"Wir dachten damals alle: Jetzt beginnt ein neues Zeitalter. Wir hatten so etwas Naives an uns, haben geglaubt, wir würden nie wieder solche Probleme haben wie in der Vergangenheit. Wir waren wie Verliebte, die die eigene Zukunft voller Optimismus sehen. Und die dann nach der Hochzeit feststellen, dass alles nicht so einfach ist."
China Ende der 70er-Jahre. Die Kulturrevolution ist zu Ende. Das Land erwacht aus einem Albtraum. Zehn Jahre erbitterter ideologischer Kämpfe, öffentlicher Demütigungen und politischer Verfolgungen liegen hinter den Chinesen.
Eine Zeit, in der Prozesse nicht vor Gericht geführt wurden, sondern in Versammlungssälen oder im Freien. In der Urteile nicht von Gerichten gesprochen wurden, sondern von Rotgardisten und Parteikadern. In der Prozesse nicht der Rechtsprechung dienten, sondern der Demütigung der Angeklagten.
Nach dem Ende der Kulturrevolution und dem Tod Mao Zedongs setzt sich Deng Xiaoping an die Spitze der Volksrepublik.
Um die Volksdemokratie zu sichern, müssen wir unser Rechtssystem stärken. Die Demokratie muss geschützt und in Gesetze gefasst werden, damit wir sichergehen können, dass Institutionen und Gesetze sich nicht jedes Mal ändern, wenn die Führung wechselt oder auch nur ihre Ansichten ändert. Deng Xiaoping, 13. Dezember 1978
Mit seiner Reformpolitik will Deng China öffnen und die Wirtschaft entwickeln. Erste marktwirtschaftliche Experimente beginnen auf dem Land, eine neue Verfassung wird ausgearbeitet, Universitäten, die von den roten Garden geschlossen worden waren, eröffnen wieder. Der 18-jährige He Weifang legt 1978 seine Aufnahmeprüfung ab.
"Ich wollte eigentlich Schriftsteller werden, das war mein Traum. Als ich die Aufnahmeprüfung für die Uni gemacht habe, bewarb ich mich für chinesische Sprache und Literatur. Ich bekam aber einen Platz für Rechtswissenschaft. Ich wusste damals gar nicht, dass es so etwas gibt."
He Weifang gehört dem zweiten Jahrgang Jurastudenten an. Zehn Jahre lang war China damit beschäftigt, alles Alte auszulöschen, seine inneren Feinde zu bekämpfen und "stinkende Intellektuelle" umzuerziehen. Danach gibt es so gut wie keine Juristen mehr. An die Gerichte werden pensionierte Militärs und Polizisten berufen, an den juristischen Fakultäten beginnt man bei null.
"Man hat damals die alten Professoren, die vor der Kulturrevolution Recht gelehrt haben, gesucht und wieder an die Uni berufen. Einige hatten sich seit mehr als zwanzig Jahren nicht mehr mit Jura befasst."
An den Universitäten herrscht dennoch Aufbruchstimmung. Eine Generation, die in den Gewaltorgien der Kulturrevolution aufgewachsen ist, träumt von der strengen Ordnung detaillierter Paragrafenwerke. Von einer Gesellschaft, in der der Einzelne Schutz genießt vor politischen Massenkampagnen, vor fanatischen Rotgardisten und despotischen Parteikadern. Das Wort Gesetz klingt wie ein großes Versprechen.
Verfassung der Volksrepublik China vom 4. Dezember 1982, Präambel: Unter Führung der Kommunistischen Partei und unter Anleitung des Marxismus-Leninismus und der Mao-Tse-tung-Gedanken wird das chinesische Volk dem sozialistischen Weg folgen, die sozialistischen Institutionen aufbauen und das sozialistische Rechtssystem stärken.
Shenzhen, eine Metropole im Süden Chinas. Zhou Litai ist ein volkstümlicher Mann mit Bürstenhaarschnitt, der ein traditionelles schwarzes Hemd ohne Kragen trägt. Zhou Litai ist Anwalt für Arbeitsrecht. Unter den Arbeitern der Industrieprovinz Guangdong ist er fast schon eine Legende.
"Ich habe zur ersten Generation von Wanderarbeitern gehört. Von 1980 bis 1983 habe ich in den Ziegeleien von Hunan gearbeitet und nebenbei im Selbststudium Jura gelernt. Ich bin ein Bauerssohn, ich weiß, wie schwierig es die einfachen Leute in China haben, ihre Rechte zu verteidigen."
Als Zhou in den 90er-Jahren seine Kanzlei eröffnete, war die Lage der Arbeiter kaum Thema in China. Billige Arbeitskräfte waren eine Säule des chinesischen Wirtschaftswunders. Die Regierung schmückte sich mit Wachstumszahlen. "Lasst einige zuerst reich werden", hatte Deng Xiaoping den Genossen auf den Weg mitgegeben. Einer wie Zhou passte da gar nicht ins Bild:
"1997 hat mir die Anwaltskammer meine Zulassung entzogen, 2001 hat mir das Justizbüro verboten, weiter Arbeiter vor Gericht zu vertreten, und mich als ’schwarzen Anwalt’ bezeichnet, also als nicht qualifiziert. Außerdem wurde ich von der Polizei überwacht, es hat Durchsuchungen gegeben."
