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Zwischen Schönheitssalon und Chefetage

In einem Viertel der russischen Haushalte bringt die Frau allein das Einkommen auf. Doch obwohl es vor allem Frauen sind, die die russische Gesellschaft stützen, ist ihre Rolle in der Politik nicht gefragt.

Von Gesine Dornblüth | 01.03.2008
    Die Leiterin einer russischen Frauenorganisation im südrussischen Novotscherkassk über die Rollenverteilung in ihrem Land:

    "Wo viel Geld ist, sind Männer. Wo viel Arbeit ist, sind Frauen. Das war immer so - auch in der Sowjetunion."

    Und eine junge Moskauer Fitnesstrainerin über die moderne Russin:

    "Es gibt jetzt sehr viele starke Frauen in Russland. Für Frauen steht die Karriere an Nummer eins, und um Karriere zu machen, müssen sie vor allen Dingen gut aussehen."


    Alleinerziehend in Moskau - Ein Porträt
    Ein kleiner Backsteinbau auf einem Moskauer Fabrikgelände. Irina Burmistrova sitzt im Büro im oberen Stockwerk. Es ist Freitagnachmittag, gleich beginnt das Wochenende.

    Irina Burmistrova arbeitet in einer Firma, die Ledereinbände herstellt: Speisekarten für Restaurants, Kalender, Notizbücher. Die 45-Jährige leitet den Verkauf. Sie hat etwa ein Dutzend Mitarbeiter, zur Hälfte Männer, zur Hälfte Frauen. Es ist eng, auch auf Irina Burmistrovas Schreibtisch: Eine leere Packung Kefir versperrt den Blick auf den Computerbildschirm, Teetasse, Notizbuch und Taschenrechner belegen den restlichen Platz. Sie legt den Hörer auf und setzt ihre randlose Brille ab.

    "Die Woche war gut. Wir hatten alle Hände voll zu tun. Am Wochenende fahren wir wohl auf die Datscha. Da leben meine Eltern, die Landschaft dort ist wunderschön. Wir haben eine Sauna. Schade nur, dass kein Schnee liegt. So können wir kein Ski laufen. Das mache ich sonst jedes Wochenende."

    Wenn Irina Burmistrova "wir” sagt, dann meint sie sich und ihren erwachsenen Sohn. Er studiert bereits. Die Moskauerin ist alleinerziehend - wie etwa jede vierte Mutter in Russland. Zweimal war sie verheiratet. Von dem ersten Mann hat sie sich getrennt, weil er sich nicht um das Kind gekümmert hatte; der zweite trank.

    Irina Burmistrova zieht sich eine Pelzjacke über und setzt eine Lederkappe auf die blonden Haare. In den Mokassinstiefeln und dem kurzen Faltenrock sieht sie wesentlich jünger aus.

    Viele alleinerziehende Mütter leben in Armut, auch in Russland. Irina Burmistrova ist eine Ausnahme. Sie verdient gut, je nach Umsatz zwischen 2000 und 4000 Euro im Monat. Das war nicht immer so.

    "Vor meiner zweiten Scheidung habe ich bei meinem Mann gearbeitet, bei ihm in der Firma. Danach musste ich mir eine neue Arbeit suchen. Es gab ein Jahr, in dem ich sechsmal den Arbeitsplatz gewechselt habe."

    Gegenüber vom Fabriktor wartet der Bus. Irina Burmistrova läuft los. Es ist glatt. Im Bus ist es kalt und riecht nach Abgasen.

    In der Sowjetunion waren Frauen offiziell gleichberechtigt. Die Realität sah anders aus. Tatsächlich hatten die meisten von ihnen Berufe, die schlechter bezahlt wurden als die ihrer männlichen Zeitgenossen. Zusätzlich kümmerten sie sich um die Kinder und den Haushalt. Diese Doppelbelastung hat sich bis heute gehalten. In einem Viertel der russischen Haushalte bringt sogar die Frau allein das Einkommen auf. Viele Männer hingegen fallen als Ernährer aus. Der Grund ist Alkohol. Schätzungen zufolge ist jeder zweite russische Mann alkoholkrank. Ihre Lebenserwartung liegt durchschnittlich bei nur 59 Jahren, russische Frauen dagegen werden 72 Jahre alt.

    Nach einer dreiviertel Stunde ist Irina Burmistrova zuhause. Sie wohnt in einem vierstöckigen Klinkerbau. Das Haus wurde Ende der 50er Jahre gebaut, speziell für alleinerziehende Mütter mit Kindern. Bürgerkriege, Hungersnöte, politische Repressionen und schließlich der Zweite Weltkrieg hatten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Sowjetunion Millionen Opfer gefordert, besonders unter jungen Männern. Nach dem Krieg kamen auf einen Mann mehr als zwei Frauen. Ein leichter Frauenüberschuss hält sich bis heute.

    Irina Burmistrova ist in dem Haus aufgewachsen. Ihre Großmutter bekam hier 1957 ein Zimmer in einer Gemeinschaftswohnung. Auch sie zog ihren Sohn allein groß, der Mann war im Krieg gefallen. Die Straßenschuhe hinterlassen feuchte Spuren auf dem Flurboden. Schnell geht sie ins Bad, holt einen Lappen, nimmt Gästepantoffeln aus dem Schrank.

    "Leider schleppt man bei dem Wetter allen Schmutz von der Straße herein. Das wischt man besser gleich auf. Lassen Sie uns einen Tee trinken. Ich habe eine neue Sorte."

    Mittlerweile hat Irina Burmistrova die einstige Gemeinschaftswohnung für sich. Aus den ursprünglich drei kleinen Räumen hat sie zwei große gemacht, eins für den Sohn, eins für sich selbst. Die Tür zu ihrem Zimmer steht offen. Ein Vorhang verbirgt die Schlafecke, davor stehen ein Sofa, Sessel, ein großer Fernseher, ein Fitnessgerät.

