Dissidenten sind für Fidel Castro "Verräter", "Lumpen", "Söldner in Diensten der USA". Das hat der "maximo lider" am 26. Juli, dem 52. Jahrestag des Sturms auf die Kaserne von Moncada, noch einmal bekräftigt. Castro sprach vier Stunden und verkündete die frohe Botschaft von einem Wirtschaftswachstum von neun Prozent. Doch das sozialistische Kuba ist und bleibt ein krisengeschütteltes Land – und für eine politische Opposition ist nach wie vor kein Platz in diesem Land. Das zeigt die jüngste Verhaftungswelle.
"Der Mindestlohn wird von 100 auf 225 kubanische Peso erhöht werden. Diese Maßnahme gilt ab dem 1. Mai dieses Jahres. "
Fidel Castro in einer Fernsehansprache Ende April. Seit mehreren Monaten tritt der inzwischen greisenhaft wirkende 78jährige "máximo lider" fast wöchentlich vor die Mikrofone von Rundfunk und Fernsehen, um neue Maßnahmen zu verkünden. Erst wurde sowohl der kubanische Peso als auch der der so genannte Peso Convertible aufgewertet, dann erhöhte man die Renten.
"Wer in Rente gegangen ist, dem wird es an nichts fehlen. (Applaus). Und es ist auch möglich, dass in der Zukunft die Renten noch einmal erhöht werden."
"Bis eines Tages sogar die Lebensmittelrationierung verschwindet, die einmal eine so große Sache war.... "
Seit Fidel Castro sich vor über zehn Jahren in der schweren Krise nach dem Zusammenbruch des Ostblocks zu wirtschaftlichen Reformen genötigt sah, hat sich der "tropische Sozialismus" Kubas grundlegend gewandelt: Es gibt inzwischen Joint-Venture-Unternehmen, einen kleinen Privatsektor, und auch der Besitz von Devisen ist seit über zehn Jahren erlaubt - wenngleich seit November 2004 nicht mehr in Form von US-Dollar, sondern als so genannte "Peso Convertible".
Eine Folge der Reformen ist allerdings, dass sich das Wohlstandsgefälle vergrößert hat - und damit auch die Unterschiede im Lebensstandard zunehmen. Die Soziologin Mayra Espina vom CIPS, dem Zentrum für psychologische und soziologische Studien in Havanna, spricht von einer Differenzierung der Sozialstruktur:
"Eine wichtige Veränderung ist die zunehmende soziale Ungleichheit. Eine der entscheidenden Erfahrungen der kubanischen Revolution war die systematische Schaffung von Gleichheit. Durch die Krise und die Reformen haben sich Lebensbedingungen entwickelt, welche die sozialen Gegensätze vergrößert haben. Dazu gehört auch eine Armut in den Städten, die in einer Studie des Nationalinstituts für wirtschaftliche Forschungen auf rund 20 Prozent geschätzt wurde. Ich denke diese Zahl zeigt ganz gut, welch tief greifenden Wandel die kubanische Gesellschaft durch die Änderung der Eigentumsverhältnisse und die Zunahme der Ungleichheit in den 90er Jahren durchgemacht hat. "
Laut Mayra Espina gibt es nicht nur eine größere Einkommensschere zwischen Arm und Reich, sondern es entwickele sich auch eine neue soziale Hierarchie, die sich am materiellen Reichtum als Symbol des Erfolges orientiere.
Viele Waren des täglichen Bedarfs werden in staatlichen Geschäften ausschließlich in harter Währung - in Form des Peso Convertible - verkauft. Die Nahrungsmittel, die man dagegen mit der "libreta" bezieht, dem kubanischen Lebensmittelbuch, reichen in der Regel gerade einmal bis zur Monatsmitte. Der kubanische Schriftsteller Leonardo Padura über den Überlebenskampf seiner Landsleute:
"Der Durchschnittslohn in Kuba beträgt nur 250 Pesos, das sind rund zehn US-Dollar im Monat. Doch eine Flasche Speiseöl kostet beispielsweise zwei Dollar, das ist ein Fünftel des Gehalts. Darum haben die Menschen hier Überlebensstrategien entwickeln müssen und das entscheidende Verb in Kuba heißt: resolver, "Probleme lösen". Die Menschen "lösen" ihr Leben, zum Teil auch auf illegalen Wegen. "
Auch wenn sich das Durchschnittseinkommen durch die jüngsten Maßnahmen auf rund zwölf US-Dollar erhöht hat - das Dilemma bleibt. Schätzungen zufolge benötigt eine fünfköpfige Familie das Siebenfache des monatlichen Einkommens, um den Grundbedarf an Lebensmitteln, Kleidung und Reinigungsartikeln decken zu können.
