Rainer Berthold Schossig: Das Thema "Vertreibung der Deutschen 1944/45" darf spätestens seit dem Grass-Buch "Im Krebsgang" wieder öffentlich bearbeitet werden, nun also auch im Fernsehen, in dem Zweiteiler "Die Flucht", gestern und vorgestern in der ARD. Als die Hauptdarstellerin des Films, Maria Furtwängler, neulich bei "Wetten dass..?" zu Gast war, konnte sie auf Nachfrage von Thomas Gottschalk bereits mitteilen, dass es dem Produktionsteam des Films trotz großer Mühe nicht gelungen sei, das Doku-Drama über Flucht und Vertreibung am Ende des Zweiten Weltkriegs zu einer Komödie zu machen. Was aber nun ist aus dem schwerwiegenden Stoff deutsche Vertreibung geworden in diesem Film "Die Flucht"?
Vor der Sendung habe ich mit dem Historiker Hans-Ulrich Wehler Bilanz gezogen. Und ich habe ihn gefragt, Sie haben, Herr Wehler also die TV-Tragödie, erster, zweiter Teil, gesehen, eine anrührende Geschichte, aber war auch der Historiker Wehler betroffen oder gar gerührt?
Hans-Ulrich Wehler: Also man muss die zwei Teile genau unterscheiden. Der erste Teil ist eine ziemliche Anhäufung von Edelkitsch: Das idyllische ostpreußische Landleben auf einem Rittergut kurz vor der Phase des Untergangs, die Liebelei mit den Söhnen des Nachbargutes, Spannungen mit Parteibonzen, aber alles noch sozusagen in einer Pilcher-Landschaft gefilmt. Das fand ich außerordentlich kürzend, zumal auch eine ganze Reihe handwerklicher Fehler vorkommen. Aber der zweite Teil, in dem der Treck ganz im Vordergrund stand, das fand ich als Versuch, einen so ungeheuerlichen Vorgang wie die Flucht und Vertreibung von zwölf Millionen Menschen ins Bild zu setzen, aufs Ganze gesehen, akzeptabel.
Schossig: Zunächst noch mal zum ersten Teil, Herr Wehler: In diesem Ostpreußen gab es meiner Sicht nach kaum adelige Nazis. Der Film hätte ja eigentlich zumindest die Chance, in diesem Teil zu thematisieren, dass es das ostpreußische Junkertum war, das Hitler aktiv mit an die Macht gebracht hat.
Wehler: Das ist völlig richtig. Der Film fällt überhaupt deshalb auf, weil er zu einer Glorifizierung des ostpreußischen Landadels beiträgt. Dazu muss man erstens sagen, Ostpreußen ist ein überwiegend bäuerliches Land gewesen, und man hätte genauso gut einen der großen Trecks der Bauerndörfer schildern können, die unter der Leitung eines mutigen Dorfvorstehers oder Schulzen den Weg nach Westen gesucht haben. Aber nun verlangt es ja vielleicht die Dramatik der "human interest"-Story, dass man auch noch eine Adelige, die sich durch kühle Arroganz auszeichnet, sozusagen hier ganz in den Mittelpunkt rückt. Dann tritt allerdings zurück, wie Sie sagten, dass ein Gutteil auch des ostpreußischen Adels mit dem Dritten Reich kollaboriert hat und dass namentlich der etwas ärmere Adel, auch der Militäradel durchaus zu einer nahezu vorbehaltlosen Kooperation bereit gewesen ist.
Schossig: Hier wäre ja Aufklärung sicherlich am Platz gewesen, also auch Kontextualisierung. Im Film spielen im Unterschied zur historischen Wissenschaft allerdings nun, wie Sie auch gerade andeuteten, Empathie, Dramaturgie und damit auch ein Gutteil Moral eine bedeutende Rolle. Redet dieser Film eigentlich einen Um- oder Verdrehen von Schuld und Opfer das Wort?