    Von ihrem ersten Mann hat sie sich Anfang der 90er Jahre getrennt. Eine schwere Zeit. Die Sowjetunion hatte sich aufgelöst, das Land lag am Boden, und der Sohn war gerade anderthalb.

    "Nicht dass wir gehungert hätten, aber wir haben uns sehr bescheiden ernährt. Ich habe ein Huhn gekauft und komplett verkocht: Erst eine Brühe, dann das Fleisch. Und ich habe sehr oft Piroggen gebacken: Das russische Nationalgericht. Das hat viele Kalorien, viel Teig und kostet wenig. Gott sei Dank wurde nach zwei, drei Jahren alles besser.

    Jemand, der psychisch weniger gefestigt ist, hätte in der Situation zerbrechen können. Ich aber habe beschlossen, dass ich selbst zurechtkommen muss. Und Schritt für Schritt ist mir das gelungen."

    Ohne ihre Mutter hätte sie das nicht geschafft, sagt sie. Die war damals schon Rentnerin und sprang ein, wenn der Sohn mal krank war.

    "Aber das ist ein Problem, das weiß ich von anderen Frauen. Arbeitgeber dulden es maximal eine Woche, wenn eine Mutter bei ihrem kranken Kind zu Hause bleibt."

    Der Tee ist fertig, und Irina Burmistrova löffelt dazu gezuckerte Feigenmarmelade. Ihre Ehemänner hatten nie im Haushalt geholfen. Für sie ein Trennungsgrund. Ihren Sohn habe sie anders erzogen, sagt sie.

    "Mein Sohn wäscht. Natürlich haben wir eine Waschmaschine. Aber er hängt die Wäsche auf und legt sie zusammen. Er bringt den Müll runter. Und er saugt die Teppiche ab. Er kocht nicht. Obwohl: Da ich in letzter Zeit viel reise und er allein hier ist, kommt er nicht drum herum. Einmal wollte er mir eine Freude machen und hat ein wunderbares Hühnergericht im Ofen zubereitet. Richtig schön, mit Mayonnaise und Käse und Kartoffeln und Zwiebeln. Hübsch angerichtet, so wie Männer das mögen, wenn sie schon mal kochen."

    Ihr Freund ist am Telefon. Irina Burmistrova ist seit Langem das erste Mal wieder verliebt.

    "Es wäre schön, einen klugen Mann zu haben, der von selbst sieht, wann er seiner Frau helfen sollte. Einen, den man nicht ständig beknien muss, damit er einem hilft. Das wäre ideal. Ich glaube, solche Männer gibt es."

    Schon zu Sowjetzeiten war es völlig normal, dass Frauen arbeiteten - auch körperlich. Sie verlegten Eisenbahnschienen, schufteten auf dem Bau, fällten Bäume.

    "In der Stadt Berditschew” ist eine Erzählung von Wassilij Grossman. Sie ist besser bekannt unter dem Titel "Die Kommissarin”, mit dem sie auch verfilmt wurde. Die Erzählung spielt in der Revolutionszeit. Im Mittelpunkt steht die fanatische Bolschewistin Klawdija Wawilowa, die aus Versehen schwanger wird - und damit in tiefe Konflikte stürzt.

    "'Seltsam war es anzusehen, wie das dunkle, vom Wind spröde gewordene Gesicht der Wawilowa errötete.
    'Was lachst du?' sagte sie schließlich. 'Das ist doch dumm!’
    Kosirjew nahm ein Blatt Papier vom Tisch, blickte darauf, schüttelte den Kopf und brach erneut in Lachen aus.
    'Nein, das geht nicht...’, sagte er von Lachen geschüttelt. 'Meldung: Die Kommissarin des 1. Bataillons wird wegen Schwangerschaft für vierzig Tage...’
    Er wurde ernst.
    Die Stimme senkend, als spräche er über etwas Peinliches, fragte er: 'Wirst du bald gebären, Klawdja?’
    'Bald’, antwortete die Wawilowa, nahm die Pelzmütze ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
    'Ich hätt's abgetrieben’, sagte sie mit ihrer tiefen Stimme, 'hab's aber verschlampt, weißt ja selbst, dass ich drei Monate nicht vom Pferd heruntergekommen bin. Als ich ins Hospital kam, wollte der Arzt schon nichts mehr unternehmen.’ Sie schniefte, als wolle sie gleich losheulen.
    'Ich hab ihn noch mit dem Gewehr zwingen wollen, den Verfluchten, er aber hat abgelehnt: zu spät, hat er gesagt!’
    Sie verließ das Zimmer, und Kosirjew saß an seinem Schreibtisch und stierte auf die Meldung.
    'Dabei hat die Wawilowa doch nichts von einem Weib an sich’, dachte er, 'geht mit dem Gewehr, trägt Lederkleidung, hat das Bataillon unzählige Male zum Sturmangriff geführt, sogar ihre Stimme ist alles andere als die eines Weibsbildes, und was kommt raus: Die Natur verlangt ihren Tribut.’
    In die Meldung schreib er: 'Hiermit ordne ich an... vom heutigen Datum an der Wawilowa 40 Tage Urlaub zu geben.’ Er dachte nach und fügte hinzu: '...krankheitshalber.’ Dann kritzelte er noch das Wort 'Frauen’ davor, fluchte und strich die Hinzufügung wieder durch.""