Nicht wenige Kubaner entwenden daher in den staatlichen Betrieben Materialien, um sie auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. Andere verdienen direkt oder indirekt an den Touristen, oder sie überleben dank der "remesas", der Überweisungen ihrer Verwandten aus dem Ausland. Der Student Pablo González über die Situation in Kuba:
"Das System funktioniert einfach nicht, weil es nicht in
der Lage ist, die Bedürfnisse vieler Menschen zu erfüllen…
Darum kaufen die Leute auf dem Schwarzmarkt ein, und insgesamt hat die Illegalität eine gewaltige Dimension erreicht. Denn was kann einer in Kuba schon mit zehn Euro im Monat anfangen? "
Die Informationen über die wirtschaftliche Situation Kubas sind alles in allem widerspruchsvoll. Sicher scheint zumindest, dass die Staatskassen ziemlich leer sind. Die kubanische Zentralbank veröffentlicht zwar keine genauen Zahlen, ausländische Beobachter schätzen aber, dass allein die Auslandverschuldung über 12 Milliarden US-Dollar beträgt.
Es gibt aber auch positive Signale. So wächst die kubanische Ökonomie seit Jahren kontinuierlich. Der Wirtschaftsprofessor Omar Pérez:
"Seit 2003 wird das Bruttoinlandsprodukt in Kuba neu berechnet, weil die unentgeltlichen staatlichen Leistungen und Dienste mit erfasst werden. Demnach ist die Wirtschaft Kubas um fünf Prozent gewachsen, nach der alten Methode, die einen internationalen Vergleich erlaubt, um immerhin drei Prozent. Das ist eine technische Diskussion. Sicher ist aber, dass die kubanische Ökonomie bis heute noch nicht wieder das Produktionsniveau der Zeit vor 1989 erreicht hat. Wir liegen ungefähr bei einem Wert von 98 Prozent des Niveaus von vor 15 Jahren. Das heißt: Obwohl die Wirtschaft wächst, ist die Krise noch nicht überwunden. Es gibt noch viele ungelöste soziale Probleme - wie die Wohnungsfrage und das Verkehrswesen. Wir können nicht sagen, dass wir für all die Probleme schon Lösungen gefunden haben. Allerdings ist die wirtschaftliche Tendenz positiv – dafür gibt es einige Indikatoren. Zum Beispiel die Verträge mit Verträge mit China und Venezuela."
Mit China will Kuba den Nickelabbau intensivieren, mit Venezuela wurde die Lieferung von Öl zu günstigen Konditionen vereinbart, um die prekäre Energieversorgung der Insel zu verbessern. Diese Abkommen zeigen eines deutlich:
Nach der schweren Krise seit Anfang der 90er Jahre, in Kuba "periódo especial" genannt, hat die kubanische Regierung ihre Handlungsfähigkeit zurück gewonnen.
Seit 2003 mehren sich die Anzeichen einer Re-Zentralisierung der kubanischen Wirtschaft. Während dem kleinen Privatsektor mit Kontrollen und einer hohen pauschalen Besteuerung das Leben schwer gemacht wird, wurde den staatlichen Betrieben Anfang des Jahres die Führung eigener Devisenkonten gänzlich untersagt.
Doch nicht alle sind von dieser Reglementierung gleichermaßen betroffen. Die Sanierung von Havannas Altstadt etwa wird weiterhin aus Mitteln finanziert, die hauptsächlich durch den Tourismus erwirtschaftet werden. Weitgehend ohne finanzielle Unerstützung des Staates konnte in zehn Jahren rund ein Drittel von Havannas historischem Zentrum saniert werden. Doch gerade im südlichen Teil der Altstadt, in Vierteln wie Jesús Maria und San Isidro, stürzen immer noch ganze Straßenzüge ein. Patricia Rodriguez, die Direktorin des Altstadt-Masterplans, will das nicht bestreiten:
"Das stimmt zweifellos und ist nicht zu übersehen. Bedauerlicherweise stehen uns nicht genügend Finanzmittel zur Verfügung… Was wäre Kuba wohl für ein Land ohne den Wirtschaftsboykott, wie würde das historische Zentrum Havannas aussehen, wenn wir einen Kredit über eine Milliarde US-Dollar erhalten würden, rückzahlbar in 15 Jahren, bei einem Zinssatz von zwei Prozent? Das wäre ein Wunder.
Wir haben zum Beispiel ausgerechnet, dass wir mit einem Kredit von 250 Millionen US-Dollar die wichtigsten notwendigen Reparaturarbeiten in der Altstadt ausführen könnten, vor allem die undichten Dächer flicken.
