nachfolger Jeremias. Als ihn die Eltern wieder aufnehmen, gelingt es ihm nicht, den stolzen Anspruch aufrecht zu erhalten. Erschöpft und dankbar für die ersehnte Zuwendung fügt sich das Kind den Anstrengungen seiner Familie, die Sache zu vertuschen und als bloße Krankheit hinzustellen.
Der Roman bietet ein faszinierendes Panorama des jüdischen Lebens zwischen Orthodoxie und Aufklärung, zwischen überkommener Tradition und dem bald vereitelten Wunsch nach bürgerlichem Aufstieg in Ungarn am Vorabend des Nationalsozialismus. Konzentriert auf eine liebenswerte, wenn auch radikale Erzählerfigur, flicht der Autor leichthändig eine Fülle von Details aus dem damaligen Alltag in Ungarn ein. Ihm ist zugleich ein psychologisch tiefgründiger Entwicklungsroman über den auf sich selbst gestellten Menschen und seine aussichtslose Suche nach der Wahrheit gelungen. Das liegt nicht zuletzt an Paps vielschichtiger, märchenhafter Sprache und seinem geradezu biblischen Duktus. Eine überfällige Entdeckung, der hoffentlich weitere Werke von Károly Pap in deutscher Übersetzung folgen werden.
Károly Pap
Azarel
Luchterhand, 304 S. , EUR 20,-
Der Roman beginnt mit einem Rückblick des erwachsenen Erzählers auf seine Zeit mit dem verbohrten Sonderling. Großvater Jeremia hält strenge Fasten ein und unterzieht sich täglich peinigenden Reinigungsritualen im eiskalten Fluss. Die Kleider für das Kind nimmt er nicht von den Eltern an, ohne sie zu reinigen, und zum Entsetzen des Jungen verbrennt er dessen Spielsachen. Indem er den zutiefst verstörten Gyuri mit einem Gebetsschal an sich kettet, zwingt er ihn, an diesen Läuterungen teilzunehmen. Allein schon diese Passagen lohnen die Lektüre, sie sind obendrein wie das ganze Buch wunderbar geschrieben:
Mich ängstigten die Farben und die Stimmen, mich ängstigten das Bleiben und die Flucht. Das Mauerwerk am Synagogenhof, das die Vorfahren aus alten Trümmerstücken errichtet hatten, war angefüllt mit unförmigen Steinen, deren außergewöhnliche Formen mich noch mehr erschreckten als der offene Hinterhof mit dem freien Weg zu den Gräbern, woher farbtrunkenes Gestrüpp herüberdrohte. Ich sah darin lebendige, bunte Tiere, die reglos dastanden, um mich einzuschüchtern und den Weg zu versperren, wenn ich vor Großvaters Gemurmel und dem Singsang der Schüler fliehen wollte. Die Steine faszinierten mich, Schädel von Riesen aus alten Zeiten starrten mich an, aus den Hohlräumen und Rissen ihrer Münder grinste buntes Geißblatt herüber.
Die Kinderperspektive wird hier noch von den Einsichten des Erwachsenen durchbrochen. Das scheint auf den ersten Blick nicht ganz stimmig, hat aber seinen Sinn, denn das Kleinkind kann ja seine Gedanken noch nicht klar ausdrücken. Im Rückblick belächelt der Erzähler das engstirnige Festhalten des Großvaters an orthodoxen Regeln, die mit seiner Frömmigkeit eigentlich nichts zu tun haben. Doch verhehlt er auch nicht eine gewisse Bewunderung für die Kraft und Kompromisslosigkeit des alten Eiferers.
