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Zwischen Tagesschau und Königreich

"Finnisch, Rumänisch, Ungarisch, Belgisch - welche Sprache gibt es nicht?" Der Wer-wird-Millionär-Kandidat rät falsch. Und Quizmaster Günther Jauch belehrt ihn: Belgisch sei die richtige Antwort, denn in Belgien werde Flämisch und Wallonisch gesprochen. Doch auch der Quizmaster irrt. In Belgien spricht man nämlich Deutsch. Auch Deutsch. Ganz offiziell und als Amtssprache. Neben Niederländisch und Französisch.

Von Eduard Hoffmann und Jürgen Nendza |
    Tatsächlich ist unser westliches Nachbarland so vielfältig und widersprüchlich, dass es uns immer wieder wie ein großes Rätsel vorkommt. Wer weiß schon, dass es neben den beiden großen, flämischen und wallonischen Sprachgemeinschaften im Osten Belgiens noch eine kleine, 74.000 Einwohner zählende Deutschsprachige Gemeinschaft gibt. Das ländlich geprägte Gebiet zwischen Hohem Venn und Eifel ist politisch und kulturell weitgehend autonom, eigenwillig und produktiv, hat ein eigenes Parlament und wird von vier Ministern regiert. Und es profitiert von der Föderalisierung Belgiens und dem Dauerstreit zwischen Flamen und Wallonen. Für viele gelten die Deutschsprachigen dort nicht nur als die "letzten wirklichen Belgier".

    Auszug aus dem Manuskript:
    O Belgique, ô mère chérie,
    A toi nos coeurs, à toi nos bras,
    A toi notre sang, ô Patrie !
    Nous le jurons tous, tu vivras!


    O Belgique, ô mère chérie. Belgien ist heute ein föderaler dreisprachiger Bundesstaat. Und ein föderales Provisorium, das immer noch einer großen Staatsreform harrt. Um das komplizierte politische System Belgiens zu verstehen, wünscht man sich eine Gebrauchsanweisung. Aber das wäre wohl zu einfach. Und überhaupt nicht belgisch. Es müssten mindestens zwei Gebrauchsanweisungen sein. Am besten drei.
    Jacques de Decker, französischsprachiger Belgier:
    Meine Mutter war schon in Brüssel geboren und hatte schon auf Französisch die Schule gefolgt. Sie war mehr französisch Sprechende als mein Vater, aber mein Vater war ein Kunstmaler, und er hatte an der Akademie in Brüssel gelehrt auf Französisch. Sie waren alle beide zweisprachig schon, aber ihre Familien, ihre Brunnen, waren alle flämisch.


    O dierbaar België
    O heilig land der vaad'ren
    Onze ziel en ons hart zijn u gewijd.
    Aanvaard ons hart en het bloed van onze adren,
    ...
    O dierbaar België. Belgien besteht auf der Gemeinschaftsebene aus drei kulturell und politisch weitgehend autonomen Sprachgemeinschaften: der Französischen Gemeinschaft, der Flämischen Gemeinschaft und der Deutschsprachigen Gemeinschaft. Alle drei Gemeinschaften verfügen über eigene Parlamente mit gesetzgeberischer Kompetenz.
    Geert van Istendael, niederländischsprachiger Belgier:
    Ich war ein Jahr alt, wenn meine Eltern umgezogen sind nach Holland. Sonst wäre ich französischsprachig. Zufälligerweise bin ich Flame. Das Französische war die gehobene Sprache, die bessere Sprache, die Sprach der Oberschicht. Und meine Mutter hat immer gesagt: Erstmal Französisch lernen, nicht die Muttersprache, erst mal Französisch lernen. Haben wir auch gemacht, wenn wir aus Holland zurückgekommen sind, und wenn ich ein kleiner Junge war, hat man mir doch manchmal gesagt: sale petit flamend, schmutziger kleiner Flame.




    O liebes Land, o Belgiens Erde,
    Dir unser Herz, Dir unsere Hand,
    Dir unser Blut, dem Heimatherde,
    wir schworen's Dir, o Vaterland!
    ...
    O liebes Land, o Belgiens Erde. Auf der Regionalebene besteht Belgien aus drei Regionen: der Wallonischen Region, die französischsprachig ist, der Flämischen Region, in der man Niederländisch spricht und der französisch- und niederländischsprachigen Region Brüssel-Hauptstadt.