Aber wo sind diese 250 Millionen US-Dollar. Wir müssen sie selbst erwirtschaften, weil uns niemand einen solchen Kredit gewährt. "
Weil Kuba dem US-Wirtschaftsembargo ausgesetzt ist und das Verhältnis zur EU durch Havannas Repressionspolitik gegenüber Regime-Gegnern belastet ist, müssen die Kubaner versuchen, aus eigenen Kräften die Mittel zu erwirtschaften, die es ihnen erlauben, einen "Dritten Weg" zu gehen, und eine Art staatskapitalistischen Sozialstaat zu errichten. Die Lokomotive der kubanischen Wirtschaft ist dabei der Tourismussektor.
Im Jahre 2004 kamen erstmalig mehr als zwei Millionen ausländische Besucher auf die Insel. Der Tourismus ist aber zugleich auch einer der entscheidenden Faktoren, der zur wachsenden Ungleichheit beiträgt. Und viele Kubaner empfinden es zudem als eine Art Apartheid, dass es ihnen untersagt ist, die Touristenressorts zu betreten. Der kubanische Wirtschaftswissenschaftler Omar Pérez hält es aber auch aus anderen Gründen langfristig nicht für sinnvoll, allein auf den Tourismus zu setzen:
"Für Kuba ist es ein wichtiger Weg gewesen. Und Kuba muss ihn auch weiter gehen, weil es nahe liegend ist, die natürlichen Ressourcen zu nutzen, das Klima und die Sonne. Aber in Zukunft wird es auch darauf ankommen in andere, stabilere Wirtschaftszweige zu investieren. Denn der Tourismus ist ein empfindlicher Sektor, bei dem ein Flugzeugabsturz gewaltige Folgen haben kann - so wie der 11. September fatale Auswirkungen auf den Tourismus in Kuba hatte und gezeigt hat, wie anfällig dieses Geschäft im Vergleich zu industriellen Branchen ist. Ich denke, die Chance der wirtschaftlichen Konsolidierung liegt in dem wichtigsten, was Kuba besitzt. Und das sind die Menschen und ihre gute Ausbildung.
Ich glaube aber nicht, dass Kuba versuchen sollte, allein vom Tourismus zu leben. Dafür bin ich nicht. Ich bin deshalb nicht gegen den Tourismus, er war und wird wichtig für Kuba sein, aber er muss genutzt werden, um in andere Wirtschaftsbereiche zu investieren. "
Irgendwie Geschäfte mit den Touristen machen - das wollen viele Kubaner. Einer der aktuellen "Reggaeton"-Hits handelt nicht zufällig von Yunai: einer jungen Kubanerin, die vor allem eins mag: die "Yumas". Und so werden im kubanischen Slang die Ausländer bezeichnet.
Dass es in Kuba mittlerweile Menschen gibt, die deutlich mehr Geld als andere haben, lässt sich kaum bestreiten - auch wenn sie ihren Wohlstand nicht ungehindert zur Schau stellen können. Es ist ein offenes Geheimnis, dass der Staat angesichts der Krise und der niedrigen Gehälter nicht viel gegen zunehmende Veruntreuungen und Korruption unternehmen kann. Seit den Reformen spielen die Einkünfte der Angestellten im Staatsdienst jedenfalls nur noch eine untergeordnete Rolle gegenüber - legalen wie illegalen - privaten Aktivitäten. Der Ökonom Omar Pérez wehrt sich allerdings dagegen, die nicht immer rechtlich einwandfreien Geschäfte seiner Landsleute als Korruption zu bezeichnen.
"Ich würde sagen, dass das ein ziemlich hartes Wort ist. Normalerweise, wenn man von Korruption spricht, ist das in der Regel in Verbindung mit dem Staat gemeint. Ich will nicht behaupten, dass es in Kuba keine Korruptionsfälle auf hoher staatlicher Ebene gegeben hat, aber es ist trotzdem keine generelle Erscheinung.
Man entwendet zum Beispiel Materialen, weil man kein eigenes Haus hat - denn der Wohnungsbau ist eines der grundlegenden Probleme Kubas. Mit den Materialien bauen sich die Leute dann eine Unterkunft von vielleicht zwei Mal zwei Quadratmetern. So etwas nennt man nirgendwo in der Welt Korruption.
Normalerweise hat man ein Einkommen, dass es einem ermöglicht, die notwendigen Materialien zu kaufen - in Kuba aber nicht. Korruption ist eine etwas zu allgemeine Beschreibung der Verhältnisse in Kuba, vielleicht trifft die Bezeichnung "Subsistenz" etwas besser. Aber im Grunde stimmt es schon, dass es Korruption ist. "
Baseball-Fans in Havannas Parque Central. An einem "Esquina Caliente", heiße Ecke, genannten Ort wird lauthals und wortgewaltig über Kubas Nationalsport gestritten.