Zhous Kanzlei ist ein Labyrinth aus kargen Räumen, in denen die Mitarbeiter hinter Schreibtischen aus lackiertem Holz sitzen. Schüchtern sitzen ihnen die Arbeiter gegenüber und schildern ihre Fälle.
"Seit wir vor elf Jahren angefangen haben, haben wir bereits 7.000 Fälle behandelt. Die Probleme, mit denen wir zu tun haben, sind: Erstens: Die Arbeiter bekommen keinen Vertrag und können ihren Lohn nicht einklagen. Zweitens: Überstunden werden nicht bezahlt. Drittens: Die Arbeitgeber schließen die gesetzlichen Versicherungen nicht ab. Und viertens: Firmen weigern sich bei Arbeitsunfällen, Entschädigungen zu zahlen."
Inzwischen hat Zhou Litai seine Zulassung vor Gericht wiederbekommen. Anders als vor zehn Jahren sind Arbeiterrechte kein Tabuthema mehr. Mittlerweile muss eine Kranken- und Unfallversicherung für die Arbeiter abgeschlossen werden. Gesetze begrenzen die Wochenarbeitszeit auf 40 Stunden, limitieren die Zahl der Überstunden und legen Mindestlöhne fest.
"Wenn es den Arbeitern gelingt, ihre Fälle vor Gericht zu bringen, dann haben sie unserer Erfahrung nach große Chancen, die Prozesse auch zu gewinnen und beispielsweise eine Entschädigung zugesprochen zu bekommen."
Die Organisation "China Labour Bulletin" dokumentiert die Arbeitsbedingungen in China. Ihr Gründer Han Dongfang lebt seit 1994 in Hongkong im Exil. Der Aktivist musste China verlassen, nachdem er versucht hatte, Arbeiterproteste zu koordinieren und eine unabhängige Gewerkschaft zu gründen.
"Oft nehmen die Gerichte die Klagen gar nicht an. Und auch wenn die Arbeiter recht bekommen, heißt das noch lange nicht, dass das Urteil auch umgesetzt wird. Oft bekommen die Arbeiter eine Entschädigung zugesprochen, aber sie haben dann keine Möglichkeit, das Geld zu bekommen."
Dennoch - weil es für Chinas Wanderarbeiter keine andere legale Möglichkeit gibt, auf Missstände aufmerksam zu machen und Forderungen zu stellen, kommt den Gerichtsprozessen eine enorme Bedeutung zu.
"In den letzten elf Jahren haben wir durch die Fälle, die wir vor Gericht gebracht haben, und durch das Interesse der Medien eine große Veränderung erreicht. Aber die Ergebnisse hängen sehr stark davon ab, wo die Gerichte sind. Die lokalen Gerichte werden von den jeweiligen Lokalregierungen kontrolliert und urteilen sehr unterschiedlich."
Etwa 250 Jahre vor unserer Zeitrechnung schrieb der Philosoph Han Feizi seine Überlegungen zu Recht und Herrschaft nieder.
"Ein kluger Mann legt beim Schreiben seines Buches seine Beweise klar und ausführlich dar. Ein erleuchteter Herrscher wird beim Abfassen seiner Gesetze darauf achten, dass alle Möglichkeiten im Einzelnen bedacht sind."
Han war der Begründer einer philosophischen Schule, die forderte, dass Herrscher mittels klarer Gesetze regieren, die für jeden gleichermaßen gelten. Durchgesetzt haben sich Hans Gedanken im alten China nur selten.
Konfuzius hatte 200 Jahre zuvor den Gegenentwurf formuliert.
"Wenn die Menschen von Gesetzen geführt werden und ihre Einheit durch Strafe entstehen soll, dann werden sie versuchen, der Strafe zu entgehen und kein Schamgefühl haben. Wenn sie aber von der Tugend geleitet werden und ihnen Einheit durch die Regeln des Anstands gegeben wird, dann werden sie Schamgefühl kennen und sich bessern."
2000 Jahre war der Konfuzianismus Chinas herrschende Ideologie. Als Mao und seine Kommunisten an die Macht kamen, da räumten sie gründlich mit dem Konfuzianismus auf. In einem aber stimmten sie mit den alten Herrschern überein. Auch sie hielten nicht viel von der Herrschaft der Gesetze. Sie sprachen jetzt nicht mehr von Moral und Tradition, sondern von revolutionärer Gesinnung und Klassenbewusstsein. Erst mit den Reformen Deng Xiaopings knüpfte China wieder an Hans Ideen an.
Verfassung der Volksrepublik China, Artikel 5: Der Staat erhält die Einheit und Würde des sozialistischen Rechtssystems aufrecht. Kein Gesetz und keine lokalen Regeln und Verordnungen dürfen der Verfassung widersprechen. Alle Verletzungen der Verfassung und der Gesetze müssen untersucht werden. Kein Individuum und keine Organisation genießt das Privileg, über Verfassung und Gesetz zu stehen.