    Während die gesetzgeberischen Kompetenzen der flämischen Region mit denen der Flämischen Gemeinschaft zusammengeführt sind, verfügen die Wallonische und die Brüsseler Region jeweils über ein eigenes Parlament.

    Freddy Derwahl, deutschsprachiger Belgier:
    Die Sprache war natürlich in der Familie einsprachig, deutsch, und mit einigen Brüchen danach immer mehr französisch, weil, wir lebten ja damals doch hier im Sog der Wallonie. Und man darf nicht vergessen, dass es hier in der Nachkriegszeit aus politischen Gründen nicht so sehr gewünscht war wenn man so sehr auf die deutsche Sprache pochte, und so war das alles auch ein Seiltanz.


    Die Deutschsprachige Gemeinschaft ist eine eigenständige politische Körperschaft, ein kleiner Gliedstaat im föderalisierten Belgien und staatsrechtlich anerkannt durch Artikel 2 der belgischen Verfassung. In der Deutschsprachigen Gemeinschaft leben etwa 74.500 Menschen, deren Muttersprache meist Deutsch ist.
    Parlament der Deutschsprachigen Gemeinschaft

    Der BRF ist ja nicht nur das Spiegelbild der Deutschsprachigen Gemeinschaft, er ist ja viel mehr als das, unter anderem hält der BRF dieser Gemeinschaft auch den Spiegel vor. Und der BRF ist natürlich auch ein Kulturträger. Wir veranstalten Ausstellungen, Konzerte und dergleichen mehr, und die Hörer und die Zuschauer haben ständig Zugang zum Haus, also ein öffentlich-rechtlicher Sender, der auch allen offen ist.
    Hans Engels, Direktor des BRF
    Der Belgische Rundfunk ist der öffentlich-rechtliche Rundfunk der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens und hat somit einen entsprechenden Auftrag zu erfüllen. Das heißt: Wir verstehen uns als ein Medium, das in erster Linie zu informieren hat: für und über unsere Gemeinschaft, über Belgien, die Euregio, aber auch über das internationale Geschehen.
    BRF1
    BRF2


    Auszug aus dem Manuskript:
    Alice Smeets:

    Das ist oft so, dass ich im Ausland gefragt werde, sprichst du Französisch oder Flämisch, dann sag ich nein, ich spreche Deutsch, und dann bin ich stolz darauf, aus einer Minderheit zu kommen.
    Alice Smeets ist eine 22-jährige Fotografin aus Eupen, ein Shootingstar unten den Fotojournalisten. Sie studierte Fotografie in Lüttich und Amsterdam, hat Ihr Handwerk aber maßgeblich in New York bei Philip Jones Griffiths gelernt, der in den 70er Jahren durch seine Vietnam-Fotografien weltbekannt wurde. Bis zu Griffiths' Tod arbeitete sie in New York als seine Assistentin. Im Jahr 2008 wurde ihr Bild "Haiti" zum UNICEF-Foto des Jahres gekürt. Nach wie vor ist Alice Smeets Haiti sehr verbunden. Schon fünfmal hat sie den Karibikstaat bereist und hilft nun u.a. durch Verkaufserlöse ihrer Fotos beim Wiederaufbau des so dramatisch von Erdbeben gezeichneten Landes. Doch wie nimmt man die weltoffene Ostbelgierin im Ausland wahr?
    Alice Smeets:
    Sehr selten passiert es, dass die Leute wissen, dass man in Belgien auch Deutsch spricht, manche tun so, als wüssten sie es, aber haben dann eigentlich doch keine Ahnung.
    Man fragt mich meistens aus welcher Stadt ich komme, und dann sage ich, das kennst du sowieso nicht, weil Eupen halt so klein ist, und dann sag ich's halt trotzdem und die Leute kennen es nie, dann beschreibe ich Ostbelgien einfach als Minderheit und sage, wir sind ungefähr 70 - 80.000 Menschen, wir sprechen deutsch, wir haben unsere eigene Tageszeitung, wir haben zwei Radiosender, wir haben zwei eigene Fernsehsender, wir haben alle Schulen auf Deutsch, wir sind eigentlich sehr verwöhnt.
    Dass wir so eine kleine Anzahl Menschen sind und trotzdem unsere Sprache und Kultur so geschützt wird.
    Wenn man zehn Minuten im Auto fährt, dann ist man in Deutschland, da wird die gleiche Sprache gesprochen, aber es ist eine andere Kultur. Wenn wir 30 Minuten weiterfahren, ist man in den Niederlanden, da spricht man niederländisch, und das ist noch eine andere Kultur, und dann ist es auch ziemlich nahe an Verviers, wo Französisch gesprochen wird, und es ist wieder ein wenig andere Kultur, und ich denke, das hat mich sehr beeinflusst, auch die verschiedenen Sprachen, ich spreche drei verschiedene Sprachen, und ich denke, das hat mich sehr geöffnet, auch meinen Blick auf die Welt hat das geprägt.
    Es gibt viele Vermischungen, weil es viele Leute gibt, die in dem französischsprachigen Teil Belgiens studiert haben, die wenigsten gehen nach Flandern zum Studieren, mittlerweile ist es so, dass viel mehr Leute nach Deutschland gehen, aber es ist so, dass die Generation von meinen Eltern fast ausschließlich in Lüttich, Brüssel oder Neu-Löwen studiert hat, wo man Französisch spricht.
    Also ich denke, bei uns ist das eine Mischung aus der deutschen Kultur und aus der wallonischen Kultur. Wir haben immer noch das zielstrebige, das Pünktliche in unseren Genen, wir haben aber auch trotzdem dieses Gelassene und dass man, dass man wirklich raus geht bis zum Gehtnichtmehr, dass man n Bier, das belgische Bier über alles liebt und über alles preist, ja und es ist nicht, es ist auch n Ticken wärmer, es ist nicht ganz so warm wie in der Wallonie, die Menschen sind nicht ganz so herzlich, es ist aber auch nicht wie - man merkt es an der Grenze, wenn man nach Aachen geht, dann werden die Menschen direkt etwas kälter.
    Im ostbelgischen Grenzraum vermischen sich nicht nur die Kulturen, es gehören auch zwei Sprachen zum Alltag, die Ostbelgien gewissermaßen eine "doppelköpfige Kontur" geben. Bereits im Kindergarten können die Kinder ganz selbstverständlich Deutsch und Französisch sprechen.

    Ostbelgien, das bedeutet für den Besucher aber auch immer wieder landschaftliche und städtebauliche Überraschungen, ebenso einladend wie irritierend. Hier vermischen sich Tradition und Rustikalität mit einem Hauch von Savoir-vivre und eigenwilliger Patchworkmentalität, teils charmant und nahezu zielstrebig anarchisch-markant, teils mit einem schonungslosen Laissez-Faire, der fast trotzig Stillosigkeit zum Prinzip erhebt.
    Mehr über Alice Smeets bei Wikipedia
    AliceSmeets.com

    GrenzGeschichteDG - eine Arbeitsabteilung der Autonomen Hochschule in der DG
    Seit mehr als 25 Jahren widmen wir uns der Aufarbeitung und Verbreitung der regionalen Alltags-, Sozial- und Zeitgeschichte der Ostkantone Belgiens und des euregionalen Grenzlandes.
    Weiterlesen
    Freddy Derwahl, Johannes Weber
    Kirchen und Kapellen in Ostbelgien
    2009 Schnell & Steiner
    Im Osten des Königreiches Belgiens ist eine rund 74.000 Einwohner zählende deutschsprachige Minderheit zuhause. Die Deutschsprachige Gemeinschaft verfügt über weitreichende Autonomie - so hat sie auch die Aufsicht über die kirchlichen Güter. Erstmalig werden die 91 Kirchen und Kapellen Ostbelgiens in einem Band präsentiert.