Geht es um Politik, dann senken die meisten Kubaner allerdings ihre Stimmen. Reden sie zum Beispiel abfällig über Fidel, dann meist nur im privaten Rahmen.
Um seinen Namen nicht auszusprechen, streicht man sich dann mit zwei Fingern über das Kinn - gemeint ist damit der "barba", der Bart Castros.
Kritik darf man in Kuba auch weiterhin nur innerhalb des vorgegebenen Rahmens äußern - sonst wird man schnell als "Konterrevolutionär" gebrandmarkt.
Andererseits können kubanische Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler heute relativ offen über Phänomene wie die neue Armut forschen - oder auch von "systematischen Fehlern" sprechen. Obgleich sie sich vor dem Mikrofon manchmal nur vorsichtig über die Verhältnisse in Kuba äußern.
Die Grenze zwischen dem, was man als Wissenschaftler noch sagen kann und was einen schon zum Feind des Systems macht, ist ein schmaler Grad. Und die Reaktion des staatlichen Apparates ist schwer vorhersehbar. Trotzdem versuchen kubanische Sozialwissenschaftler und Ökonomen die Spielräume zu nutzen, der ihnen gewährt werden. Der Wirtschaftsprofessor Omar Pérez:
"Ich war immer für wirtschaftliche Privatinitiative. Denn die Länder, die in den letzten Jahren einen wirtschaftlichen Aufstieg erreicht haben und die vom politischen System her mit Kuba vergleichbar sind, wie etwa China und Vietnam, haben diesen Sektor genutzt.
Ich bin für Arbeit auf eigene Rechnung, die selbstverständlich vom Staat zu kontrollieren ist und für die Steuern bezahlt werden müssen. Ich bin auch für eine Art Mischform - die Kooperativen. Ich denke, dass sie in bestimmten Bereichen hilfreich sein können. Wenn es schon landwirtschaftliche Kooperativen gibt - warum dann nicht auch welche in anderen Bereichen? "
Es sind nicht wenige Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler, die ihren Einfluss bei der Ausgestaltung der kubanischen Gesellschaft geltend zu machen versuchen.
Doch es gibt auch Grenzen des Diskurses. Während sich im Kulturbereich bereits größere Nischen entwickelt haben, sind Wirtschaftswissenschaftler, Soziologen und Politikwissenschaftler einer schärferen Kontrolle ausgesetzt.
Die von der Kommunistischen Partei Kubas seit Jahren propagierte "Schlacht der Ideen" bedeutet nicht zuletzt die soziale Kontrolle staatlicher Institutionen und ersetzt häufig das, was man unter einer öffentlichen Debatte verstehen könnte.
Pablo Gonzales hat bis zum letzten Jahr Philosophie an der Universität von Havanna studiert. Dann hat er Kuba verlassen:
"Bei den Studenten ist eine Art politischer Apathie weit verbreitet. Viele glauben, dass wir sowieso nichts verändern können. Aber wir können Probleme bekommen. Darum redet man lieber nicht über Politik.
Die Diskussionen in Kuba sind häufig familiärer Natur, man redet in "Anführungszeichen", hinter geschlossenen Türen oder in der Pause auf dem Gang. Ich finde, damit muss endlich Schluss sein.
Das Problem ist: In Kuba werden Diskussionen immer dann beendet, wenn man als zu kritisch, als "Konterrevolutionär" eingestuft wird. "
Das kubanische System steht unter Legitimationsdruck. Daher fährt man in Havanna einen politischen Schlingerkurs, der zwischen Reform und Repression schwankt. So wurden im Vorfeld des Nationalfeiertages, des 26. Juli, erneut Regimegegner verhaftet, die in Havanna gegen Castro demonstrieren wollten.
Als Insel des Sozialismus hat sich Kuba – mehr oder minder – erfolgreich behauptet, der Supermacht USA Paroli geboten.
Doch nicht zuletzt aufgrund kaum zu beherrschender Einflüsse von außen und durch die Einbindung Kubas in die globalisierte Weltwirtschaft könnte es sein, dass Havanna über kurz oder lang dem Druck nach Öffnung und Wandel nachgeben muss. Der Schriftsteller Leonardo Padura jedenfalls ist der Ansicht, dass sich die gesellschaftliche Liberalisierung in Kuba nicht aufhalten lasse.