"”Sehr viele Regelungen der lokalen Regierungen stimmen überhaupt nicht mit der nationalen Gesetzgebung überein. China hat viele Gesetze, aber das chinesische Recht ist kein System. Es hat keine innere Harmonie, keine innere Stimmigkeit.""
He Weifang, der Junge, der eigentlich Schriftsteller werden wollte, ist heute einer der bedeutendsten Rechtsprofessoren Chinas. Immer noch liegt ein jungenhaftes Strahlen auf seinem Gesicht, wenn er von seiner Vision eines chinesischen Rechtsstaats erzählt und von den kleinen Siegen, die Chinas Juristen der Politik regelmäßig abtrotzen.
"Im Jahr 2003 gab es den Fall der Richterin Li Huijuan in Henan. Die hat ein lokales Gesetz aufgehoben, weil es mit der nationalen Gesetzgebung nicht übereinstimmte."
Das Urteil, in dem es um das Preissystem für Saatgut in der Provinz ging, kostete die Richterin ihre Stelle. Die Justizbehörde der Provinz setzte sie kurzerhand ab.
"Wir hatten dann einige Sitzungen, ich habe auch einen Artikel geschrieben, in dem ich das Urteil Li Huijuans verteidigt habe, gesagt habe, dass sie recht hat und keinen Fehler gemacht hat. Schließlich entstand ein solcher öffentlicher Druck, dass die Richterin wieder eingesetzt wurde. Sogar im Westen gab es einige Stimmen, die gesagt haben, es gibt doch noch Hoffnung auf ein Rechtssystem in China."
Berlin. Kaum eine Regierung im Westen hat die Hoffnung auf einen chinesischen Rechtsstaat so sehr institutionalisiert wie die deutsche. Unter der Aufsicht des Justizministeriums führt die Bundesregierung seit acht Jahren einen Rechtsstaatsdialog mit China. Regelmäßig trifft sich Justizministerin Brigitte Zypries mit ihrem chinesischen Kollegen, mit Jurastudenten, Richtern und Anwälten.
"Ich muss eigentlich sagen, dass es eine große Bereitschaft bei der chinesischen Seite gibt, zu lernen, zu diskutieren, zu erfahren, sich zu informieren. Und das ist auch mit der chinesischen Führung so. Und man muss sagen, dass sie in allen Bereichen interessiert sind und man in allen Bereichen auch verzeichnen kann, dass es Verbesserungen gibt."
Als der Rechtsstaatsdialog 1999 vom damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder ins Leben gerufen wurde, standen ihm die meisten Beobachter kritisch gegenüber. Der Dialog sei ein Alibi, um die chinesische Regierung nicht mit ihren Menschenrechtsverletzungen konfrontieren zu müssen, sagten viele. Barbara Lochbihler von amnesty international kann sich auch acht Jahre später noch nicht so recht mit dieser Form der Kooperation anfreunden.
"Mit welchem Recht beschäftigen sie sich? Zu 90 Prozent mit der Angleichung des Wirtschaftsrechts, das ist von mir auch nicht zu kritisieren, das mag auch gut sein. Aber ganz wenig, was Rechtsstaatlichkeit in Prozessen und Justizreform angeht."
Diesen Vorwurf lässt sich die Justizministerin nicht gefallen.
"Zum Beispiel wurde 2004 die Achtung der Menschenrechte in die Chinesische Verfassung aufgenommen. Und im Jahr 2007 wurden auch die Rechte der Strafverteidiger verbessert. Das heißt, ein Strafverteidiger hat jetzt das Recht, sich mit dem Mandanten nach einer Vernehmung unter vier Augen zu treffen."
Die Themen reichen von der Einführung eines Eigentumsrechts über das Internetrecht, das Strafrecht, das Planungsrecht oder die Ausbildung von Juristen bis zum Ablauf von Gerichtsprozessen. Eine Frage aber wird nicht gestellt: Ob ein Rechtsstaat entstehen kann, wenn über allem die Kommunistische Partei thront.
"Das würde ja bedeuten, dass man den Chinesen erklärt, dass sie ihr System ändern müssen. Das kann man machen, das kann man aber auch lassen, denn selbstverständlich würden die Chinesen da nicht auf mich hören. Und deshalb glaube ich, dass es besser ist, in konkreten Einzelschritten konkrete Rechte auch für Menschen zu definieren."
Aber kann das funktionieren? Was bringt ein Gesetz, wenn es der Staat selbst ist, der sich darüber hinwegsetzt?
Peking. Ein Besuch bei Li Subin zeigt, was Gesetze in China wert sind. Li sitzt in seiner Wohnung in einem Vorort. Auch er hat kurz nach der Kulturrevolution Jura studiert. Li gehört zu den Anwälten, die das Versprechen des Rechtsstaats in vielen Einzelprozessen beständig einfordern. Er ist vor einigen Jahren nach Peking gezogen. Wie in China üblich hat er hier zwar eine Aufenthaltsgenehmigung, bleibt aber an seinem Heimatort gemeldet. Dagegen klagt er jetzt gemeinsam mit einem anderen Anwalt. Sie wollen ihren Meldeort nach Peking verlegen.