Wehler: Ja, das kann ich nicht so finden. Der Film gehört natürlich jetzt in den allgemeinen Zusammenhang einer Debatte seit etwa drei, vier Jahren. Die ist eröffnet worden durch Günter Grass mit dem Krebsgang, also dem Untergang der "Wilhelm Gustloff" mit etwa 9000 ertrunkenen Flüchtlingen, fortgesetzt worden von Jörg Friedrich mit dem Buch über den Brand, also über den Alliiertenluftkrieg gegen die deutschen Städte, und hat sich jetzt des Flucht- und Vertreibungsthemas bemächtigt. Da kann man sozusagen prinzipiell kritisieren. Ich glaube, dass zwei Generationen, also die 60 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, es so gut wie unvermeidbar machen, dass auch die Perspektive zu ihrem Recht kommt, dass die Deutschen nicht nur Täter, sondern namentlich im Bombenkrieg und bei der Vertreibung auch Opfer waren. Das große Problem bei der Darstellung ist jetzt, dass man das in einer angemessenen Sprache, sozusagen in einer disziplinierten Grundeinstellung vertritt.
Schossig: Das würde die Frage nach dem Genre Fernsehspiel aufwerfen, denn mit seinen Rücksichtnahmen auf Unterhaltung, Popularität, Quote, ist es überhaupt geeignet, solch schwere Stoffe wie Krieg, Völkermord, Vertreibung, sich diesen annehmen zu können?
Wehler: Also ich sollte mal mitmachen bei einem Film über Dresden. Das habe ich dann nicht getan, weil mir das Plot, das ein englischer Pilot, der abgeschossen wurde und sich verletzt, in das Hospital rettet, in dem die Heldin eine zentrale Rolle spielt, und dann folgt eine Liebesgeschichte in den Brandnächten, das schien mir so ein Pilcherianischer Edelkitsch zu sein. Aber der Film war ein Erfolg und kam an, und ich glaube, man kann erfahrenen Regisseuren und Filmemachern nicht sozusagen wirklich effektiv widersprechen, wenn sie dokumentarische Bezüge verbinden mit dem, was sozusagen die amerikanische Publizistik the human interest nennt. Nun hat dieser Film drei ausgezeichnete Historiker als Berater gehabt, und in den wesentlichen Grundzügen stimmen sozusagen Daten, Einordnungen, Kesselbildungen, Ostpreußen, Durchbruch über das Haff und so, das stimmt alles. Ich habe mich dann natürlich auch gefragt, während ich so was immer sehe, gäbe es eine Alternative? Die Alternative wäre ein strikter, nüchterner Dokumentarfilm. Ich fürchte, er hätte keine elf Millionen Zuschauer gefunden.
Vor der Sendung habe ich mit dem Historiker Hans-Ulrich Wehler Bilanz gezogen. Und ich habe ihn gefragt, Sie haben, Herr Wehler also die TV-Tragödie, erster, zweiter Teil, gesehen, eine anrührende Geschichte, aber war auch der Historiker Wehler betroffen oder gar gerührt?
Hans-Ulrich Wehler: Also man muss die zwei Teile genau unterscheiden. Der erste Teil ist eine ziemliche Anhäufung von Edelkitsch: Das idyllische ostpreußische Landleben auf einem Rittergut kurz vor der Phase des Untergangs, die Liebelei mit den Söhnen des Nachbargutes, Spannungen mit Parteibonzen, aber alles noch sozusagen in einer Pilcher-Landschaft gefilmt. Das fand ich außerordentlich kürzend, zumal auch eine ganze Reihe handwerklicher Fehler vorkommen. Aber der zweite Teil, in dem der Treck ganz im Vordergrund stand, das fand ich als Versuch, einen so ungeheuerlichen Vorgang wie die Flucht und Vertreibung von zwölf Millionen Menschen ins Bild zu setzen, aufs Ganze gesehen, akzeptabel.
Schossig: Zunächst noch mal zum ersten Teil, Herr Wehler: In diesem Ostpreußen gab es meiner Sicht nach kaum adelige Nazis. Der Film hätte ja eigentlich zumindest die Chance, in diesem Teil zu thematisieren, dass es das ostpreußische Junkertum war, das Hitler aktiv mit an die Macht gebracht hat.