    "Wer trinkt, der schlägt" - Häusliche Gewalt auf dem Land
    Krivjanskoe im Süden Russlands. Eine Siedlung, wie es sie zu Tausenden in Russland gibt: lange schnurgerade Straßen, rechts und links Bretterzäune und bunt gestrichene Holzhäuser: hellblau, grün, rot. Dazu Schuppen, Plumpsklos und Gärten. Einsame Köter. Ab und zu ein windschiefer Kiosk. Doch Krivjanskoe ist berühmt für seine Tomaten. Hinter den Häusern erstrecken sich Reihen nackter, rostiger Metallbögen. An einigen weht noch etwas Folie. Im Frühjahr werden die Bewohner die Bögen frisch mit Planen überspannen und in den Gewächshäusern die Saat in die Erde bringen.

    Svetlana Galuschkina kommt trotz des strengen Frosts in ihrem kurzärmligen Hauskleid heraus auf den Hof, um den Besuch zu begrüßen. Ihr Grundstück ist pieksauber und aufgeräumt. Auf einer Bank stehen einige Schüsseln und Wannen. Alles strahlt hellblau und weiß.

    Svetlana Galuschkina ist eine Autorität im Ort. Denn sie kämpft gegen das, wie sie findet, größte Übel in Krivjanskoe: Gewalt gegen Frauen. Verübt von Männern. Meist von betrunkenen Männern.

    "Wenn der Mann nicht trinkt, trinkt der Sohn. Ich kann mich damit nicht abfinden. Ich werde darüber reden. Das ist doch nicht normal!"

    Im Wohnzimmer sitzen die Schwiegertochter, die Schwägerin, die Nachbarin und eine Freundin. Es ist Feiertag, und Svetlana Galuschkina hat eingeladen. Alle wohnen in Krivjanskoe. Die Tochter deckt den Tisch. Die Enkeltochter klettert auf das Sofa.

    "Wir haben ein echtes Matriarchat. Mein Enkel ist der einzige Mann im Haus."

    Ihren Ehemann zählt Svetlana Galuschkina nicht mit. Er ist mal wieder betrunken, wie so oft, und schläft. Unzählige Male hat er sie geschlagen.

    "Mein Mann trinkt seit seiner Jugend. Ich wollte die Familie nicht zerstören und habe es ertragen. Bis die Kinder groß wurden."

    Irgendwann aber hat sie ihn zumindest ausquartiert, in die Sommerküche draußen im Hof. Dort schläft er auch jetzt.

    "Er ist immer mal wieder nüchtern. Wenn ihm danach ist, säuft er wieder. So viel er will. Wenn er merkt, dass sein Körper das nicht mehr verkraftet, kurz vorm Totsaufen, hört er auf. Aber nur für eine kurze Zeit. Dann säuft er wieder."

    Valja, die Nachbarin, schaut sie nachdenklich an. Sie trägt Rock und Kopftuch, sie ist eine gläubige Frau. Svetlana müsse Nachsicht üben, sagt sie. Wer frei sei von Schuld, der werfe den ersten Stein, zitiert sie aus der Bibel. Sie alle seien seelenkrank. Die Umstände würden sie niederdrücken. Svetlana Galuschkina schüttelt den Kopf.

    "Vielleicht leiden wir unter Seelenkrankheit, aber viel schlimmer ist doch die körperliche Gefahr. Die bringt uns um. Buchstäblich um. Ich werde mich niemals damit abfinden, wenn einer den anderen misshandelt."

    Ihrem Mann hat sie irgendwann die Grenzen gezeigt. Er schlägt sie nicht mehr.

    "Er hat damit aufgehört, als er selbst die ersten Schläge kassiert hat. Die Kinder wurden erwachsen und haben angefangen, ihn zu verprügeln. Nur das hat ihn aufgehalten. Nur Angst kann einen betrunkenen Mann aufhalten. Denn daran, dass er selbst verprügelt wurde, erinnert er sich auch in betrunkenem Zustand."

    Laut Schätzungen sterben jedes Jahr russlandweit 14.000 Frauen durch Gewalt ihrer Männer. Gesichert sind diese Zahlen nicht, und auch, wie viele Frauen ohne Todesfolge geschlagen werden, weiß niemand. Denn die meisten Opfer häuslicher Gewalt gehen nicht zur Polizei.

    "Ich war oft bei der Polizei, aber das Schlimmste ist, dass sie uns überhaupt nicht hilft. Die Polizisten machen sich eher noch lustig, die sagen: 'Du lebst ja noch, so schlimm kann es nicht gewesen sein. Komm doch wieder, wenn er dich totgeschlagen hat.'"

    Svetlana Galuschkina stützt die Ellbogen auf die Knie. In Krivjanskoe rufen die Frauen deshalb nicht die Polizei - sondern sie.

    "Ich kann nicht zusehen, wenn ein Mann seine Frau misshandelt. Ich kann das nicht. Ich werde immer helfen. Du kannst ihn anschreien, du kannst ihm in den Arm fallen - irgendetwas kannst du immer tun."

    Auf dem Sofa sitzt Nadja, die Freundin. Sie sieht blass und dünn aus, trägt eine dicke Brille. Wegen diverser Krankheiten musste sie in Frührente gehen. Vor einem Jahr hat sie sich scheiden lassen - nach 41 Ehejahren und unzähligen Gewaltexzessen. Weil beide nicht wissen, wohin, haben sie und ihr Mann das Grundstück aufgeteilt. Er bewohnt das Haus, sie die Sommerküche. Auf demselben Hof. Täglich beschimpft er sie, droht ihr, verletzt sie mit Worten.

    "Ich habe Angst. Ich fürchte mich vor ihm. Er ist zu allem fähig. Er ist 68 und arbeitet noch. Ich aber bin krank. Wir haben einen Garten, aber ich darf mich nicht bücken, ich darf nichts Schweres tragen. Er hat dafür kein Verständnis. Er denkt, wenn er arbeitet, soll ich das auch. Er ist aggressiv. Auch jetzt. Schrecklich aggressiv."