"Das chinesische Meldegesetz ist eindeutig. Wir stehen hinter dem Gesetz, unterstützen die Durchsetzung des Gesetzes. Es ist eindeutig, dass es die Behörden sind, die gegen das Gesetz verstoßen."
Was auf den ersten Blick nach verwaltungstechnischer Detailversessenheit aussieht, hat enorme soziale Sprengkraft. Mit seiner Klage kratzt er an einem der größten sozialen Probleme Chinas. Denn das Meldegesetz schließt 200 Millionen Wanderarbeiter in den Städten von Schulen und Sozialsystemen aus. Es ist einer der Gründe dafür, dass den meisten Arbeitern der soziale Aufstieg versperrt ist. Seit Jahren widersetzen sich die Städte jeder Änderung des Meldesystems, weil sie steigende Sozialausgaben fürchten.
"Der Gesetzeslage nach könnten auch Wanderarbeiter gewinnen, wenn sie sich trauen würden, vor Gericht gegen diese Regelung zu klagen. Dann könnten sie beweisen, dass diese Regelungen illegal sind, und würden damit Erfolg haben. Sollte sich ein Wanderarbeiter zu diesem Schritt entschließen, werden wir ihn gerne vor Gericht vertreten."
Es gehört schon eine gewaltige Menge Optimismus dazu, so zu denken. Denn Li legt sich mit dem Amt für öffentliche Sicherheit an. Das ist eine der mächtigsten Behörden Chinas. Ihr unterstehen Polizei und Geheimdienst. Nicht nur unbotmäßige Bürger und Dissidenten, auch die Reformvorhaben anderer Behörden scheitern oft am Widerstand des Amts für öffentliche Sicherheit.
"Wir haben erlebt, dass das Gericht, das unseren Fall verhandelt hat, ganz offensichtlich Anweisungen von oben bekommen hat. Aber wir gehen davon aus, dass das nur vorübergehend ist. In China setzt sich nach und nach die Vorstellung durch, dass im Einklang mit den Gesetzen regiert werden muss und dass Anweisungen, die der Verfassung widersprechen, korrigiert werden müssen."
Li hat Menschen verteidigt, deren Häuser vor den Olympischen Spielen abgerissen wurden, und nach den jüngsten Unruhen in den tibetischen Gebieten bot er den Demonstranten juristische Unterstützung an. Das Anrennen gegen scheinbar übermächtige Behörden ist für Li schon fast zur Gewohnheit geworden. Seit sechs Jahren praktiziert er ohne amtliche Zulassung. Die Justizverwaltung hatte sie ihm entzogen, nachdem er das Justizbüro wegen der Einnahme illegaler Gebühren verklagt hatte.
"Natürlich macht mir das sehr viel Ärger. Viele Leute wollen heute von Anwälten die Zulassung sehen. Und wenn ich ihnen dann erkläre, dass sie mir widerrechtlich entzogen wurde, dann suchen sie sich lieber einen anderen Anwalt."
30 Jahre ist es her, dass die chinesischen Kommunisten beschlossen haben, ihr Land in einen Rechtsstaat umzuwandeln. 150.000 Juristen sind in China seitdem ausgebildet worden. Viele Bereiche des Lebens werden durch Gesetze geregelt. Möglicherweise herrscht in China heute so viel Rechtsstaatlichkeit wie nie zuvor. Trotzdem gehört schon eine gewisse Unbeirrbarkeit dazu, wenn man wie Li Subin daran glaubt, dass die Gesetzestexte am Ende stärker sein werden als die Praxis. Zu zahlreich sind noch die Beispiele politischer Einflussnahme oder korrupter Gerichte. Aber auch der Juraprofessor He Weifang hält an den Hoffnungen seiner Studienzeit fest. Vor knapp zwei Jahren war He zu einer geheimen Parteisitzung geladen, in der über künftige politische Reformen gesprochen wurde. He meldete sich zu Wort und sagte das Unerhörte:
"Die Partei ist heute fast so etwas wie in früheren Zeiten der Kaiser. Sie steht über dem Gesetz, anstatt sich ihm unterzuordnen. Ich hoffe, dass die Kommunistische Partei zu einer Rechtsperson wie andere wird."
Nach der Sitzung stellte jemand seine Rede ins Internet. In Parteikreisen brach ein Sturm der Entrüstung aus. Die Parteizelle der Universität Peking beschimpfte ihn als "Verräter" und "Staatsfeind", Parteikader forderten die Universität auf, den unbequemen Professor zu entlassen.
"Aber die Universität Peking hat sich in dieser Frage als sehr liberal erwiesen. Und ich habe auch gehört, dass hohe Parteikader mir offen gegenüberstanden. Sie wollten nicht mehr zulassen, dass man mich einfach so entlässt. Das geht nicht mehr."
