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Zwischen Schulhof-Slang und griechischer Tragödie

Seit der Gründung versteht sich das Theaterfestival in Avignon als höchste moralische Instanz Frankreichs, als einen Ort, an dem gesellschaftspolitisches, aktuelles und mutiges Theater gemacht wird. Eberhard Spreng mit einer Bilanz.

Von Eberhard Spreng | 21.07.2011
    "Dans ma jeunesse il me semblé qu’il a été debout."

    Mitmachtheater im Cloître des Carmes: Noch während das Publikum die Ränge im Innenhof des mittelalterlichen Klosters betritt, ruft ein Schauspieler sie auf die Bühne, einige folgen der Einladung, tanzen, klatschen und singen. Die sehr freie Hamlet-Inszenierung des Festivalneulings Vincent Macaigne beginnt gut gelaunt wie ein Kindergeburtstag. Aber dann wird dreieinhalb Stunden lang eine rekordverdächtige Menge Theaterblut verspritzt und vergossen, verfolgen die Zuschauer der ersten drei Reihen unter Plastikplanen das Planschen im Matschwasser, kopulieren nackte Leiber auf glitschiger Bühne, wird unglaublich viel Bühnennebel produziert, richtet sich zweimal eine gewaltige Plastikburg auf und sinkt wieder in sich zusammen. Vor allem aber wird gebrüllt und gepöbelt wie noch nie auf französischen Bühnen:

    "Ta gueule putain, ta gueule, ferme ta gueule, tu le fait vraiment de ton plain gré?"

    Macaignes "Au moins j'aurais laissé un beau cadravre" - zu deutsch etwa "wenigstens bleibt von mir eine schöne Leiche", ist Blut- und Hoden-Theater, Provokation, Theater der Grausamkeit, Publikumsbeschimpfung und Alberei in einem. Die Arbeit hat während zehn Aufführungen in Avignon Kultstatut erreicht und erschien vielen Zuschauern als ein Befreiungsschlag aus dem Dämmerzustand eines routinierten Kulturbetriebs. De facto hat jetzt auch Frankreich seine eigene, genuin französische Form des Trashs entdeckt und feiert den energiegeladenen Blödsinn als eine Möglichkeit das junge Publikum quasi mit dem ihm eigenem Vokabular ins Theater zu locken. Mit Macaigne ist in Avignon die Debatte um den richtigen Umgang mit der Sprache auf dem Theater entbrannt.

    Der libano-kanadische Autor und Regisseur Wajdi Mouawad will in der Welt der Tragödie die Regression der Sprache auf Schulhofniveau nicht mitmachen und hat für sein groß angelegtes Sophokles-Projekt eine neue Übersetzung anfertigen lassen.

    "Die Sophokles-Übersetzung muss mehr leisten als das pure Mitteilen, sie muss Gefühlswelten eröffnen: Sie muss in sich schon das Plädoyer für eine reiche, ausgeformte Sprache sein. Sie muss dem Zuschauer, auch dem jungen Zuschauer, begreiflich machen, dass die Sprache noch etwas anderes ist, als das was heute so geredet wird. In einer Zeit, wo die Philosophie in der Schule versimpelt wird, sollte die Sprache auf der Bühne reich sein, tief, geprägt von einer Poesie, die sich nicht damit begnügt, sich nur eben verständlich zu machen."

    Mouawad hat die Trachinierinnen, Antigone und Elektra zum Triptychon "Des Femmes" zusammengebracht. Nach fast sieben Stunden, um vier Uhr dreißig, entlässt der Regisseur sein Publikum in den kalten provenzalischen Morgen und in die große Ratlosigkeit: Denn sein Schauspielensemble ist nicht so ganz auf dem Niveau des ehrgeizigen Projekts: Auf einem engen, von viel Technik umgebenden Karree in einfachsten szenischen Setzungen die Innenwelt der Figuren auszuloten. Da ist viel hohler Gestus, auch simple Regie, statuarisches Aufsagetheater. In Erinnerung aber bleibt Bertrand Cantat, der die Texte des Chores vertonte und interpretiert:

    "Mais il a fui avant
    D’avoir de notre sang
    Rassasier ses mâchoires"


    In Cantats Engagement für das Projekt des Freundes Mouawad verbirgt sich die Tragödie des Lebens in der Tragödie des Theaters. Denn der Musiker ist eben jener Bertrand Cantat, der im Jahre 2003 seiner Freundin Marie Trintignant unter Drogeneinfluss einen tödliche Schlag versetzt hatte, später einen Selbstmordversuch unternommen hatte und auch seine Ex-Frau mit deren Selbstmord verlor. Der berühmte Vater Maries, Jean-Louis Trintignant, hatte auf die Ankündigung des Auftritts des seit einem Jahr aus der Haft entlassenen Rock-Poeten Cantat mit Empörung reagiert, woraufhin Cantat auf eine Mitwirkung life verzichtete. Eine nicht verheilte Wunde ist nun aufgerissen, und Mouawads langer Abend kreist traurig um einen abwesenden Künstler, der eigentlichen Seele der Theaternacht.

    Ebenfalls in Rock und Pop- gefasste Poesie, dieses Mal die des Jean Genet, präsentierte die legendäre Jeanne Moreau zusammen mit dem Pop-Chansonnier Etienne Daho im Ehrenhof des Papstpalastes:

    "Chaque marin tient prête
    Sa verge qui bondit dans sa main de fripon.
    Et c'est pour t'emmancher, beau mousse d'aventure,
    Qu'ils bandent sous leur froc les matelots musclés."

    Mit unnachahmlicher Stimme spricht die Moreau die frühen Gedichte des einstigen Freundes, zu den bittersüßen Harmonien des Etienne Daho. Eine einstündige Hommage, sprachlich-musikalisch hoch konzentriert. Für die Sprache waren sind bei diesem Festival in Avignon kurioserweise Musiker die loyalsten Treuhänder.