    Hinterland I
    Jürgen Nendza

    und dein Genick geschabt vom Mantelkragen: Kälte
    zieht im Handlauf dich hinab vom Turm. Der Abgrund
    eben, die Oberfläche Wort und winterhart
    die Buchstaben durchkreuzt von deinen Nerven: Spurrillen
    der Kufen. Im Nachgang Stiefelschritt und Schneefegen
    dein Metronom, feinstes Pinseln über Kuppen
    wie atmendes Gelände. Du horchst ihm nach, zermalmst es
    fort auf Knochenlänge, knirschend: Aus dem Schallschatten
    erweckt Geläut und Läutewerk, Alarm, bis eine Biegung
    weiter stille Schlitten Pferde aus dem Schlaf entlassen
    jenseits des motorisierten Lichts. Stacheldraht siehst du,
    prikkeldraad im nächsten Schritt, die Landschaft
    eine Tür. Doch die Bedeutung der Tür ist irrelevant,
    egal wohin sie führt, nur dein Überraschtsein
    gibt ihr Sinn. Dein Kragen schabt. Orangefarben
    steht über dir der kleine Kreis: leichte Wärme, Wunde,
    Himmel. Zwischen Wort und Bild, denkst du,
    liegt ein Scharnier. Oder eine Ewigkeit.
    Winter im Dreiländereck Deutschland - Niederlande - Belgien. Der Aussichtsturm am Dreiländerpunkt bietet einen herrlichen Blick ins Aachener Hinterland und ist ein beliebtes Ziel für Ausflügler. Die grüne Grenze, im Winter gelegentlich schneebedeckt, verbirgt indes ein historisch heute nahezu unbekanntes Kapitel des Ersten Weltkrieges. Hier an der Grenze zwischen den Niederlanden und Belgien hatten deutsche Truppen einen Hochspannungszaun errichtet, der vom damaligen Vier(!)ländereck schließlich über 300 km Länge bis zur Küste reichte und Schmuggel, Spionage und Flucht verhindern sollte.
    Weiterlesen und auf lyrikline.org
    Mehr über den Autor Jürgen Nendza:
    Auszug aus dem Manuskript:
    Während sich der Norden mehrsprachig, weltoffen und städtisch ausrichtet, werden im bäuerlich geprägten Süden durchaus andere Wertorientierungen betont. Und bei allem Zusammenspiel von germanischer und romanischer Kultur bleiben Differenzen zwischen Ostbelgien und der angrenzenden Regionen der französischsprachigen Wallonie deutlich spürbar. Die Buchautorin und Journalistin Ulrike Schwieren-Höger:

    "Die Menschen im Süden Ostbelgiens kleben an ihrer Scholle, setzen auf Familienbande, Nachbarschaftshilfe und die Liebe zur engsten Heimat. Veränderungen brauchen Zeit. Frauen haben es noch immer schwer, sich in der Politik durchzusetzen. Kinder, Küche, Kirche sind für viele die drei K, die ihr Leben bestimmen. So unterschiedlich sind manchmal die Ansichten und Lebensweisen zwischen dem Norden und dem Süden Ostbelgiens, dass die Tageszeitung "LaLibre Belgique" unkt, die Deutschsprachige Gemeinschaft sei eher eine Schicksalsgemeinschaft denn eine Gemeinschaft. Haben schon die Deutschsprachigen ihre Probleme miteinander, wundert es nicht, dass die Verbindung zum französischsprachigen Malmedy noch schwieriger ist, denn hier müssen auch noch Mentalitätsgrenzen überschritten werden. (Ostbelgien & Die Deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens, 2009)