Auch wenn sich He Weifangs Hoffnung auf einen funktionierenden Rechtsstaat bisher nicht erfüllt hat - das Recht, darüber zu sprechen, hat man ihm gelassen.
China Ende der 70er-Jahre. Die Kulturrevolution ist zu Ende. Das Land erwacht aus einem Albtraum. Zehn Jahre erbitterter ideologischer Kämpfe, öffentlicher Demütigungen und politischer Verfolgungen liegen hinter den Chinesen.
Eine Zeit, in der Prozesse nicht vor Gericht geführt wurden, sondern in Versammlungssälen oder im Freien. In der Urteile nicht von Gerichten gesprochen wurden, sondern von Rotgardisten und Parteikadern. In der Prozesse nicht der Rechtsprechung dienten, sondern der Demütigung der Angeklagten.
Nach dem Ende der Kulturrevolution und dem Tod Mao Zedongs setzt sich Deng Xiaoping an die Spitze der Volksrepublik.
Um die Volksdemokratie zu sichern, müssen wir unser Rechtssystem stärken. Die Demokratie muss geschützt und in Gesetze gefasst werden, damit wir sichergehen können, dass Institutionen und Gesetze sich nicht jedes Mal ändern, wenn die Führung wechselt oder auch nur ihre Ansichten ändert. Deng Xiaoping, 13. Dezember 1978
Mit seiner Reformpolitik will Deng China öffnen und die Wirtschaft entwickeln. Erste marktwirtschaftliche Experimente beginnen auf dem Land, eine neue Verfassung wird ausgearbeitet, Universitäten, die von den roten Garden geschlossen worden waren, eröffnen wieder. Der 18-jährige He Weifang legt 1978 seine Aufnahmeprüfung ab.
"Ich wollte eigentlich Schriftsteller werden, das war mein Traum. Als ich die Aufnahmeprüfung für die Uni gemacht habe, bewarb ich mich für chinesische Sprache und Literatur. Ich bekam aber einen Platz für Rechtswissenschaft. Ich wusste damals gar nicht, dass es so etwas gibt."
He Weifang gehört dem zweiten Jahrgang Jurastudenten an. Zehn Jahre lang war China damit beschäftigt, alles Alte auszulöschen, seine inneren Feinde zu bekämpfen und "stinkende Intellektuelle" umzuerziehen. Danach gibt es so gut wie keine Juristen mehr. An die Gerichte werden pensionierte Militärs und Polizisten berufen, an den juristischen Fakultäten beginnt man bei null.
"Man hat damals die alten Professoren, die vor der Kulturrevolution Recht gelehrt haben, gesucht und wieder an die Uni berufen. Einige hatten sich seit mehr als zwanzig Jahren nicht mehr mit Jura befasst."
An den Universitäten herrscht dennoch Aufbruchstimmung. Eine Generation, die in den Gewaltorgien der Kulturrevolution aufgewachsen ist, träumt von der strengen Ordnung detaillierter Paragrafenwerke. Von einer Gesellschaft, in der der Einzelne Schutz genießt vor politischen Massenkampagnen, vor fanatischen Rotgardisten und despotischen Parteikadern. Das Wort Gesetz klingt wie ein großes Versprechen.
Verfassung der Volksrepublik China vom 4. Dezember 1982, Präambel: Unter Führung der Kommunistischen Partei und unter Anleitung des Marxismus-Leninismus und der Mao-Tse-tung-Gedanken wird das chinesische Volk dem sozialistischen Weg folgen, die sozialistischen Institutionen aufbauen und das sozialistische Rechtssystem stärken.
Shenzhen, eine Metropole im Süden Chinas. Zhou Litai ist ein volkstümlicher Mann mit Bürstenhaarschnitt, der ein traditionelles schwarzes Hemd ohne Kragen trägt. Zhou Litai ist Anwalt für Arbeitsrecht. Unter den Arbeitern der Industrieprovinz Guangdong ist er fast schon eine Legende.
"Ich habe zur ersten Generation von Wanderarbeitern gehört. Von 1980 bis 1983 habe ich in den Ziegeleien von Hunan gearbeitet und nebenbei im Selbststudium Jura gelernt. Ich bin ein Bauerssohn, ich weiß, wie schwierig es die einfachen Leute in China haben, ihre Rechte zu verteidigen."
Als Zhou in den 90er-Jahren seine Kanzlei eröffnete, war die Lage der Arbeiter kaum Thema in China. Billige Arbeitskräfte waren eine Säule des chinesischen Wirtschaftswunders. Die Regierung schmückte sich mit Wachstumszahlen. "Lasst einige zuerst reich werden", hatte Deng Xiaoping den Genossen auf den Weg mitgegeben. Einer wie Zhou passte da gar nicht ins Bild:
"1997 hat mir die Anwaltskammer meine Zulassung entzogen, 2001 hat mir das Justizbüro verboten, weiter Arbeiter vor Gericht zu vertreten, und mich als ’schwarzen Anwalt’ bezeichnet, also als nicht qualifiziert. Außerdem wurde ich von der Polizei überwacht, es hat Durchsuchungen gegeben."