    Erst vor wenigen Wochen hat er sie wieder geschlagen, auf den Kopf. Angezeigt hat sie ihn nie.

    "Ich habe gedacht, wenn ich das mache, schlägt er mich tot. Einmal wollte ich ihn verlassen, als meine Tochter 13 war. Da hatte er mich auch geschlagen. Ich hatte gerade Geld und hätte ein kleines Haus kaufen können. Das hatte ich auch schon gefunden. Aber er kam an: ’Entschuldigung, verzeih mir.’ Ich habe ihm verziehen. Wenig später hat er sich wieder betrunken und mich geschlagen. Und alles ging weiter wie vorher. Über Jahre. Immer das Gleiche."

    Zu der Tochter kann sie nicht ziehen, denn die hat bereits die eigene Tochter bei sich wieder aufgenommen. Auch die hatte sich scheiden lassen, weil ihr Mann trank und prügelte. Das Problem ist generationenübergreifend. Svetlana Galuschkina hebt ihre Enkeltochter auf den Schoß.

    "Mich bewegt das sehr. Es geht mir nicht so sehr um mich selbst, denn ich habe schon ein langes Leben hinter mir. Es geht mir um die jungen Leute. Es tut mir weh, zu sehen, dass sie schon fast genauso leben wie wir. Die Männer saufen, die Frauen ertragen es. Das geht immer so weiter.
    Was bei uns hier geschieht, ist absurd. Die Männer sind bei uns keine Männer mehr. Dass eine Frau sich nur ab und zu mal - ich sage ja nicht: immer - auf ihren Mann stützen kann; dass sie mal fühlt: Das ist mein Ehemann, ein Familienoberhaupt - das gibt es praktisch nicht mehr. Deshalb verlassen wir uns nur noch auf uns selbst. Und nehmen alles selbst in die Hand."

    Ihre eigenen Söhne und Enkel schließlich, die würden sie anders erziehen, sagen die Frauen. Und sie würden ihnen besonders viel Aufmerksamkeit schenken, damit aus ihnen anständige Männer würden. Doch anständig - das hat in Russland immer noch eine archaische Bedeutung. In der Gesellschaft herrscht das Ideal des "Muschik”, des leicht aggressiven Machos. Ein Ideal, das nicht zuletzt vom Staatsoberhaupt gepflegt wird: Vladimir Putin ließ sich im vergangenen Sommer mit nacktem Oberkörper, in Militärhose und mit Messer am Gürtel fotografieren. Die meisten Russinnen finden ihn äußerst attraktiv. Die Schwiegertochter ist um die vierzig, trägt ein grünes Strickkleid, die Haare kurz geschnitten.

    "Er sieht gut aus. Er ist attraktiv, natürlich. Wir sind alle verrückt nach ihm.
    Bei ihm sieht man auf den ersten Blick, dass er ein ordentlicher Mann ist. Er hat viel fürs Land getan und für die Frauen. Damit die Frauen besser leben."

    Sie meint das Gesetz, nach dem Russinnen seit dem Jahr 2007 für die Geburt eines zweiten Kindes eine Beihilfe von umgerechnet etwa 7.000 Euro erhalten. Die Russen bekommen immer weniger Kinder. Mit der Prämie will die Regierung der Entwicklung entgegensteuern. Mit Frauenrechten hat das nichts zu tun.

    Svetlana Galuschkina öffnet das Tor zum Garten. Drei Hektar Ackerland, im Herbst haben sie und ihre Tochter es mit dem Spaten umgegraben. Im Frühling geht die Gartenarbeit wieder los. In Krivjanskoe ist das Problem nicht nur, dass Männer schlagen. Sie fallen auch als Arbeitskräfte aus.

    "Unsere Männer haben sich schon daran gewöhnt, dass wir vom Pflügen bis zur Ernte alles machen. Im Sommer arbeiten wir, solange es hell ist. So viel wir schaffen. Nur wir Frauen."

    Um ihr Kind zu gebären, wird die Revolutionskämpferin Klawdija Wawilowa in der Erzählung "Die Kommissarin” bei der Familie Magasanik auf dem Land einquartiert. Dort trifft sie auf eine völlig fremde Welt. Die Frauen sind dort in erster Linie Mütter. Auch Bejla Magasanik.

    "'Kinder’, sagte Bejla, 'Kinder sind, als ob Sie es nicht wüßten, ein Unglück!’ und sie drückte ihren Kleinsten an ihre Brust, so heftig, dass diesem fast die Luft wegblieb. 'Das ist so ein Kummer, das ist so ein Unglück, das sind solche Sorgen. Jeden Tag wollen sie essen, und es vergeht keine Woche, dass dieser nicht Ausschlag und jener nicht Fieber oder Geschwüre hätte.’
    Es stellte sich heraus, dass die Wawilowa von all dem nichts wusste, nichts kannte, sich nichts vorstellen konnte. Und Bejla, die mit Genugtuung feststellte, dass die Kommissarin von nichts eine Ahnung hatte, klärte sie über alles auf.
    Wie man einen Säugling füttert, badet, pudert, was man tun muss, dass er des nachts nicht schreit, wieviele Windeln und Kinderhemden man haben muss, wie dem Neugeborenen vom Schreien die Luft wegbleibt, wie es blau wird, und so scheint es, wie einem jeden Augenblick das Herz vor Angst birst, dass das Kind stirbt, wie man den Durchfall in den Griff bekommt, woher der Hautausschlag stammt.
    Eine komplizierte Welt mit eigenen Gesetzen, freudigen und traurigen Gegebenheiten.
    Und als sie beide allein im Zimmer zurückgeblieben waren, sprach Bejla, die Stimme bis zum geheimnisvollen Flüstern senkend, mit ihr über das Gebären. Oh, das war keine einfache Angelegenheit.
    'Kinder gebären...’, sagte sie. 'Sie denken, das ist einfach, wie der Krieg: Piff-Paff - und fertig? Nein, nein. Sie müssen entschuldigen, das ist so einfach nicht!’"