    Ulrike Schwieren-Höger, Jörn Sackermann
    Ostbelgien & die Deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens
    Bilder, Spuren, Hintergründe.
    2009 Grenz-Echo Verlag
    In welchem Fluss steckt pures Gold? Wer kocht in alten Fabrikhallen? Was treibt ein Verein auf der Eyneburg? Warum war Hermann Löns das Hohe Venn lieber als der Rhein? Wo kann man auf 7000 Jahren Erdgeschichte balancieren? Wer hat Angst vor dem Geist der Warche?
    Antworten auf diese und viele andere Fragen gibt das Buch"Ostbelgien". Grün ist hier das Land, verziert von Löwenzahn und Butterblumen, durchwirkt von Hecken, hinter denen Burgen und Schlösser ihre müden Mauern zeigen. Ostbelgien hat schon mehrfach die Nationalfahnen wechseln müssen. Das prägt die Menschen, die heute - deutsch, französisch und niederländisch parlierend - an ihrem eigenen kleinen Europa bauen. Was sie eint, erfreut auch die Touristen: Städte wie Eupen, Malmedy und St. Vith, bunte Folklore, die Liebe zum guten Essen, würziges Bier, romantische Seen, dunkle Wälder, einsame Flüsse und die einzigartige Hochmoorlandschaft des Hohen Venn, die manches Geheimnis hütet ...
    Ulrike Schwieren-Höger
    Eupen
    Deutsch-Französisch-Niederländisch.
    2009 Grenz-Echo Verlag
    Willkommen: Wer dem Lied Eupens lauscht, spürt ein Geheimnis. Hier mischen sich germanische und romanische Kultur, hier leben 20.000 Menschen, die Deutsch sprechen, belgisch fühlen und oft Französisch parlieren. Hier macht Belgiens Deutschsprachige Gemeinschaft eine Kleinstadt zur Hauptstadt.
    Die Besucher schwärmen von guter Küche und mancher Sehenswürdigkeit: Die Türme der St.-Nikolaus-Pfarrkirche überragen spitz die Dächer, barocke Paläste erzählen von Zeiten, als in Eupen Tuche hergestellt wurden; so fein, dass aus aller Welt Aufträge kamen. Und gleich vor den Toren der Stadt liegt das Hohe Venn - einzigartig in seiner Schönheit.

    Eupen will entdeckt werden - auch mit seinen verschwiegenen Winkeln; denn sie stehen dieser Stadt auf der Grenze von Kultur, Tradition und Sprache besonders gut.

    Auszug aus dem Manuskript:
    Das Gebiet der heutigen Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens war lange Zeit alles andere als einheitlich. Bis zum Wiener Kongress im Jahre 1815, der die Region um Eupen und Malmedy an Preußen übertrug, war dieses Gebiet aufgespalten in eine Vielzahl von Fürsten- und Herzogtümern mit eigener Gerichtsbarkeit und eigenen Zollbestimmungen, wie der Historiker Eupener Dr. Herbert Ruland nachweist:
    "Das Eupener Land war Teil des Herzogtums bzw. der Provinz Limburg der habsburgischen Niederlande. Der Ort Lontzen, hart bei Eupen gelegen, gehörte dem Aachener Marienstift und bildete eine Enklave als reichsunmittelbare Herrschaft. Der später preußische Kreis Malmedy gehörte vormals zu Teilen zum Herzogtum Luxemburg, ebenfalls Bestandteil der südlichen Niederlande, zur Fürstabtei Stavelot-Malemedy, einer reichsunmittelbaren Herrschaft, und zu Kur-Trier. Das St. Vither Land war seit dem hohen Mittelalter ein Bestandteil Luxemburgs." (Ruland, Grenz-Controle/ Grenz-Controle, 2008 S.40)
    Jac van den Boogard, Luise Clemens, Armin Heinen, Johanna Jantsch, Herbert Ruland, Anika Schleinzer (Hrsg.),
    Grenz-Controle / Grens-Kontrolle.
    Maastricht - Eupen - Aachen - Oral Histories,
    Remscheid 2008

    Auszug aus dem Manuskript:
    Seit 1980 besteht in St. Vith das Theater AGORA, gegründet von dem kürzlich verstorbenen Marcel Cremer. AGORA ist eines der bedeutendsten belgischen Theater und heute international genauso bekannt wie in seiner ostbelgischen Heimat, wo es seit 1986 alljährlich das TheaterFest der Deutschsprachigen Gemeinschaft ausrichtet. Als Tournéetheater ist AGORA jährlich mit etwa 200 Aufführungen in ganz Europa unterwegs. Die Stücke werden meist in deutscher und französischer Sprache erarbeitet, manchmal auch in Niederländisch.
    Nach 30jährigem Wirken hat das erfolgreiche Theater seit 2009 mit dem Kulturzentrum Triangel in St. Vith einen festen Probe- und Spielort erhalten. Das Ensemble besteht heute aus 28 Mitgliedern. Neben Schauspielern zählen dazu auch Musiker, Objektkünstler, Handwerker und Pädagogen. AGORA ist vielfach ausgezeichnet, mehrfach mit den Hauptpreisen des nationalen Theatertreffens im belgischen Huy, mit den Theaterpreisen der Städte Köln und Göppingen, und 2006 erhielt das ostbelgische Ensemble eine Einladung zum 60. Internationalen Festival von Avignon. Erst kürzlich wurde ein Gastspiel im fernen Minsk, im ausverkauften weißrussischen Nationaltheater mit großen Beifallsstürmen bedacht.