Zhous Kanzlei ist ein Labyrinth aus kargen Räumen, in denen die Mitarbeiter hinter Schreibtischen aus lackiertem Holz sitzen. Schüchtern sitzen ihnen die Arbeiter gegenüber und schildern ihre Fälle.
"Seit wir vor elf Jahren angefangen haben, haben wir bereits 7.000 Fälle behandelt. Die Probleme, mit denen wir zu tun haben, sind: Erstens: Die Arbeiter bekommen keinen Vertrag und können ihren Lohn nicht einklagen. Zweitens: Überstunden werden nicht bezahlt. Drittens: Die Arbeitgeber schließen die gesetzlichen Versicherungen nicht ab. Und viertens: Firmen weigern sich bei Arbeitsunfällen, Entschädigungen zu zahlen."
Inzwischen hat Zhou Litai seine Zulassung vor Gericht wiederbekommen. Anders als vor zehn Jahren sind Arbeiterrechte kein Tabuthema mehr. Mittlerweile muss eine Kranken- und Unfallversicherung für die Arbeiter abgeschlossen werden. Gesetze begrenzen die Wochenarbeitszeit auf 40 Stunden, limitieren die Zahl der Überstunden und legen Mindestlöhne fest.
"Wenn es den Arbeitern gelingt, ihre Fälle vor Gericht zu bringen, dann haben sie unserer Erfahrung nach große Chancen, die Prozesse auch zu gewinnen und beispielsweise eine Entschädigung zugesprochen zu bekommen."
Die Organisation "China Labour Bulletin" dokumentiert die Arbeitsbedingungen in China. Ihr Gründer Han Dongfang lebt seit 1994 in Hongkong im Exil. Der Aktivist musste China verlassen, nachdem er versucht hatte, Arbeiterproteste zu koordinieren und eine unabhängige Gewerkschaft zu gründen.
"Oft nehmen die Gerichte die Klagen gar nicht an. Und auch wenn die Arbeiter recht bekommen, heißt das noch lange nicht, dass das Urteil auch umgesetzt wird. Oft bekommen die Arbeiter eine Entschädigung zugesprochen, aber sie haben dann keine Möglichkeit, das Geld zu bekommen."
Dennoch - weil es für Chinas Wanderarbeiter keine andere legale Möglichkeit gibt, auf Missstände aufmerksam zu machen und Forderungen zu stellen, kommt den Gerichtsprozessen eine enorme Bedeutung zu.
"In den letzten elf Jahren haben wir durch die Fälle, die wir vor Gericht gebracht haben, und durch das Interesse der Medien eine große Veränderung erreicht. Aber die Ergebnisse hängen sehr stark davon ab, wo die Gerichte sind. Die lokalen Gerichte werden von den jeweiligen Lokalregierungen kontrolliert und urteilen sehr unterschiedlich."
Etwa 250 Jahre vor unserer Zeitrechnung schrieb der Philosoph Han Feizi seine Überlegungen zu Recht und Herrschaft nieder.
"Ein kluger Mann legt beim Schreiben seines Buches seine Beweise klar und ausführlich dar. Ein erleuchteter Herrscher wird beim Abfassen seiner Gesetze darauf achten, dass alle Möglichkeiten im Einzelnen bedacht sind."
Han war der Begründer einer philosophischen Schule, die forderte, dass Herrscher mittels klarer Gesetze regieren, die für jeden gleichermaßen gelten. Durchgesetzt haben sich Hans Gedanken im alten China nur selten.
Konfuzius hatte 200 Jahre zuvor den Gegenentwurf formuliert.
"Wenn die Menschen von Gesetzen geführt werden und ihre Einheit durch Strafe entstehen soll, dann werden sie versuchen, der Strafe zu entgehen und kein Schamgefühl haben. Wenn sie aber von der Tugend geleitet werden und ihnen Einheit durch die Regeln des Anstands gegeben wird, dann werden sie Schamgefühl kennen und sich bessern."
2000 Jahre war der Konfuzianismus Chinas herrschende Ideologie. Als Mao und seine Kommunisten an die Macht kamen, da räumten sie gründlich mit dem Konfuzianismus auf. In einem aber stimmten sie mit den alten Herrschern überein. Auch sie hielten nicht viel von der Herrschaft der Gesetze. Sie sprachen jetzt nicht mehr von Moral und Tradition, sondern von revolutionärer Gesinnung und Klassenbewusstsein. Erst mit den Reformen Deng Xiaopings knüpfte China wieder an Hans Ideen an.
Verfassung der Volksrepublik China, Artikel 5: Der Staat erhält die Einheit und Würde des sozialistischen Rechtssystems aufrecht. Kein Gesetz und keine lokalen Regeln und Verordnungen dürfen der Verfassung widersprechen. Alle Verletzungen der Verfassung und der Gesetze müssen untersucht werden. Kein Individuum und keine Organisation genießt das Privileg, über Verfassung und Gesetz zu stehen.