    Stützen der Gesellschaft: Die Frauen vom Don
    Vormittags in Novocherkassk, einer kleinen Stadt im Süden Russlands. In einem ehemaligen Kindergarten hat die Organisation "Frauen vom Don” ihr Büro. Valja Kovalenko ist mit zwei anderen Aktivistinnen aus der Nachbarstadt gekommen. Eilig schälen sich die drei aus den dicken Mänteln.

    Ihre Füße seien ganz eingefroren, klagen die drei. Freudig greifen sie nach heißem Tee und Butterbroten. Zu den "Frauen vom Don" gehören mehr als 25 Gruppen und Initiativen sowie weitere 75 Aktivistinnen. Sie betreuen Menschen in sozialer Not, beraten Existenzgründerinnen, helfen Wehrdienstverweigerern. Die meisten machen das ehrenamtlich. Eine der Frauen kommt aus der Stadt "Schachty” und leitet dort die Organisation "Mütter ohne Drogen”.

    "Leute wie uns braucht zurzeit niemand. Wir werden nicht finanziert, und niemand hilft uns. Weil wir die Wahrheit sagen. Und die Wahrheit gefällt niemandem."

    Valentina Tscherevatenko nickt. Sie ist so etwas wie der Kopf der Organisation, hält die Gruppen in den unterschiedlichen Städten zusammen und hilft ihnen, auch gegen den Widerstand von Behörden und Politikern weiterzumachen. Die 52-Jährige hat lange als Elektroingenieurin gearbeitet. In den 90er Jahren absolvierte sie ein Zweitstudium in Sozialarbeit, danach gründete sie die "Frauen vom Don”. Für kurze Zeit saß sie auch mal als Abgeordnete im Stadtparlament von Novocherkassk. Doch der Ausflug in die Politik währte nicht lange. Politik ist in Russland Männersache, die Zahl der Frauen in der Regierung verschwindend gering. Die Nichtregierungsorganisationen dagegen werden überwiegend von Frauen geleitet.

    "Wo viel Geld ist, sind Männer. Wo viel Arbeit ist, sind Frauen. Das war immer so - auch in der Sowjetunion. In den Banken zum Beispiel haben zu Sowjetzeiten vor allem Frauen gearbeitet. Damals wurde dort kein Geld verdient. Heute dagegen bringt das Bankwesen immense Gewinne, und Schritt für Schritt werden die Frauen herausgedrängt."

    Die Rentnerin Valja Kovalenko greift nach einer Wurstscheibe, dann in die Schale mit Konfekt. Mit der mächtigen Pelzmütze, die sie auch drinnen aufbehält, dem breiten Körper und dem rosa Lippenstift ist sie das Klischeebild einer sowjetischen Arbeiterin. Valja Kovalenko hat ihr Leben lang als Köchin gearbeitet, in einer staatlichen Großküche. Sie begann, sich zu engagieren, als sie erfuhr, dass ihr Sohn Drogen nimmt.

    "Seine Geburt verlief gut. In der Schule war er gut. Er wurde Vater. Ich war die glücklichste Oma der Welt. Doch eines Tages komme ich von der Arbeit, und mein kleiner Enkel sagt zu mir: 'Mein Papa ist Junkie.’ Ich war schockiert. Am nächsten Morgen bin ich mit meinem Sohn ins Krankenhaus gegangen. Der Arzt hat ihn gefragt: ’Wie lange bist du schon drauf?’ Ich war entsetzt. So grobe Worte zu meinem Jungen, ich verstand die gar nicht! Dann hat der Arzt gefragt: ’Wie viele Jahre nimmst du schon Drogen?’ Und er sagt: ’Fünf.’ Da bin ich in Ohnmacht gefallen. Auf dem Flur. Auf der Stelle. Später haben die Leute gesagt: ’Wie konnte sie das übersehen?’ Ich habe es nicht gemerkt! Ich bin morgens früh zur Arbeit gegangen und spätabends wiedergekommen."

    Ihr Sohn kam von den Drogen nicht los. Mit 30 starb er an einer Blutvergiftung.

    "Er hat mit sieben anderen ein Besteck benutzt. Es gab damals keine Einwegspritzen. Sie haben sich gegenseitig mit einer Nadel angesteckt. Alle acht sind gestorben."

    Valja Kovalenko schätzt, dass damals jeder fünfte Jugendliche in Schachty Rauschgift nahm. Die Rentnerin senkt die Augen. Als sie von der Abhängigkeit ihres Sohnes erfuhr, in den 90er Jahren, waren Drogen in Russland noch ein Tabuthema. In der Kleinstadt Schachty sprach niemand darüber. Valja Kovalenko war die Erste. Vorsichtig holt sie ein zerknittertes Blatt Papier aus einer Klarsichtfolie. Es ist ein altes Flugblatt.

    "Ich lese Ihnen das vor: 'Junkie, halt ein! Eltern! Großväter! Großmütter! Tanten! Onkel! Neue Russen! Beamte! Schwestern! Brüder! Wir gründen ein Hilfskomitee für unsere drogenkranken Kinder.’ Und hier steht die Telefonnummer. Das haben wir an jedem Baum aufgehängt.
    Ich wollte meinen Sohn retten. Ich wollte, dass alle erfahren, dass ich Sorgen habe. Ich hatte gedacht, ich sei damit allein, aber als ich den Mund aufgemacht habe, hat sich gezeigt, dass alle anderen die gleichen Sorgen haben. Und ich habe begriffen, dass ich nicht allein bin und es viele Mütter mit solchen Kindern gibt."