    Über das besondere Konzept von AGORA schrieb Theatergründer, Autor und Regisseur Marcel Cremer in seinem Buch "Der unsichtbare Zuschauer":
    "Wir sind keine Exoten. Wir sind zwar offen für das Fremde, aber absolut bodenständig. Wir haben uns auf einem ausgedienten Fußballplatz gegründet und ich zeige auch heute noch gerne den internationalen Beobachtern des TheaterFestes die ostbelgischen Wiesen, Wälder, die Hallen, die unsere Probenräume sind. Viele Leute, die unsere Stücke sehen, haben mir gesagt, dass man spürt, dass die Agora immer noch ein Stück Heimat transportiert. Weil bei der Arbeit an den Stücken und mit den Schauspielern eine eigene Methode entstanden ist, das autobiografische Theater, sind wir international so erfolgreich. Uns zeichnet eine eigene Handschrift aus, wir sind genauso eigentümlich wie Ostbelgien. (...)
    Ich musste die Stärken der nicht ausgebildeten Schauspieler aufspüren und weiterentwickeln, ihr autobiografisches Potenzial entdecken, das wir als Ankerpunkt brauchen, denn sie müssen auf der Bühne mit Schauspielern auftreten, die eine Schauspielschule absolviert haben. Und man darf sie nicht von diesen Profis unterscheiden können. Das, was zu Beginn nur logisch war, habe ich zu einer Methode entwickelt, mit der ich heute auch die Stärken der professionellen Schauspieler erforsche und optimal einsetze. So gelangen private Anliegen in die Theaterstücke. Bei Agora werden keine Worte zitiert, wird kein Regieauftrag erfüllt. Der Schauspieler wird zum Autor seiner Figur. (...)

    AGORA
    Krautgarten - Forum für junge Literatur ist eine halbjährlich erscheinende internationale Literaturzeitschrift aus dem deutschsprachigen Teil Belgiens (auch sogenannte Ostkantone). Sie erscheint in Neundorf nahe Sankt Vith
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    Krautgarten



    Diesseits von Belgien
    Impressionen aus Ostbelgien
    Hrsg. v. Marion Schmitz-Reiners
    Fotos v. Willi Filz
    2009 Grenz-Echo Verlag
    Sie sind Belgier, ihre Muttersprache ist Deutsch und auf beides sind sie stolz. Rolls Royce liefern sie Turbinenscheiben für Flugzeugmotoren; die Schauspieler des Agora-Theaters sind auf vielen Bühnen der Welt zuhause, für Flamen und Niederländer ist die ostbelgische Hügellandschaft am Rande des geheimnisvollen Hochmoores Hohes Venn eine beliebte Alternative zu alpinen Herausforderungen; die deutschen Nachbarn schätzen besonders die französisch angehauchte Küche. Und im föderalen belgischen Staatsgefüge hat die Deutschsprachige Gemeinschaft als kleinster Teilstaat mit eigenem Parlament und eigener Regierung ebenso ihren Platz gefunden wie in der Euregio Maas-Rhein, die ihren Sitz im ostbelgischen Eupen hat, oder in der Großregion Saar-Lor-Lux.
    Ostbelgien ist immer für eine Überraschung gut. So wie dieser Bildband, der das aktuelle Porträt einer Region zeichnet, in der Europa schon lange vorgelebt wird, und von ihren Menschen erzählt, deren Offenheit und Gastfreundschaft bis weit über die Grenzen Ostbelgiens hinaus bekannt sind.
    Bilder und Texte begleiten Sie durch einen Landstrich, der ebenso überschaubar wie abwechslungsreich, ebenso beschaulich wie lebendig ist.