"Ich glaube schon, dass sich die Dinge sehr geändert haben… Die jungen Menschen von heute sind viel freier, sie haben viel mehr Möglichkeiten, so zu sein wie sie sind. In meiner Universitätszeit war eines unser großen Probleme, dass wir unser Haar nicht lang wachsen lassen durften. Heute haben die jungen Menschen Tattoos, tragen Ohrringe, Goldzähne (und Santería-Ketten). Die meisten jungen Leute, leben mit einer Distanz zu dieser schrecklichen Realität, leben einfach ihr Leben. "
"Der Mindestlohn wird von 100 auf 225 kubanische Peso erhöht werden. Diese Maßnahme gilt ab dem 1. Mai dieses Jahres. "
Fidel Castro in einer Fernsehansprache Ende April. Seit mehreren Monaten tritt der inzwischen greisenhaft wirkende 78jährige "máximo lider" fast wöchentlich vor die Mikrofone von Rundfunk und Fernsehen, um neue Maßnahmen zu verkünden. Erst wurde sowohl der kubanische Peso als auch der der so genannte Peso Convertible aufgewertet, dann erhöhte man die Renten.
"Wer in Rente gegangen ist, dem wird es an nichts fehlen. (Applaus). Und es ist auch möglich, dass in der Zukunft die Renten noch einmal erhöht werden."
"Bis eines Tages sogar die Lebensmittelrationierung verschwindet, die einmal eine so große Sache war.... "
Seit Fidel Castro sich vor über zehn Jahren in der schweren Krise nach dem Zusammenbruch des Ostblocks zu wirtschaftlichen Reformen genötigt sah, hat sich der "tropische Sozialismus" Kubas grundlegend gewandelt: Es gibt inzwischen Joint-Venture-Unternehmen, einen kleinen Privatsektor, und auch der Besitz von Devisen ist seit über zehn Jahren erlaubt - wenngleich seit November 2004 nicht mehr in Form von US-Dollar, sondern als so genannte "Peso Convertible".
Eine Folge der Reformen ist allerdings, dass sich das Wohlstandsgefälle vergrößert hat - und damit auch die Unterschiede im Lebensstandard zunehmen. Die Soziologin Mayra Espina vom CIPS, dem Zentrum für psychologische und soziologische Studien in Havanna, spricht von einer Differenzierung der Sozialstruktur:
"Eine wichtige Veränderung ist die zunehmende soziale Ungleichheit. Eine der entscheidenden Erfahrungen der kubanischen Revolution war die systematische Schaffung von Gleichheit. Durch die Krise und die Reformen haben sich Lebensbedingungen entwickelt, welche die sozialen Gegensätze vergrößert haben. Dazu gehört auch eine Armut in den Städten, die in einer Studie des Nationalinstituts für wirtschaftliche Forschungen auf rund 20 Prozent geschätzt wurde. Ich denke diese Zahl zeigt ganz gut, welch tief greifenden Wandel die kubanische Gesellschaft durch die Änderung der Eigentumsverhältnisse und die Zunahme der Ungleichheit in den 90er Jahren durchgemacht hat. "
Laut Mayra Espina gibt es nicht nur eine größere Einkommensschere zwischen Arm und Reich, sondern es entwickele sich auch eine neue soziale Hierarchie, die sich am materiellen Reichtum als Symbol des Erfolges orientiere.
Viele Waren des täglichen Bedarfs werden in staatlichen Geschäften ausschließlich in harter Währung - in Form des Peso Convertible - verkauft. Die Nahrungsmittel, die man dagegen mit der "libreta" bezieht, dem kubanischen Lebensmittelbuch, reichen in der Regel gerade einmal bis zur Monatsmitte. Der kubanische Schriftsteller Leonardo Padura über den Überlebenskampf seiner Landsleute:
"Der Durchschnittslohn in Kuba beträgt nur 250 Pesos, das sind rund zehn US-Dollar im Monat. Doch eine Flasche Speiseöl kostet beispielsweise zwei Dollar, das ist ein Fünftel des Gehalts. Darum haben die Menschen hier Überlebensstrategien entwickeln müssen und das entscheidende Verb in Kuba heißt: resolver, "Probleme lösen". Die Menschen "lösen" ihr Leben, zum Teil auch auf illegalen Wegen. "
Auch wenn sich das Durchschnittseinkommen durch die jüngsten Maßnahmen auf rund zwölf US-Dollar erhöht hat - das Dilemma bleibt. Schätzungen zufolge benötigt eine fünfköpfige Familie das Siebenfache des monatlichen Einkommens, um den Grundbedarf an Lebensmitteln, Kleidung und Reinigungsartikeln decken zu können.
