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Zwischen Premieren-Ehrgeiz und Gefühlskino

Zweiundvierzig Filme standen in diesem Jahr auf dem Programm des Festivals. Das Repertoire reichte vom Regiedebüt "Totem" bis hin zum neuesten "Bella Block"-Fernsehkrimi. Überzeugen konnte es vor allem mit jenen Filmen, die ansonsten im Programmfluss des TV-Alltags untergehen.

Von Klaus Gronenborn | 25.06.2012
    Das Programmrepertoire des Festivals reichte von Jessica Krummachers unabhängig produzierten Regiedebüt "Totem", einem mutigen Blick auf die Hölle der Normalität eines "Puppenheims" im düster wahren Wortsinne, bis hin zu "Eine tödliche Legende", der vierten ZDF Spreewaldkrimi-Folge und dem neuesten "Bella Block"-Fernsehkrimi "Unter den Linden": beide in Ludwigshafen als "Welturaufführung" annonciert.

    Den "Premieren"-Ehrgeiz mit Genre-Klassikern gängiger Fernsehformate sollte das "Festival des deutschen Films" nicht weiter verfolgen. Dessen Einzigartigkeit liegt ja gerade darin, dass hier Filme gezeigt werden, die im Programmfluss des Fernsehalltags untergehen. Oder: Filme zu sehen sind, die aufgrund des Überangebots im Kino oft gar nicht mehr die Chance bekommen, einen der Programmplätze in den "Arthouse"-Sälen zu erobern. Oder: Filme wiederaufgeführt werden, die im Kino nicht die Zuschauerzahlen erhielten, die sie verdienen und hier als "Event" mühelos bekommen.

    Den "Preis für Schauspielkunst" erhielt in diesem Jahr die Schauspielerin Sandra Hüller und der Berliner Schauspieler Otto Sander.

    Otto Sander trug bei der Preisverleihung statt einer Dankesrede Kafkas Text "Auf der Galerie" vor. Er tat dies unmittelbar gerührt und stimmlich überwältigt von dieser starken Prosa über die lebensgefährlichen Mühen der Kunst vor den Augen des Publikums.
    Die Präsenz der Stimme von Otto Sander war akustisch live geradezu körperlich erfahrbar.

    Die Präsenz seiner komödiantischen Schauspielkunst war unmittelbar danach im überfüllten 1200-Platz-Zeltkino zu bewundern: im Spielfilm "Bis zum Horizont, dann links" von Bernd Böhlich, präsentiert in der Reihe "Lichtblicke" neben dem Wettbewerbsprogramm um den "Filmkunstpreis". Inszeniert als "Kammerspiel" auf engstem Raum gelingt Bernd Böhlich eine sarkastische, dialogwitzige Seniorenkomödie, wie man sie seit "Lina Braake" nicht mehr im deutschen Kino gesehen hat.

    Den "Filmkunstpreis" des diesjährigen Festivals, sowie eine Auszeichnung für das Beste Drehbuch erhielt das sozialrealistische Mutter-Tochter Beziehungsdrama "Für Elise" von Wolfgang Dinslage, das Ende August in den deutschen Kinos startet.
    Die 15-jährige Elise aus Jena (eindringlich gespielt von Jasna Fritzi Bauer) versucht vergeblich, ihre Mutter Betty zu erziehen. Diese betäubt den Schmerz über den Unfalltod ihres Mannes mit Partys, schnellem Sex und zu viel Alkohol. Als Betty den alleinerziehenden Rundfunkredakteur Ludwig kennenlernt, eskaliert der Konflikt zwischen Mutter und Tochter. Denn auch Elise verliebt sich in diesen Mann. Bei ihm fühlt sie sich auch in ihrer Liebe zur Musik erstmals verstanden. Ein Zweikampf beginnt, der Elise zur überlegenen Konkurrentin ihrer alleinerziehenden Mutter Betty macht.

    Unter dem Dutzend Filme, die im Wettbewerb um den "Filmkunstpreis" miteinander konkurrierten und in deren Ästhetik und Dramaturgie leider allzu oft gängige Fernseh-Bild- und -Erzählstandards dominierten, blieb einer ganz besonders in Erinnerung.

    Hass, Leidenschaft, Auflösung pur; das Ganze Repertoire der hohen Kunst des "als ob", der Schauspielkunst also, konnte in "Die Unsichtbare", dem zweiten Spielfilm des Regisseurs Christian Schwochow besichtigt werden.

    "Die Unsichtbare":
    "Josefine: "Was reden Sie da' Sie sehen nur eine Hülle
    Kaspar Friedmann: "Ganz einfach. Nicht spielen"...
    Josefine: "Eine hübsche, glatte Hülle (...) Vorsicht! Es gibt Risse in der Hülle. Kleine, feine Risse."

    Dies sagt Josefine Lorenz, die Schauspielschülerin (großartig verkörpert von Stine Fischer Christensen) zu Regisseur Kaspar Friedmann. Ulrich Noethen verleiht ihm eine zwischen Alkoholexzessen und cholerischen Dominanztiraden changierende eindrucksvolle Präsenz.

    Zur Überraschung aller Mitstudierenden besetzt Kaspar Friedmann die gebürtige Dänin Fine trotz ihres Sprachakzents als Hauptrolle in seiner neuen Inszenierung: einem Stück über die Männer verschlingende Camille Claudel, die Geliebte des Bildhauers Auguste Rodin. Nichts verbindet auf den ersten Blick die schüchterne Fine, die daheim bei ihrer überforderten Mutter und ihrer behinderten Schwester Jule lebt, mit dieser Figur. Doch Fine scheint bereit, vollkommen mit ihrer Rolle zu verschmelzen.

    Christian Schwochow inszeniert die "Risse" in der "Hülle" zwischen "Person" und "Persona" Fines, die "Risse" zwischen ihrem Alltag jenseits der Bühne und ihrer Rollenfigur als ein dichtes, packendes Psychodrama.

    "Die Unsichtbare" ist ein Film voller Zärtlichkeit und Zorn im Zwischenreich von Kunst und Leben. Eine großartige Studie über die Leidenschaft und die Absturzgefahren der Schauspielkunst, getragen von einer zuletzt "sichtbar" sehr selbstbewusst gewordenen jungen Protagonistin.