    Auszug aus dem Manuskript:
    Ludwig Henkes:

    Es gibt in Ostbelgien mittlerweile etwas, was ich ein positives Selbstbewusstsein umschreiben würde. Ich selber bin Jahrgang 59, habe also die Nachkriegszeit direkt nicht mehr erlebt, kenne diese Zeit vom Erzählen, kann mich aber sehr gut erinnern, dass noch anfangs der 70 er Jahre in der Bevölkerung eine übertriebene Bescheidenheit vorherrschte, was zum Beispiel Strukturen, Staatsstrukturen anbelangte. Man wusste nicht genau wohin man gehört. Zu oft haben unsere Eltern, Großeltern, unsere Altvorderen die Grenzen wechseln müssen. Und das war immer mit sehr viel Leid verbunden. Und seit, ich würde sagen 10, 20 Jahren, das kann man jetzt nicht an einem Datum festmachen, aber hat sich bei der jüngeren Generation auch ein sichtlicher Stolz gezeigt, Ostbelgier zu sein. /../ Und es ist wahrscheinlich schon so, dass die Ostbelgier auch ganz speziell dann in der näheren Umgebung, wenn man dann nach Lüttich, Brüssel, Aachen, Köln geht, ein gutes Ansehen haben. 14:40
    Also ich lege sehr viel Wert darauf, mich als Ostbelgier zu präsentieren.
    Ganz selbstverständlich als Ostbelgier aufzutreten, wie es Ludwig Henkes, Firmeninhaber und Vorsitzender des Arbeitgeberverbandes, beschreibt, das ist auch für die 22jährige Eupener Fotografin Alice Smeets eine Selbstverständlichkeit.
    Alice Smeets:
    Ja, ich fühle mich als Ostbelgierin, ich fühle mich vor allem als Belgierin, weil ich Belgien mag, ich mag die Kultur, ich mag die Leute, ich mag, dass wir so unterschiedlich sind, aber da meine Muttersprache Deutsch ist, fühle ich mich natürlich als Ostbelgierin, weil das ist oft so, dass ich im Ausland gefragt werde, sprichst du Französisch oder Flämisch, dann sag ich nein, ich spreche Deutsch, und dann bin ich stolz darauf, aus einer Minderheit zu kommen.
    Ich schau die Tagesschau. Ich schaue meistens keine belgischen Nachrichten, weil die auf Französisch sind, und ich es einfach gewohnt bin, alle Neuigkeiten auf Deutsch, also auf deutsch zu lesen oder auf Deutsch zu schauen./
    Ich lese die Literatur immer in der Sprache, in der sie geschrieben wurde, wenn sie auf Französisch geschrieben wurde, dann lese ich sie auf Französisch, wenn sie auf Deutsch geschrieben wurde, auf Deutsch und auf Englisch, dann lese ich sie auch auf Englisch.
    Zum gewachsenen Selbstbewusstsein der deutschsprachigen Belgiern gehört sicherlich nicht zuletzt auch die Sympathie für das Königshaus. Nicht von ungefähr wird den Ostbelgiern gerne nachgesagt, sie seien die königtreuesten und deshalb auch die "letzten wahren Belgier". Solche Urteile seien mit großer Vorsicht zu genießen, warnt der Journalist und Schriftsteller Freddy Derwahl. Dem König aber bescheinigt er dennoch eine durchaus bedeutende Rolle im undurchsichtigen belgischen Föderalstaatsgeflecht.
    Freddy Derwahl:
    Das Königshaus spielt eine wichtige Rolle. Der König ist von guten Leuten umgeben und sehr, sehr gut beraten. Er spricht, wie man so schön sagt, mit Stock und Anlauf die drei Landesprachen. Natürlich am besten die Frankophone, aber auch Flämisch, das ginge gar nicht anders. Deutsch, das ist n bisschen schwieriger, aber das sehen wir ihm nach, er gibt sich jedenfalls viel Mühe. Aber er hält wichtige Reden, die sich etwa von den Reden eines deutschen Bundespräsidenten unterscheiden. Beim deutschen Bundespräsidenten sind das so Gesundbeterreden, für dieses oder jenes Wehwehchen. Dagegen bei uns wird das immer sofort sehr, sehr ernst, weil es geht um Sein oder Nichtsein in den letzten Jahren. Was er auch sagt hat immer eine automatische Auswirkung auf belgische Trennungsbefürchtungen. Und deshalb ist das alles sehr, sehr wichtig. /.../ Das alles schafft eine Atmosphäre der Gemeinsamkeit, wo seine Präsenz deutlich macht, dass das hier alles zwar verschieden ist, aber auch ein großer Reichtum, auf den man stolz sein darf und den man nicht irgendwelchen Parolen preisgeben soll.