Nicht wenige Kubaner entwenden daher in den staatlichen Betrieben Materialien, um sie auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. Andere verdienen direkt oder indirekt an den Touristen, oder sie überleben dank der "remesas", der Überweisungen ihrer Verwandten aus dem Ausland. Der Student Pablo González über die Situation in Kuba:
"Das System funktioniert einfach nicht, weil es nicht in
der Lage ist, die Bedürfnisse vieler Menschen zu erfüllen…
Darum kaufen die Leute auf dem Schwarzmarkt ein, und insgesamt hat die Illegalität eine gewaltige Dimension erreicht. Denn was kann einer in Kuba schon mit zehn Euro im Monat anfangen? "
Die Informationen über die wirtschaftliche Situation Kubas sind alles in allem widerspruchsvoll. Sicher scheint zumindest, dass die Staatskassen ziemlich leer sind. Die kubanische Zentralbank veröffentlicht zwar keine genauen Zahlen, ausländische Beobachter schätzen aber, dass allein die Auslandverschuldung über 12 Milliarden US-Dollar beträgt.
Es gibt aber auch positive Signale. So wächst die kubanische Ökonomie seit Jahren kontinuierlich. Der Wirtschaftsprofessor Omar Pérez:
"Seit 2003 wird das Bruttoinlandsprodukt in Kuba neu berechnet, weil die unentgeltlichen staatlichen Leistungen und Dienste mit erfasst werden. Demnach ist die Wirtschaft Kubas um fünf Prozent gewachsen, nach der alten Methode, die einen internationalen Vergleich erlaubt, um immerhin drei Prozent. Das ist eine technische Diskussion. Sicher ist aber, dass die kubanische Ökonomie bis heute noch nicht wieder das Produktionsniveau der Zeit vor 1989 erreicht hat. Wir liegen ungefähr bei einem Wert von 98 Prozent des Niveaus von vor 15 Jahren. Das heißt: Obwohl die Wirtschaft wächst, ist die Krise noch nicht überwunden. Es gibt noch viele ungelöste soziale Probleme - wie die Wohnungsfrage und das Verkehrswesen. Wir können nicht sagen, dass wir für all die Probleme schon Lösungen gefunden haben. Allerdings ist die wirtschaftliche Tendenz positiv – dafür gibt es einige Indikatoren. Zum Beispiel die Verträge mit Verträge mit China und Venezuela."
Mit China will Kuba den Nickelabbau intensivieren, mit Venezuela wurde die Lieferung von Öl zu günstigen Konditionen vereinbart, um die prekäre Energieversorgung der Insel zu verbessern. Diese Abkommen zeigen eines deutlich:
Nach der schweren Krise seit Anfang der 90er Jahre, in Kuba "periódo especial" genannt, hat die kubanische Regierung ihre Handlungsfähigkeit zurück gewonnen.
Seit 2003 mehren sich die Anzeichen einer Re-Zentralisierung der kubanischen Wirtschaft. Während dem kleinen Privatsektor mit Kontrollen und einer hohen pauschalen Besteuerung das Leben schwer gemacht wird, wurde den staatlichen Betrieben Anfang des Jahres die Führung eigener Devisenkonten gänzlich untersagt.
Doch nicht alle sind von dieser Reglementierung gleichermaßen betroffen. Die Sanierung von Havannas Altstadt etwa wird weiterhin aus Mitteln finanziert, die hauptsächlich durch den Tourismus erwirtschaftet werden. Weitgehend ohne finanzielle Unerstützung des Staates konnte in zehn Jahren rund ein Drittel von Havannas historischem Zentrum saniert werden. Doch gerade im südlichen Teil der Altstadt, in Vierteln wie Jesús Maria und San Isidro, stürzen immer noch ganze Straßenzüge ein. Patricia Rodriguez, die Direktorin des Altstadt-Masterplans, will das nicht bestreiten:
"Das stimmt zweifellos und ist nicht zu übersehen. Bedauerlicherweise stehen uns nicht genügend Finanzmittel zur Verfügung… Was wäre Kuba wohl für ein Land ohne den Wirtschaftsboykott, wie würde das historische Zentrum Havannas aussehen, wenn wir einen Kredit über eine Milliarde US-Dollar erhalten würden, rückzahlbar in 15 Jahren, bei einem Zinssatz von zwei Prozent? Das wäre ein Wunder.
Wir haben zum Beispiel ausgerechnet, dass wir mit einem Kredit von 250 Millionen US-Dollar die wichtigsten notwendigen Reparaturarbeiten in der Altstadt ausführen könnten, vor allem die undichten Dächer flicken.
Aber wo sind diese 250 Millionen US-Dollar. Wir müssen sie selbst erwirtschaften, weil uns niemand einen solchen Kredit gewährt. "
Weil Kuba dem US-Wirtschaftsembargo ausgesetzt ist und das Verhältnis zur EU durch Havannas Repressionspolitik gegenüber Regime-Gegnern belastet ist, müssen die Kubaner versuchen, aus eigenen Kräften die Mittel zu erwirtschaften, die es ihnen erlauben, einen "Dritten Weg" zu gehen, und eine Art staatskapitalistischen Sozialstaat zu errichten. Die Lokomotive der kubanischen Wirtschaft ist dabei der Tourismussektor.
