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Zwischen reicher Tieflandprovinz und armen Anden

Mehr als 80 Präsidenten hat Bolivien seit Gründung der Republik 1825 verschlissen, Putschversuche und Militärdiktaturen über sich ergehen lassen müssen. Trotzdem wurden die Reichen immer reicher und die armen immer ärmer. Seit Dezember 2006 regiert der ehemalige Anführer der Koka-Bauern und Aymara-Indianer Evo Morales. Er hat ein schweres Erbe angetreten. Erst vor wenigen Wochen wurde das Land wieder von blutigen Unruhen erschüttert.

Claudia Heissenberg |
    "Unser Präsident sagt, seine Erziehung, seine Universität war das Leben. Ohne studiert zu haben, ist er Präsident geworden und wir unterstützen ihn dabei. Leute wie wir wissen, dass unser Präsident gelitten hat, denn auch wir leiden darunter, dass wir kein Geld haben und hoffen, dass sich das ändert. Hoffentlich irren sich unsere Regierung und unser Präsident nicht. Aber wir haben Vertrauen, denn wir hatten schon viele Präsidenten in diesem Land, das waren immer welche, die Geld hatten und ein bisschen rassistisch waren, die haben immer alles nur unter sich ausgemacht".

    Für Ninfla Flores, die vor 20 Jahren in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft vom Titicacasee nach La Paz zog, ist Evo Morales ein Held. Wie 54 Prozent der Bolivianer hat sie dem ehemaligen Anführer der Koka-Bauern bei den Präsidentschaftswahlen im Dezember 2006 ihre Stimme gegeben. Mit ihm schafft es zum ersten Mal ein Vertreter der indigenen Mehrheit in das höchste Amt. Er verkörpert das neue Selbstbewusstsein der Indianer, und seine Herkunft schafft ihm einen Vertrauensbonus, sagt Eduardo Godoy, Nachrichtenchef bei Radio Television Popular.

    "Falls die Freunde in Europa es nicht wissen sollten, hier ist die Mehrheit der Leute arm. Es gibt nur eine kleine Gruppe Privilegierter, die allerdings enorm viel Macht besitzt, weil sie die Medien kontrolliert. Die Regierung von Evo Morales hat nun mit großer sozialer Kraft angefangen, die wichtigsten Unternehmen zu verstaatlichen und die kleinen und mittleren Betriebe zu stärken."

    Fast ein Viertel aller Bolivianer muss mit weniger als einem Euro am Tag auskommen; das sind mehr als zwei Millionen Menschen. Seit Evo Morales regiert, beschert die neue Altersrente allen über 60 20 Euro mehr im Monat und Familien mit schulpflichtigen Kindern erhalten Geld für Hefte, Stifte und Bücher. Im Gesundheitswesen und im Bildungssektor greifen die neuen Freunde aus Kuba den Bolivianern unter die Arme.

    "Die Kubaner haben Krankenhäuser gebaut und zur Zeit arbeiten 3000 kubanische Ärzte in Bolivien, was die Situation auf dem Land sehr verbessert hat. Außerdem wird Bolivien noch in diesem Jahr frei vom Analphabetismus sein, dank der kubanischen Unterstützung."

    Wirtschaftlich geht es Bolivien so gut wie nie zuvor. Aufgrund gestiegener Weltmarktpreise für Erdgas, Erdöl und Edelmetalle haben sich die Exportgewinne vervierfacht. Trotzdem mehrt sich vor allem im Osten des Landes der Widerstand. Die Tieflandprovinzen entlang der brasilianischen Grenze besitzen fruchtbares Weide- und Ackerland für Rinderherden und Soja, im Boden lagern riesige Erdgasvorkommen. Großgrundbesitzer und Agrarunternehmer halten wenig von den Reformen der zentralistischen Regierung, die ihre Privilegien beschneiden. Der 61-jährige Tischler Lorenzo Llucra ärgert sich über diesen Protest.