"”Sehr viele Regelungen der lokalen Regierungen stimmen überhaupt nicht mit der nationalen Gesetzgebung überein. China hat viele Gesetze, aber das chinesische Recht ist kein System. Es hat keine innere Harmonie, keine innere Stimmigkeit.""
He Weifang, der Junge, der eigentlich Schriftsteller werden wollte, ist heute einer der bedeutendsten Rechtsprofessoren Chinas. Immer noch liegt ein jungenhaftes Strahlen auf seinem Gesicht, wenn er von seiner Vision eines chinesischen Rechtsstaats erzählt und von den kleinen Siegen, die Chinas Juristen der Politik regelmäßig abtrotzen.
"Im Jahr 2003 gab es den Fall der Richterin Li Huijuan in Henan. Die hat ein lokales Gesetz aufgehoben, weil es mit der nationalen Gesetzgebung nicht übereinstimmte."
Das Urteil, in dem es um das Preissystem für Saatgut in der Provinz ging, kostete die Richterin ihre Stelle. Die Justizbehörde der Provinz setzte sie kurzerhand ab.
"Wir hatten dann einige Sitzungen, ich habe auch einen Artikel geschrieben, in dem ich das Urteil Li Huijuans verteidigt habe, gesagt habe, dass sie recht hat und keinen Fehler gemacht hat. Schließlich entstand ein solcher öffentlicher Druck, dass die Richterin wieder eingesetzt wurde. Sogar im Westen gab es einige Stimmen, die gesagt haben, es gibt doch noch Hoffnung auf ein Rechtssystem in China."
Berlin. Kaum eine Regierung im Westen hat die Hoffnung auf einen chinesischen Rechtsstaat so sehr institutionalisiert wie die deutsche. Unter der Aufsicht des Justizministeriums führt die Bundesregierung seit acht Jahren einen Rechtsstaatsdialog mit China. Regelmäßig trifft sich Justizministerin Brigitte Zypries mit ihrem chinesischen Kollegen, mit Jurastudenten, Richtern und Anwälten.
"Ich muss eigentlich sagen, dass es eine große Bereitschaft bei der chinesischen Seite gibt, zu lernen, zu diskutieren, zu erfahren, sich zu informieren. Und das ist auch mit der chinesischen Führung so. Und man muss sagen, dass sie in allen Bereichen interessiert sind und man in allen Bereichen auch verzeichnen kann, dass es Verbesserungen gibt."
Als der Rechtsstaatsdialog 1999 vom damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder ins Leben gerufen wurde, standen ihm die meisten Beobachter kritisch gegenüber. Der Dialog sei ein Alibi, um die chinesische Regierung nicht mit ihren Menschenrechtsverletzungen konfrontieren zu müssen, sagten viele. Barbara Lochbihler von amnesty international kann sich auch acht Jahre später noch nicht so recht mit dieser Form der Kooperation anfreunden.
"Mit welchem Recht beschäftigen sie sich? Zu 90 Prozent mit der Angleichung des Wirtschaftsrechts, das ist von mir auch nicht zu kritisieren, das mag auch gut sein. Aber ganz wenig, was Rechtsstaatlichkeit in Prozessen und Justizreform angeht."
Diesen Vorwurf lässt sich die Justizministerin nicht gefallen.
"Zum Beispiel wurde 2004 die Achtung der Menschenrechte in die Chinesische Verfassung aufgenommen. Und im Jahr 2007 wurden auch die Rechte der Strafverteidiger verbessert. Das heißt, ein Strafverteidiger hat jetzt das Recht, sich mit dem Mandanten nach einer Vernehmung unter vier Augen zu treffen."
Die Themen reichen von der Einführung eines Eigentumsrechts über das Internetrecht, das Strafrecht, das Planungsrecht oder die Ausbildung von Juristen bis zum Ablauf von Gerichtsprozessen. Eine Frage aber wird nicht gestellt: Ob ein Rechtsstaat entstehen kann, wenn über allem die Kommunistische Partei thront.
"Das würde ja bedeuten, dass man den Chinesen erklärt, dass sie ihr System ändern müssen. Das kann man machen, das kann man aber auch lassen, denn selbstverständlich würden die Chinesen da nicht auf mich hören. Und deshalb glaube ich, dass es besser ist, in konkreten Einzelschritten konkrete Rechte auch für Menschen zu definieren."
Aber kann das funktionieren? Was bringt ein Gesetz, wenn es der Staat selbst ist, der sich darüber hinwegsetzt?
Peking. Ein Besuch bei Li Subin zeigt, was Gesetze in China wert sind. Li sitzt in seiner Wohnung in einem Vorort. Auch er hat kurz nach der Kulturrevolution Jura studiert. Li gehört zu den Anwälten, die das Versprechen des Rechtsstaats in vielen Einzelprozessen beständig einfordern. Er ist vor einigen Jahren nach Peking gezogen. Wie in China üblich hat er hier zwar eine Aufenthaltsgenehmigung, bleibt aber an seinem Heimatort gemeldet. Dagegen klagt er jetzt gemeinsam mit einem anderen Anwalt. Sie wollen ihren Meldeort nach Peking verlegen.
