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Zwischen Sorge und Normalität

Der Giro d'Italia erholt sich langsam vom tödlichen Unfall Wouter Weylandts. Während die Rundfahrt sich bei der Auffahrt zum Vulkan Ätna wieder als Spektakel zeigt und die Zuschauer einen überzeugenden Sieg von Alberto Contador sehen, geht im Fahrerlager die Angst vor immer risikoreicherer Streckenführung um.

Von Tom Mustroph |
    Das Leben geht weiter beim Giro d'Italia. Sechs Tage nach dem tödlichen Unfall des belgischen Radprofis Wouter Weylandt ist dieser zwar nicht vergessen. Sein Name und die Namen seiner abgereisten Mannschaftskollegen von Leopard Trek sind bei der Teilnehmerliste in durchgestrichener Form präsent. Weylandts Landsmann Bart de Clercq widmete seinen Sieg auf der 7. Etappe dem verunglückten Kollegen. Aber die Gedanken der meisten Giro-Teilnehmer sind in die Zukunft gerichtet.

    "Man darf nicht stehenbleiben. Nur wer nicht weiß, wohin er will, hält inne. Aber wir wissen, dass wir am 29. Mai nach Mailand müssen."

    Sagt Angelo Zomegnan, der Direktor des Giro d'Italia. Man kann einwenden, dass der Giro-Boss hartherzig sei. Dass er nur an seine rollende Maschinerie denke, die bei jeder Ausgabe einen Umsatz von 500 Millionen Euro generiert. Auf diese Summe taxierte das Wirtschaftsblatt "Il Sole 24 Ore" den Giro. Aber Radsport ist in seiner Essenz ein Sport der Bewegung. Es geht weiter, immer weiter. Valerio Piva, der sportliche Leiter von Team HTC.

    "Wir empfinden Schmerz und Wut. Aber das ändert leider nichts. Was können wir machen? Das einzige, was wir tun können, ist uns an ihn zu erinnern. Aber das Leben geht weiter. Man kann nicht zurückgehen. Es gibt immer ein Risiko im Radsport"

    Mit einer Mischung aus Trauer und Resignation, aber auch der Erleichterung, sich wieder den alten Routinen anvertrauen zu können, rollt die Giro-Karawane unaufhaltsam voran. Das rosa Trikot wechselte von den Schultern des Schotten David Millar auf die des Holländers Pieter Weening und dann auf die des großen Favoriten Alberto Contador. Zuvor hatten der italienische Zeitfahrmeister Marco Pinotti nach dem Teamerfolg von HTC Highroad und danach dessen Mannschaftskollege Mark Cavendish das rosa Leibchen in Besitz. Es gab Etappensiege für Italiener, Spanier, Holländer und Belgier. Von den deutschen Startern setzte sich Sebastian Lang mit zwei Ausreißversuchen in Szene. Der Lausitzer Danilo Hondo pilotierte seinen Kapitän Alessandro Petacchi zu einem Etappensieg.

    Der Alltag hat wieder die Herrschaft angetreten. Knapp eine Woche nach dem tragischen Todesfall hat der Giro sogar schon wieder die Vitalität, sich selbst vom Ausbruch eines Vulkans nicht abschrecken zu lassen.

    Vier Tage nach der jüngsten Feuerkaskade des Ätna kletterte das Peloton zwei Mal die Südflanke von Europas größtem Vulkan hoch. Es befand sich dabei in Sichtweite des Pit-Krater. Aus dessen Schlund schoss gerade erst noch das flüssige Gestein. Doch an diesem Sonntag zeugten nur einzelne Rauchwolken vom inneren Leben des Schnee bedeckten Kolosses. Tausende Helfer hatten zuvor die Strecke von dem Belag aus Vulkanasche befreit.

    Die Etappe selbst bot ein beeindruckendes Schauspiel. Wie ein dünner Zug bunter Ameisen kroch das Peloton die Straßen empor. Sprechchöre peitschten den Lokalhelden Vincenzo Nibali voran. Der Mann aus Messina blieb aber im Schatten seiner Konkurrenten. Das Lampre-Team von Michele Scarponi spannte sich lange vor das Peloton. Selbst Sprint-Ass Alessandro Petacchi opferte sich als Helfer auf.

    Den Prägestempel drückte der Etappe allerdings Alberto Contador auf. Sieben Kilometer vor dem Ziel attackierte der Spanier. Erst fiel Nibali zurück. Bei einem zweiten Antritt musste Scarponi passen. Contador ist nun auf dem besten Weg, seine sechste Rundfahrt im sechsten Anlauf zu gewinnen.

    Ungeachtet dieser Normalität brodelt es im Fahrerlager. Der Todesfall von Weylandt und die zunehmende Tendenz, den Kurs zur Erhöhung des Spektakels über unbefestigte Straßen zu führen, haben prinzipielle Sicherheitsbedenken ausgelöst. Omega-Profi Sebastian Lang kritisiert die Veranstalter.

    "Die letzten Jahre haben sich die Rennen generell verändert. Es wird immer mehr nach Show gefahren. Und wir müssen dann damit leben, dass die Streckenführung immer spektakulärer wird. Heute haben wir teilweise Abfahrten auf Naturstraßen, was auch technisch sehr anspruchsvoll ist. Und wenn du dein Fahrrad nicht beherrschst und auch noch kaputt bist nach einer Bergwertung, kann das durchaus zu einem Sturz führen. Es liegt aber absolut an der Organisation, etwas dagegen zu tun",

    Doch die sind taub für diese Vorwürfe. Giro d'Italia und Tour de France befinden sich seit einigen Jahren in einem Überbietungswettbewerb der Schwierigkeiten. Ließ Tourboss Christian Prudhomme das Peloton zweimal den Tourmalet überqueren, so konterte dessen Pendant Angelo Zomegnan heute mit der doppelten Ätna-Besteigung. Als Zomegnan im letzten Jahr die Lehmstraßen der "Strade Bianche" in den Giro aufnahm, antwortete die Tour mit Kopfsteinpflasterpassagen der Ardennenklassiker. Ein Sturzfestival war hier wie dort die Folge. Wie eine ferne Antwort auf Zomegnans maritimes Experiment eines Zeitfahrens zwischen zwei Inseln vor Sardinien im Jahr 2007 mutet die Gezeitenexpedition der Passage du Gois zum Tourauftakt 2011 an. Immer schwieriger, immer extremer, immer sensationeller, lautet das Motto.

    Hintergrund ist der Kampf um Fernsehminuten. Mehr Fernsehübertragungen bedeuten größere Werbeplattformen für die Sponsoren - und mehr Geld für die Organisatoren. Die gehören im Falle des Giro wie der Tour zu großen Medienkonzernen.

    Im Profiradsport geht es in dieser Hinsicht kaum besser, aber auch nicht wesentlich schlechter zu als im ganz normalen Kapitalismus. Die Sicherheit am Arbeitsplatz hat eine geringere Priorität als Umsatzzahlen und Gewinne. Zwar erklärt Angelo Zomegnan:

    "Die Fahrer sind für uns das allerhöchste Gut."

    Dieses höchste Gut setzt er allerdings extremen Risiken aus. Einige Abfahrten der letzten Woche sind so gefährlich, dass sie mit Fangnetzen wie im alpinen Skisport abgesichert werden müssen. Eine Abrüstung der Schwierigkeiten stünde dem Giro besser an.