Wehler: Das ist völlig richtig. Der Film fällt überhaupt deshalb auf, weil er zu einer Glorifizierung des ostpreußischen Landadels beiträgt. Dazu muss man erstens sagen, Ostpreußen ist ein überwiegend bäuerliches Land gewesen, und man hätte genauso gut einen der großen Trecks der Bauerndörfer schildern können, die unter der Leitung eines mutigen Dorfvorstehers oder Schulzen den Weg nach Westen gesucht haben. Aber nun verlangt es ja vielleicht die Dramatik der "human interest"-Story, dass man auch noch eine Adelige, die sich durch kühle Arroganz auszeichnet, sozusagen hier ganz in den Mittelpunkt rückt. Dann tritt allerdings zurück, wie Sie sagten, dass ein Gutteil auch des ostpreußischen Adels mit dem Dritten Reich kollaboriert hat und dass namentlich der etwas ärmere Adel, auch der Militäradel durchaus zu einer nahezu vorbehaltlosen Kooperation bereit gewesen ist.
Schossig: Hier wäre ja Aufklärung sicherlich am Platz gewesen, also auch Kontextualisierung. Im Film spielen im Unterschied zur historischen Wissenschaft allerdings nun, wie Sie auch gerade andeuteten, Empathie, Dramaturgie und damit auch ein Gutteil Moral eine bedeutende Rolle. Redet dieser Film eigentlich einen Um- oder Verdrehen von Schuld und Opfer das Wort?
Wehler: Ja, das kann ich nicht so finden. Der Film gehört natürlich jetzt in den allgemeinen Zusammenhang einer Debatte seit etwa drei, vier Jahren. Die ist eröffnet worden durch Günter Grass mit dem Krebsgang, also dem Untergang der "Wilhelm Gustloff" mit etwa 9000 ertrunkenen Flüchtlingen, fortgesetzt worden von Jörg Friedrich mit dem Buch über den Brand, also über den Alliiertenluftkrieg gegen die deutschen Städte, und hat sich jetzt des Flucht- und Vertreibungsthemas bemächtigt. Da kann man sozusagen prinzipiell kritisieren. Ich glaube, dass zwei Generationen, also die 60 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, es so gut wie unvermeidbar machen, dass auch die Perspektive zu ihrem Recht kommt, dass die Deutschen nicht nur Täter, sondern namentlich im Bombenkrieg und bei der Vertreibung auch Opfer waren. Das große Problem bei der Darstellung ist jetzt, dass man das in einer angemessenen Sprache, sozusagen in einer disziplinierten Grundeinstellung vertritt.
Schossig: Das würde die Frage nach dem Genre Fernsehspiel aufwerfen, denn mit seinen Rücksichtnahmen auf Unterhaltung, Popularität, Quote, ist es überhaupt geeignet, solch schwere Stoffe wie Krieg, Völkermord, Vertreibung, sich diesen annehmen zu können?
Wehler: Also ich sollte mal mitmachen bei einem Film über Dresden. Das habe ich dann nicht getan, weil mir das Plot, das ein englischer Pilot, der abgeschossen wurde und sich verletzt, in das Hospital rettet, in dem die Heldin eine zentrale Rolle spielt, und dann folgt eine Liebesgeschichte in den Brandnächten, das schien mir so ein Pilcherianischer Edelkitsch zu sein. Aber der Film war ein Erfolg und kam an, und ich glaube, man kann erfahrenen Regisseuren und Filmemachern nicht sozusagen wirklich effektiv widersprechen, wenn sie dokumentarische Bezüge verbinden mit dem, was sozusagen die amerikanische Publizistik the human interest nennt. Nun hat dieser Film drei ausgezeichnete Historiker als Berater gehabt, und in den wesentlichen Grundzügen stimmen sozusagen Daten, Einordnungen, Kesselbildungen, Ostpreußen, Durchbruch über das Haff und so, das stimmt alles. Ich habe mich dann natürlich auch gefragt, während ich so was immer sehe, gäbe es eine Alternative? Die Alternative wäre ein strikter, nüchterner Dokumentarfilm. Ich fürchte, er hätte keine elf Millionen Zuschauer gefunden.