    "Zum ersten Mal regiert er, aber sie lassen ihn nicht, diese Millionäre von da unten mit ihren riesigen Ländereien, Millionäre sind sie, Supermillionäre, die immer noch wollen, dass wir unser ganzes Leben lang arm bleiben, aber wir wollen in Würde leben. Seit gut zwei Jahren regiert er erst, aber sie haben uns mehr als 50 Jahre regiert und was haben wir von ihnen bekommen? Nichts. Aber sie sind wenige und wir sind viele und wir werden uns erheben."

    Die Fronten haben sich verhärtet, unvereinbar stehen sich Morales Anhänger und Gegner gegenüber und greifen zu immer drastischeren Mitteln. Es geht um die Frage, wem das Land und die Rohstoffe gehören, also um viel Geld. Rund 80 Prozent der Tieflandbewohner haben bei den Volksentscheiden im Mai und Juni für mehr Autonomie gestimmt. Die reichen Provinzen wollen in Zukunft das arme Hochland nicht mehr mit finanzieren, sondern über die Einnahmen aus Erdgasförderung und Soja-Anbau selbst bestimmen und eigene Steuern erheben.

    "Und das ist genau das Risiko. Da die Probleme sich nicht im Rahmen der Gesetze, der Demokratie lösen lassen, gibt es die Gefahr von Zusammenstößen, die Gefahr eines Bürgerkrieges. Denn es gibt hier im Land eine Mehrheit, die sich von einer Minderheit unterdrückt fühlt, und die Leute fangen an darüber zu sprechen, ihrem Recht Respekt zu verschaffen."

    Als der ehemalige Präfekt von La Paz vor einigen Monaten in seiner Fernsehsendung die Autonomie befürwortete, ging sein Sender kurz darauf in Flammen auf. Und im Mai machte sich eine Indianer-Gruppe auf, die amerikanische Botschaft zu stürmen, erinnert sich der Deutsch-Bolivianer Emilio von Bergen, der in La Paz das Papierunternehmen "La Papelera" führt.

    "Die Regierung wollte ein paar Tote haben in der amerikanischen Botschaft, nech, um dann daraus einen Skandal zu machen. Erstens um zu zeigen, wie böse das Imperium ist, also die Regierung spricht immer vom Imperium, und dann natürlich auch um ein bisschen Nebel zu sprühen über die ganzen Probleme, die wir im Moment hier in Bolivien haben, nicht."

    Mittlerweile wurde der amerikanische Botschafter des Landes verwiesen. In Santa Cruz, Tarija und Pando haben Autonomie-Anhänger Regierungsgebäude gestürmt und verwüstet. Der Konflikt zwischen Indianern und Nicht-Indianern schwelt schon lange in der bolivianischen Gesellschaft, auch die Kluft zwischen Hoch- und Tiefland ist nicht erst mit Evo Morales entstanden. Aber die Auseinandersetzungen haben sich verschärft und Bolivien an den Rand der Regierungsfähigkeit gebracht. Der Politiker Victor Hugo Cárdenas, selbst Aymara-Indianer, sieht die Zukunft des Landes schwarz.

    "Evo Morales und seine Partei, die MAS, d.h. die ganze gegenwärtige Regierung ist beseelt von einem historischen Revanchismus. Die Weißen, die Kreolen und die Mestizen haben lange genug profitiert, jetzt sind die Indianer an der Reihe. Mittlerweile gibt es regionale, ethnische und sprachliche Auseinandersetzungen, die so weit gehen, dass Indianer Mestizen die Krawatte vom Hals reißen. Die Regierung verfolgt eine feindselige Politik gegen alle Nicht-Indianer."

    Die jahrhundertealte Vormachtsstellung der Weißen zu brechen, die historische Schuld zu tilgen, das ist der Traum der Indianer, den Evo Morales mit aller Macht verwirklichen will. Seit der Eroberung Boliviens durch die Spanier werden sie an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Die Studentin Noelia Nava, die 2004 für ein Jahr als Austauschschülerin in Wuppertal war, bemerkt in letzter Zeit allerdings einen umgekehrten Rassismus in La Paz.

    "Also früher war das nicht so, aber jetzt mittlerweile mit Evo Morales sie, also die arme Leute kann man sagen, dass sie mehr Kraft haben, aber wie benutzen sie diese Kraft? Wir haben alle Angst, was kommt nächst, was kommt morgen, was kommt nächste Woche?"