"Das chinesische Meldegesetz ist eindeutig. Wir stehen hinter dem Gesetz, unterstützen die Durchsetzung des Gesetzes. Es ist eindeutig, dass es die Behörden sind, die gegen das Gesetz verstoßen."
Was auf den ersten Blick nach verwaltungstechnischer Detailversessenheit aussieht, hat enorme soziale Sprengkraft. Mit seiner Klage kratzt er an einem der größten sozialen Probleme Chinas. Denn das Meldegesetz schließt 200 Millionen Wanderarbeiter in den Städten von Schulen und Sozialsystemen aus. Es ist einer der Gründe dafür, dass den meisten Arbeitern der soziale Aufstieg versperrt ist. Seit Jahren widersetzen sich die Städte jeder Änderung des Meldesystems, weil sie steigende Sozialausgaben fürchten.
"Der Gesetzeslage nach könnten auch Wanderarbeiter gewinnen, wenn sie sich trauen würden, vor Gericht gegen diese Regelung zu klagen. Dann könnten sie beweisen, dass diese Regelungen illegal sind, und würden damit Erfolg haben. Sollte sich ein Wanderarbeiter zu diesem Schritt entschließen, werden wir ihn gerne vor Gericht vertreten."
Es gehört schon eine gewaltige Menge Optimismus dazu, so zu denken. Denn Li legt sich mit dem Amt für öffentliche Sicherheit an. Das ist eine der mächtigsten Behörden Chinas. Ihr unterstehen Polizei und Geheimdienst. Nicht nur unbotmäßige Bürger und Dissidenten, auch die Reformvorhaben anderer Behörden scheitern oft am Widerstand des Amts für öffentliche Sicherheit.
"Wir haben erlebt, dass das Gericht, das unseren Fall verhandelt hat, ganz offensichtlich Anweisungen von oben bekommen hat. Aber wir gehen davon aus, dass das nur vorübergehend ist. In China setzt sich nach und nach die Vorstellung durch, dass im Einklang mit den Gesetzen regiert werden muss und dass Anweisungen, die der Verfassung widersprechen, korrigiert werden müssen."
Li hat Menschen verteidigt, deren Häuser vor den Olympischen Spielen abgerissen wurden, und nach den jüngsten Unruhen in den tibetischen Gebieten bot er den Demonstranten juristische Unterstützung an. Das Anrennen gegen scheinbar übermächtige Behörden ist für Li schon fast zur Gewohnheit geworden. Seit sechs Jahren praktiziert er ohne amtliche Zulassung. Die Justizverwaltung hatte sie ihm entzogen, nachdem er das Justizbüro wegen der Einnahme illegaler Gebühren verklagt hatte.
"Natürlich macht mir das sehr viel Ärger. Viele Leute wollen heute von Anwälten die Zulassung sehen. Und wenn ich ihnen dann erkläre, dass sie mir widerrechtlich entzogen wurde, dann suchen sie sich lieber einen anderen Anwalt."
30 Jahre ist es her, dass die chinesischen Kommunisten beschlossen haben, ihr Land in einen Rechtsstaat umzuwandeln. 150.000 Juristen sind in China seitdem ausgebildet worden. Viele Bereiche des Lebens werden durch Gesetze geregelt. Möglicherweise herrscht in China heute so viel Rechtsstaatlichkeit wie nie zuvor. Trotzdem gehört schon eine gewisse Unbeirrbarkeit dazu, wenn man wie Li Subin daran glaubt, dass die Gesetzestexte am Ende stärker sein werden als die Praxis. Zu zahlreich sind noch die Beispiele politischer Einflussnahme oder korrupter Gerichte. Aber auch der Juraprofessor He Weifang hält an den Hoffnungen seiner Studienzeit fest. Vor knapp zwei Jahren war He zu einer geheimen Parteisitzung geladen, in der über künftige politische Reformen gesprochen wurde. He meldete sich zu Wort und sagte das Unerhörte:
"Die Partei ist heute fast so etwas wie in früheren Zeiten der Kaiser. Sie steht über dem Gesetz, anstatt sich ihm unterzuordnen. Ich hoffe, dass die Kommunistische Partei zu einer Rechtsperson wie andere wird."
Nach der Sitzung stellte jemand seine Rede ins Internet. In Parteikreisen brach ein Sturm der Entrüstung aus. Die Parteizelle der Universität Peking beschimpfte ihn als "Verräter" und "Staatsfeind", Parteikader forderten die Universität auf, den unbequemen Professor zu entlassen.
"Aber die Universität Peking hat sich in dieser Frage als sehr liberal erwiesen. Und ich habe auch gehört, dass hohe Parteikader mir offen gegenüberstanden. Sie wollten nicht mehr zulassen, dass man mich einfach so entlässt. Das geht nicht mehr."
Auch wenn sich He Weifangs Hoffnung auf einen funktionierenden Rechtsstaat bisher nicht erfüllt hat - das Recht, darüber zu sprechen, hat man ihm gelassen.