Im Jahre 2004 kamen erstmalig mehr als zwei Millionen ausländische Besucher auf die Insel. Der Tourismus ist aber zugleich auch einer der entscheidenden Faktoren, der zur wachsenden Ungleichheit beiträgt. Und viele Kubaner empfinden es zudem als eine Art Apartheid, dass es ihnen untersagt ist, die Touristenressorts zu betreten. Der kubanische Wirtschaftswissenschaftler Omar Pérez hält es aber auch aus anderen Gründen langfristig nicht für sinnvoll, allein auf den Tourismus zu setzen:
"Für Kuba ist es ein wichtiger Weg gewesen. Und Kuba muss ihn auch weiter gehen, weil es nahe liegend ist, die natürlichen Ressourcen zu nutzen, das Klima und die Sonne. Aber in Zukunft wird es auch darauf ankommen in andere, stabilere Wirtschaftszweige zu investieren. Denn der Tourismus ist ein empfindlicher Sektor, bei dem ein Flugzeugabsturz gewaltige Folgen haben kann - so wie der 11. September fatale Auswirkungen auf den Tourismus in Kuba hatte und gezeigt hat, wie anfällig dieses Geschäft im Vergleich zu industriellen Branchen ist. Ich denke, die Chance der wirtschaftlichen Konsolidierung liegt in dem wichtigsten, was Kuba besitzt. Und das sind die Menschen und ihre gute Ausbildung.
Ich glaube aber nicht, dass Kuba versuchen sollte, allein vom Tourismus zu leben. Dafür bin ich nicht. Ich bin deshalb nicht gegen den Tourismus, er war und wird wichtig für Kuba sein, aber er muss genutzt werden, um in andere Wirtschaftsbereiche zu investieren. "
Irgendwie Geschäfte mit den Touristen machen - das wollen viele Kubaner. Einer der aktuellen "Reggaeton"-Hits handelt nicht zufällig von Yunai: einer jungen Kubanerin, die vor allem eins mag: die "Yumas". Und so werden im kubanischen Slang die Ausländer bezeichnet.
Dass es in Kuba mittlerweile Menschen gibt, die deutlich mehr Geld als andere haben, lässt sich kaum bestreiten - auch wenn sie ihren Wohlstand nicht ungehindert zur Schau stellen können. Es ist ein offenes Geheimnis, dass der Staat angesichts der Krise und der niedrigen Gehälter nicht viel gegen zunehmende Veruntreuungen und Korruption unternehmen kann. Seit den Reformen spielen die Einkünfte der Angestellten im Staatsdienst jedenfalls nur noch eine untergeordnete Rolle gegenüber - legalen wie illegalen - privaten Aktivitäten. Der Ökonom Omar Pérez wehrt sich allerdings dagegen, die nicht immer rechtlich einwandfreien Geschäfte seiner Landsleute als Korruption zu bezeichnen.
"Ich würde sagen, dass das ein ziemlich hartes Wort ist. Normalerweise, wenn man von Korruption spricht, ist das in der Regel in Verbindung mit dem Staat gemeint. Ich will nicht behaupten, dass es in Kuba keine Korruptionsfälle auf hoher staatlicher Ebene gegeben hat, aber es ist trotzdem keine generelle Erscheinung.
Man entwendet zum Beispiel Materialen, weil man kein eigenes Haus hat - denn der Wohnungsbau ist eines der grundlegenden Probleme Kubas. Mit den Materialien bauen sich die Leute dann eine Unterkunft von vielleicht zwei Mal zwei Quadratmetern. So etwas nennt man nirgendwo in der Welt Korruption.
Normalerweise hat man ein Einkommen, dass es einem ermöglicht, die notwendigen Materialien zu kaufen - in Kuba aber nicht. Korruption ist eine etwas zu allgemeine Beschreibung der Verhältnisse in Kuba, vielleicht trifft die Bezeichnung "Subsistenz" etwas besser. Aber im Grunde stimmt es schon, dass es Korruption ist. "
Baseball-Fans in Havannas Parque Central. An einem "Esquina Caliente", heiße Ecke, genannten Ort wird lauthals und wortgewaltig über Kubas Nationalsport gestritten.
Geht es um Politik, dann senken die meisten Kubaner allerdings ihre Stimmen. Reden sie zum Beispiel abfällig über Fidel, dann meist nur im privaten Rahmen.