    In Schachty schlossen sich 400 Mütter zusammen.

    "Sobald ein Vater erfährt, dass sein Kind drogensüchtig ist, sucht er das Weite. Oder er verprügelt das Kind vor Kummer. Männer können so etwas nicht ertragen."

    Auch die Polizei verschloss die Augen. Sie verdiente mit. Die Rentnerin richtet sich auf.

    "Die Polizisten haben Angst gehabt vor uns Müttern. Mehr noch: Sie haben uns gehasst!"

    Mithilfe der "Frauen vom Don" und ihrer Leiterin gelang es den "Müttern gegen Drogen” schließlich, Journalisten aus Moskau nach Schachty zu holen. Das Fernsehen berichtete. Inzwischen hat sich die Situation gebessert. Valja Kovalenko kümmert sich jetzt um die Mütter der Drogentoten. Denn viele von ihnen sind mittellos und allein.

    Valentina Tscherevatenko bringt etwas Rotwein. Zum Aufwärmen, bevor die Gäste wieder hinausmüssen.

    "Wir haben kein Recht, die dunklen Seiten des Lebens zu ignorieren. Wir müssen sie im Gegenteil sichtbar machen."

    Valja Kovalenko nimmt ein Schminkset aus ihrer Plastiktüte und zieht sich die rosafarbenen Lippen nach. Dann steht sie auf und hebt ihr Glas. Sie alle arbeiteten von früh bis spät, würden dabei aber immer schöner, erläutert sie. Und dann trinken sie auf sich selbst: Auf die schönen Frauen.

    Klawdija Wawilowa, die russische Revolutionskämpferin in der Erzählung "Die Kommissarin”, gebiert einen gesunden Sohn. Sie erholt sich schnell.

    "Am dritten Tag nach der Geburt stand die Wawilowa das erste mal auf. Sie spürte, wie die Kräfte schnell wieder zurückkehrten, sie ging auf und ab, half Bejla bei der Wirtschaft. Wenn niemand im Haus war, sang sie leise Lieder für das Menschlein, das Menschlein hieß Aljoscha, Aljoschalein, Aljoscha.
    'Du müsstest sie sehen’, erzählte Bejla ihrem Mann, 'dieses großrussische Weibsstück hat den Verstand verloren! Dreimal ist sie mit ihm schon zum Arzt gelaufen. Im Haus darf man keine Tür öffnen: er erkältet sich, man weckt ihn auf, er fiebert. Mit einem Wort, wie eine gute, sorgsame jüdische Mutter.’
    'Glaubst du etwa’, antwortete Magasanik, 'wenn eine Frau sich lederne Hosen anzieht, dass sie dadurch zum Manne wird?’ Und er zuckte mit den Schultern und schloss die Augen."


    Auf dem Sozialamt: 'Feminismus? Was ist das?’ Das Selbstverständnis der älteren Frauen
    Die Sozialbehörde in Kamensk Schachtinskij, einer Stadt mit knapp 100.000 Einwohnern im Süden Russlands. Es ist Mittwochnachmittag, und im Sozialamt ist Sprechstunde. Etwa 40 Leute warten auf durchgesessenen Klappstühlen, überwiegend ältere Frauen, kaum Männer.

    Neben der Tür mit den Buchstaben I bis P sitzt Nadjeschda Pankova mit einer Liste in der Hand und hakt Namen ab. Sie guckt durch eine dicke Brille. Ihre Pelzmütze ist hochgerutscht, flüchtig schiebt sie sie wieder in die Stirn.

    "Mädels, wer ist die Nummer 58? Die ist gegangen, ja? Dann kommt als Nächstes Lopteva."

    Die Menschen auf dem Flur wollen einen Zuschuss zur Miete beantragen.

    "Wir sind schon über 70. Männer leben da kaum noch."

    "Und die alten Herren haben einfach keine Lust, sich hier herumzuschlagen. Die wollen ihre Nerven schonen."

    "Frauen schuften einfach mehr als Männer - das ist in allen Ländern so. Männer muss man behüten. Davon gibt es nur so wenige."

    Die meisten Frauen hier haben ihr Leben lang hart gearbeitet. Kamensk Schachtinskij ist eine Industriestadt. Zu Sowjetzeiten waren zwei Drittel der Bevölkerung im Chemiekombinat beschäftigt. Als ihre Geschlechtsgenossinnen im Westen den Feminismus entdeckten, richteten diese Frauen sich in der Stagnation der Breschnew-Ära ein, wurden Großmütter, schufteten in den Fabriken, pflanzten Kartoffeln auf der Datscha, legten im Sommer Gurken und Tomaten ein, um für den Winter vorzusorgen.

    Feminismus? Vielleicht Kommunismus? Ach so, Gleichberechtigung, ja, die hätten sie doch im Kommunismus gehabt. Besonders bei der Arbeit. Nein, sagt die andere, die Frauen hätten mehr gearbeitet als die Männer. Die Männer hätten ja dauernd Wodka getrunken.

    "Mein Mann und ich haben auf einem Niveau gearbeitet. Er war Bauarbeiter, ich Buchhalterin. Zu Hause hat er die Böden gewischt. Als er jung war. Seit er älter ist, macht er nichts mehr. In der Jugend helfen sie alle. Im Alter haben sie keine Lust mehr. Das ist überall so."

    Ein paar Räume weiter sitzt Svetlana Sysojeva, die Leiterin des Sozialamts. Die 60-Jährige schützt sich mit einer Perücke gegen die Kälte, die dichten blonden Locken fallen ihr in die Stirn. Sie trägt einen grellen Lippenstift und kräftige Lidstriche über den Augen. Svetlana Sysojeva bekommt täglich mit, wie Frauen benachteiligt werden. Nach Berechnungen des Staatlichen Statistikamtes verdienen russische Frauen im Schnitt ein Drittel weniger als Männer. Es sei nicht abzusehen, dass sich das ändert.