Als der Großvater stirbt, kehrt Gyuri zu seiner Familie zurück, ohne dort je wieder heimisch zu werden. Der Roman wechselt nun zunehmend in die Perspektive des Kindes und seine eigene Sprache. Außerstande, jemandem seine Gedanken mitteilen zu können, und durch die archaische Welt des Großvaters mit einer übersteigerten Phantasie geplagt oder auch gesegnet, erhofft der Junge in der häuslichen Umgebung ebenso starke Zeichen, wie er sie zuvor erlebt hatte. Als diese ausbleiben, hält, wie er sagt, das "Ungeheuer Langeweile” in seiner Seele Einzug. Mehr als bloße Zerstreuung fehlt ihm geistige Anregung und vor allem emotionale Zuwendung in der weltlichen Rabbinerfamilie.
Aus seiner von der visionären Welt des Großvaters und später von Märchen geprägten, oft altklugen Sicht streben die Mutter und seine älteren Geschwister Ernuschko und Oluschka nur nach materiellen Gütern, sind sie oberflächlich und eitel. Am schlimmsten ist für den aufgeweckten Gyuri der kleinliche, kleingeistige Vater, der trotz seiner eigenen Rebellion gegen seinen Vater Jeremia kein Verständnis für seinen schwierigen Jüngsten hat und nur den äußeren Schein wahren will. Wie Pap dieses Thema literarisch verarbeitet, ist, obwohl der Roman ganz aus einem Guss ist, verwandt mit anderen Dichtern und Denkern seiner Zeit. Es erinnert an Franz Kafkas und Sigmund Freuds Erkundungen von Familienbeziehungen, vor allem an den ungarischen Psychoanalytiker Sandor Ferenczi, der über die Sprachverwirrung zwischen übermächtigen Erwachsenen und Kindern nachdachte und den Todestrieb des ungeliebten Kindes untersuchte.
Gyuris enttäuschtes Liebesbedürfnis treibt ihn so zur Verzweiflung, dass er sich einmal sogar aus dem Fenster stürzen will und später, als er endlich auch zur Schule gehen darf, die beschränkten Lehrer mit Fragen nach der Existenz Gottes provoziert. Erst recht bringt er damit seinen pflichtbewussten Vater zur Raserei, und der Konflikt gipfelt darin, dass der Neunjährige sein Elternhaus verlässt und sich allein durchzuschlagen versucht. Dieser Schlussteil des Buches ist ein sich großartig steigernder innerer Monolog. Der in seinem Stolz gekränkte sensibl-trotzige Junge hadert mit den Autoritäten, dem Vater, aber auch mit Gott und mit der vermeintlichen eigenen Feigheit. Er malt sich aus, wie er beide in der Synagoge der Heuchelei anklagen wird, und treibt sich derart zum Äußersten, dass er schließlich schreiend zusammenbricht. Mit diesem wilden Aufbegehren erweist sich Gyuri als würdiger Nachfolger Jeremias. Als ihn die Eltern wieder aufnehmen, gelingt es ihm nicht, den stolzen Anspruch aufrecht zu erhalten. Erschöpft und dankbar für die ersehnte Zuwendung fügt sich das Kind den Anstrengungen seiner Familie, die Sache zu vertuschen und als bloße Krankheit hinzustellen.
Der Roman bietet ein faszinierendes Panorama des jüdischen Lebens zwischen Orthodoxie und Aufklärung, zwischen überkommener Tradition und dem bald vereitelten Wunsch nach bürgerlichem Aufstieg in Ungarn am Vorabend des Nationalsozialismus. Konzentriert auf eine liebenswerte, wenn auch radikale Erzählerfigur, flicht der Autor leichthändig eine Fülle von Details aus dem damaligen Alltag in Ungarn ein. Ihm ist zugleich ein psychologisch tiefgründiger Entwicklungsroman über den auf sich selbst gestellten Menschen und seine aussichtslose Suche nach der Wahrheit gelungen. Das liegt nicht zuletzt an Paps vielschichtiger, märchenhafter Sprache und seinem geradezu biblischen Duktus. Eine überfällige Entdeckung, der hoffentlich weitere Werke von Károly Pap in deutscher Übersetzung folgen werden.
Károly Pap
Azarel
Luchterhand, 304 S. , EUR 20,-