    Die Deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens verfügt über ein eigenes Parlament mit einem Ministerpräsidenten und vier Ministern und über eine Autonomie in kulturellen, bildungs- sozial- und beschäftigungspolitischen Belangen. Das alles zeugt bereits von einem hohen Grad an politischer Souveränität. Die Amtssprache ist Deutsch, hier kauft man beim belgischen Aldi, verfügt über einen eigenen deutschsprachigen Rundfunk und mit dem "Grenz-Echo" über eine eigene deutschsprachige Tageszeitung. Hier schaut man mit Vorliebe deutsches Fernsehen und sympathisiert dennoch mit dem belgischen Könighaus. Die Schüler lernen mit deutschen Schulbüchern, und viele ostbelgische Studenten zieht es zum Studium nach Deutschland. Trotzdem ist man dem großen Nachbarn Deutschland gegenüber immer ein wenig skeptisch. Und es bleibt die Frage: Gibt es so etwas wie eine Identität, eine kulturelle Identität der deutschsprachigen Belgier? Oder müssen wir von mehreren Identitäten sprechen?

    Die deutschsprachigen Belgier haben in den letzten Jahren zumindest ein neues Selbstbewusstsein entwickelt, trotz mancher Widersprüche auch innerhalb der Deutschsprachigen Gemeinschaft, trotz oder vielleicht besser: auch wegen der zahlreichen kulturellen Vermischungen in dieser Region, wegen dieser vielseitigen Grenznähe, die Mehrsprachigkeit zum Alltag und Regelzustand macht und sukzessive Horizonte öffnet.

    Ludwig Henkes:
    Vielleicht ist doch typisch für Ostbelgien, dass wir eine gewisse Offenheit haben über die Grenzen hinaus. Dass es uns leicht fällt, nach Luxemburg, nach Frankreich, nach Holland, nach Deutschland zu fahren. Einfach weil, in einer Grenzregion eh die Menschen auf Kommunikation über die Grenzen hinaus angewiesen sind.
    Alice Smeets:
    Also ich würde sagen, die Identität ist eine Mischung aus der deutschen und der französischsprachigen Mentalität. Das ist ne Mischung der beiden Kulturen in verschiedenen Hinsichten, das, würd ich sagen, ist die Identität der deutschsprachigen Belgier.
    Ich denke schon, dass es mich beeinflusst hat, dass ich andere Kulturen viel schneller akzeptieren kann, weil man sieht, wie verschieden die Leute sind, die Menschen auf der ganzen Welt sind verschieden, und das ist dann einfach für mich, das zu akzeptieren, weil ich damit aufgewachsen bin.
    Freddy Derwahl:
    Es ist ein neues Selbstbewusstsein im Entstehen, ein zartes Pflänzchen und man darf diese Dinge nicht strapazieren. Die kulturelle Identität ist nicht ganz so selbstverständlich. Erstens haben wir zumindest hier im Eupener Land eine gewisse Vorsicht und Reserve gegenüber dieser kulturellen Identität, das erinnert manche Leute noch an Großdeutschland und die Deutsche unsere Identität wenn überhaupt ist eine multikulturelle. Die sprachlichen Einflüsse aus Verviers-Lüttich oder Maastricht-Heerlen und auch selbst das eher Rheinische Aachen und Köln, das formt einen ganz anderen Menschenschlag als so einen Einheitsguss. Und den wollen wir ja auch nicht. In dem Sinne sind wir an sich ganz echte Belgier, weil das eben zur Identität Belgiens gehört, das sie keine hat und auch keine haben will, sondern dass sich das alles so n bisschen munter mischt.