Um seinen Namen nicht auszusprechen, streicht man sich dann mit zwei Fingern über das Kinn - gemeint ist damit der "barba", der Bart Castros.
Kritik darf man in Kuba auch weiterhin nur innerhalb des vorgegebenen Rahmens äußern - sonst wird man schnell als "Konterrevolutionär" gebrandmarkt.
Andererseits können kubanische Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler heute relativ offen über Phänomene wie die neue Armut forschen - oder auch von "systematischen Fehlern" sprechen. Obgleich sie sich vor dem Mikrofon manchmal nur vorsichtig über die Verhältnisse in Kuba äußern.
Die Grenze zwischen dem, was man als Wissenschaftler noch sagen kann und was einen schon zum Feind des Systems macht, ist ein schmaler Grad. Und die Reaktion des staatlichen Apparates ist schwer vorhersehbar. Trotzdem versuchen kubanische Sozialwissenschaftler und Ökonomen die Spielräume zu nutzen, der ihnen gewährt werden. Der Wirtschaftsprofessor Omar Pérez:
"Ich war immer für wirtschaftliche Privatinitiative. Denn die Länder, die in den letzten Jahren einen wirtschaftlichen Aufstieg erreicht haben und die vom politischen System her mit Kuba vergleichbar sind, wie etwa China und Vietnam, haben diesen Sektor genutzt.
Ich bin für Arbeit auf eigene Rechnung, die selbstverständlich vom Staat zu kontrollieren ist und für die Steuern bezahlt werden müssen. Ich bin auch für eine Art Mischform - die Kooperativen. Ich denke, dass sie in bestimmten Bereichen hilfreich sein können. Wenn es schon landwirtschaftliche Kooperativen gibt - warum dann nicht auch welche in anderen Bereichen? "
Es sind nicht wenige Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler, die ihren Einfluss bei der Ausgestaltung der kubanischen Gesellschaft geltend zu machen versuchen.
Doch es gibt auch Grenzen des Diskurses. Während sich im Kulturbereich bereits größere Nischen entwickelt haben, sind Wirtschaftswissenschaftler, Soziologen und Politikwissenschaftler einer schärferen Kontrolle ausgesetzt.
Die von der Kommunistischen Partei Kubas seit Jahren propagierte "Schlacht der Ideen" bedeutet nicht zuletzt die soziale Kontrolle staatlicher Institutionen und ersetzt häufig das, was man unter einer öffentlichen Debatte verstehen könnte.
Pablo Gonzales hat bis zum letzten Jahr Philosophie an der Universität von Havanna studiert. Dann hat er Kuba verlassen:
"Bei den Studenten ist eine Art politischer Apathie weit verbreitet. Viele glauben, dass wir sowieso nichts verändern können. Aber wir können Probleme bekommen. Darum redet man lieber nicht über Politik.
Die Diskussionen in Kuba sind häufig familiärer Natur, man redet in "Anführungszeichen", hinter geschlossenen Türen oder in der Pause auf dem Gang. Ich finde, damit muss endlich Schluss sein.
Das Problem ist: In Kuba werden Diskussionen immer dann beendet, wenn man als zu kritisch, als "Konterrevolutionär" eingestuft wird. "
Das kubanische System steht unter Legitimationsdruck. Daher fährt man in Havanna einen politischen Schlingerkurs, der zwischen Reform und Repression schwankt. So wurden im Vorfeld des Nationalfeiertages, des 26. Juli, erneut Regimegegner verhaftet, die in Havanna gegen Castro demonstrieren wollten.
Als Insel des Sozialismus hat sich Kuba – mehr oder minder – erfolgreich behauptet, der Supermacht USA Paroli geboten.
Doch nicht zuletzt aufgrund kaum zu beherrschender Einflüsse von außen und durch die Einbindung Kubas in die globalisierte Weltwirtschaft könnte es sein, dass Havanna über kurz oder lang dem Druck nach Öffnung und Wandel nachgeben muss. Der Schriftsteller Leonardo Padura jedenfalls ist der Ansicht, dass sich die gesellschaftliche Liberalisierung in Kuba nicht aufhalten lasse.
"Ich glaube schon, dass sich die Dinge sehr geändert haben… Die jungen Menschen von heute sind viel freier, sie haben viel mehr Möglichkeiten, so zu sein wie sie sind. In meiner Universitätszeit war eines unser großen Probleme, dass wir unser Haar nicht lang wachsen lassen durften. Heute haben die jungen Menschen Tattoos, tragen Ohrringe, Goldzähne (und Santería-Ketten). Die meisten jungen Leute, leben mit einer Distanz zu dieser schrecklichen Realität, leben einfach ihr Leben. "