    "Frauen bekommen zwar für die gleiche Arbeit den gleichen Lohn wie Männer, aber es werden vor allem Männer eingestellt. In den Stellenanzeigen werden allenfalls Frauen gesucht, die unter 35 oder 40 sind, die Fremdsprachen können und sympathisch sind. Das ist ein klarer Rechtsverstoß. Bei uns werden Frauen in Vorstellungsgesprächen auch immer noch gefragt, ob sie Kinder haben wollen."

    Svetlana Sysojeva bietet Tee an. Der Staat tue zu wenig für Frauen, findet sie. In Russland gibt es kein Frauenministerium und keine Gleichstellungs- oder Gleichbehandlungsgesetze.

    "Eigentlich müsste man alle Gesetze im Hinblick auf Geschlechtergleichstellung überarbeiten. Unsere Gesetze sehen so aus, als gäbe es bereits Gleichberechtigung. Und deshalb denkt auch niemand über das Thema nach."

    Svetlana Sysojeva zupft ihr Halstuch zurecht. Anfang der 90er Jahre gründete sie mit Freundinnen die Organisation "Nadjeschda", "Hoffnung.”

    "Damals wurden vor allem Frauen entlassen. Die Stadt ist klein, wir haben gesehen, wie schwer sie zurechtkamen. Sie konnten keine neue Arbeit finden und die Kinder nicht mal mit dem Nötigsten versorgen. Als Erstes haben wir Container für Altkleider aufgestellt. Damit die, deren Kinder bereits groß waren, alte Kleidung weitergeben konnten. Später haben wir ein Weiterbildungsinstitut gegründet, das hieß 'Intellekt’. Dort haben wir etwa tausend Frauen fortgebildet, zu Friseurinnen, Buchhalterinnen, Sekretärinnen."

    Svetlana Sysojeva umfasst die Teetasse mit beiden Händen und blickt einen Moment versonnen ins Nichts. Trotz allem ist auch ihr der westliche Feminismus fremd.

    "Ich bin keine radikale Feministin. Allenfalls eine gemäßigte. Ich finde, wir brauchen Harmonie zwischen Männern und Frauen.
    Ljudmila Shchipachina hat ein sehr gutes Gedicht über Frauen geschrieben. Es heißt 'Frau sein’. Sie ist eine zeitgenössische Dichterin. Ich kann es Ihnen aufsagen. Vielleicht bleibe ich aber hängen ..."
    Von der Pflicht zu waschen und zu nähen ist die Rede. Sie wisse, trägt Svetlana Sysojeva mit leuchtenden Augen vor: Auf ihren Schultern ruhe alles. Das ganze Leben für den heimischen Herd zu sorgen: das sei die Bestimmung der Frau. "Sich ein Leben lang selbst aufgeben: Was für eine Ehre ist diese Berufung!", schließt die 60-Jährige.

    "Das ist das Gedicht, und ich stehe voll dahinter. Leider verändert sich die Rolle der Frauen heute. Die Mehrheit ist der Meinung, sie müsse Karriere machen. Frauen wollen heute finanziell unabhängig sein. Vielleicht ist das richtig. Aber mir gefällt es gar nicht."

    Klawdija Wawilowa in der Erzählung 'Die Kommissarin’ geht nur kurz in ihrer Mutterrolle auf. Als die verfeindeten Polen vorrücken, zögert sie nicht lange, ihr Mutterglück dem Sozialismus zu opfern.

    "Auf der breiten, leeren Straße, in Richtung Eisenbahnübergang, von woher die Polen kommen mussten, marschierte eine Abteilung Kadetten. Sie trugen weiße Leinenhosen und weiße Militärblusen.
    'Rot ist das Tuch, das wir entrollen ...’, sangen sie getragen und irgendwie traurig.
    Sie marschierten dem Feind entgegen.
    Die Wawilowa schaute ihnen hinterher. Und plötzlich erinnerte sie sich: Der gewaltige Rote Platz, einige Tausend Arbeiter-Freiwillige, die an die Front gingen. Als sie die Gesichter der singenden Kadetten betrachtete, spürte sie von neuem, was sie vor zwei Jahren erlebt und gefühlt hatte.

    Die Magasaniks sahen noch, wie eine Frau mit Pelzmütze und Militärmantel den Kadetten über die Straße nachlief, im Laufen den Patronengurt in das riesige Gewehr einlegend.
    Der erwachende Aljoscha fing zu weinen an und strampelte mit den Beinchen, um sich aus den Windeln zu befreien. Und Bejla sagte zu ihrem Mann:
    'Hörst du, das Kind ist aufgewacht, zünd den Petroleumkocher an, wir müssen Milch heiß machen.’
    Die Abteilung war um die Straßenecke verschwunden."


    Karriere statt Familie. Die neue Generation Frauen in Moskau
    Samstagnachmittag in einem Fitnessstudio in Moskau. Zehn Frauen beugen im Takt der Musik die Knie. Jede von ihnen trägt eine lange Eisenstange mit Gewichten über dem Nacken. Unermüdlich folgen sie den Anweisungen der Trainerin: Po nach hinten, in die Knie und wieder hoch. "Bodypump” heißt diese Art von Fitnesstraining, die jedes Gramm Fett am Körper binnen kürzester Zeit zu Muskelpaketen umwandeln soll.

    Das Fitnessstudio gehört zur Kette "WorldClass”. Deren Eigentümerin, eine ehemalige Fechtsportlerin, ist eine der reichsten Frauen Russlands. 17 Filialen hat sie allein in Moskau, und es werden immer mehr, denn die Fitnessindustrie boomt. Dieser Club, "WorldClass Ladies”, ist ausschließlich Frauen vorbehalten.

    Im Schwimmbecken ziehen gerade vier Frauen ihre Bahnen. Langsam, gemächlich, entspannt. Jelena Popova, die Trainerin, steht am Beckenrand, schlank, dezent geschminkt, wie alle Mitarbeiterinnen hier.

    "Manchmal gehen unsere Kundinnen auch in gemischte Fitnessstudios. Wenn sie dann das nächste Mal wieder zu uns kommen, sagen sie, wie schlimm es dort war: dass die Männer ihnen keinen Platz machen und rücksichtslos wie Maschinen ihre Bahnen durchziehen und die anderen dabei auch noch nass spritzen oder mit Wellen überschwemmen."

    Jelena wirft einen Blick auf ihre Schützlinge und lächelt. Der Club ist teuer. Es sind vor allem erfolgreiche Geschäftsfrauen, die hierherkommen, und Hausfrauen mit reichen Ehemännern.

    Eine der erfolgreichen Geschäftsfrauen sitzt gerade im Kraftraum an einer Maschine und trainiert ihren Bizeps. Die braunen Haare fallen ihr lose ins Gesicht. Jelena ist 48 und hat eine eigene Firma. Sie handelt mit Sanitärtechnik.

    "Das Fitnessstudio ist heutzutage die einzige Möglichkeit für Frauen, sich von den häuslichen Pflichten zu erholen und etwas für die Gesundheit zu tun. In einer Großstadt wie Moskau helfen nur Ausflüge in die Natur und Sport. Kunst und Theater - klar, das braucht man auch, aber körperlich aktiv zu sein und die eigene Kraft zu spüren - das ist prima."

    Die 23-jährige Darja Schatrova ist bereits mit dem Training fertig. Sie lässt sich von der Garderobenfrau ihre taillierte Daunenjacke geben, zieht den Gürtel fest und schlägt die pelzbesetzte Kapuze hoch. Sie arbeitet im Marketing.

    "Das Aussehen spielt eine große Rolle. Besonders für Geschäftsfrauen. Um Kunden zu gewinnen, müssen sie gut aussehen."

    Da das Aussehen für Moskauerinnen wichtig, die Zeit aber knapp ist, gibt es im ersten Stock einen Schönheitssalon. Nadjeschda Ponomarjova sitzt in einem weißen Kittel hinter einem Kalender. Sie vergibt die Termine.

    "Wir haben eine Kosmetikerin und eine Friseurin, und wir bieten Maniküre, Pediküre, Antizellulitebehandlung und Massagen an. Die Frauen geben hier viel Geld aus. Und verbringen hier sehr viel Zeit."

    In der Bar im Erdgeschoss können sie sich mit grünen Salaten, frisch gepressten Säften, Erdbeeren oder Energiebällchen stärken. An einem der Tische sitzt Natascha. Seit drei Jahren arbeitet sie im Kraftraum. Eigentlich mische sie sich nicht in das Privatleben der Kundinnen ein, sagt sie, aber eines sei klar:

    "Sehr erfolgreiche Frauen, die auch noch Fitness treiben, haben meist keine Familie. Dafür bleibt einfach keine Zeit. Das ist leider der Nachteil unseres modernen Lebens. Erfolgreiche Frauen haben allenfalls ein Kind, aber keinen Mann."

    Um diese Entwicklung zu stoppen, hat die russische Regierung das Jahr 2008 zum "Jahr der Familie” erklärt. Prämien sollen Frauen ermutigen, Kinder zu gebären. Und der Gouverneur des Wolgagebietes Uljanowsk hat sich bereits vor zwei Jahren eine originelle Maßnahme ausgedacht, um die Fortpflanzung anzukurbeln. Am 12. September 2006 gab er seinen Beamten frei und befahl ihnen, sich zu Hause "um die Demografie zu kümmern". Neun Monate später, um den russischen Nationalfeiertag am 12. Juni herum, meldeten die Kliniken von Uljanowsk einen außergewöhnlichen Kindersegen. Die karrierebewussten Frauen in dem Moskauer Fitnessstudio glauben aber nicht, dass derlei Maßnahmen etwas bewirken.

    Eine Kollegin kommt zu Natascha an den Tisch. Eine Stunde hat Veronika "Bodypump” unterrichtet und Gewichte gestemmt. Trotzdem sitzt die schwarze Schirmmütze exakt auf ihren blonden Haaren, nicht mal der blaue Lidschatten über ihren Augen ist verrutscht, und kein Schweißfleck verunziert das hautenge Shirt. Sie ist Anfang 30, ledig, kinderlos.

    "Es gibt jetzt sehr viele starke Frauen in Russland. Männer kommen da nicht mehr hinterher. Für Frauen steht die Karriere an Nummer eins, und um Karriere zu machen, müssen sie vor allen Dingen gut aussehen."

    Veronika spricht von einer neuen weiblichen Lebensart in Moskau.

    "Für meine Mutter war die Familie alles. Sie hat nie etwas für sich getan. Sie kam von der Arbeit so schnell wie möglich nach Hause, hat gekocht, war für die Familie da, für ihren Mann. Ich erinnere mich gut daran. Ich bin allenfalls morgens mit meiner Mutter durch den Park gelaufen. Das Leben damals war etwas langweilig, oder Natascha?"

    "Ruhig war es. Es ging eben alles seinen Gang."


    Vasilij Grossman: Die Kommissarin. Erzählung.
    Aus dem Russischen von Thies Ziemke. Einheits-Sachtitel: V gorode Berdiceve.
    Kiel, Neuer Malik-Verlag, 1989