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Zwischen tragischer Geschichte und Umbruchstimmung

Bücher sind das Erbe und der große Schatz Armeniens. Jenes tieftraurige "Buch der Klagen" etwa, das Grigor von Narek im 10. Jahrhundert nach Christi geschrieben hat. Mit goldenen Lettern und Bildern, die leuchten, als wären sie gestern gepinselt, liegt es in der Vitrine des Handschriften-Museums in Erewan.

Von Franz Lerchenmüller |
    "Dies ist das meistgelesene Buch in der Geschichte Armeniens. Jedes Wort gilt als heilig, jede armenische Familie hat dieses Buch. Man sagt, es könne die Leute erlösen. Darum legen die Armenier es auch heute noch ihren Kindern unters Kopfkissen."

    Ara Haytayan ist Maler - also ein eher ungewöhnlicher Begleiter durch ein Land. Aber keiner sieht so genau hin wie er, und nur wenige haben so viel und so gründlich nachgedacht über Armenien. Man spürt, dass die Verse des Grigor von Narek ihm tief aus der Seele sprechen, auch wenn amn den Wortlaut nicht versteht.

    Leid hat Armenien im Lauf seiner Geschichte reichlich erfahren. Wie ein Schwert ragt der Basaltobelisk des Genozid-Mahnmals in den Himmel. Um das ewige Feuer sammelt sich schweigend eine Schulklasse, ein Militär im Kampfanzug mit vielen Orden steht stumm in Habachtstellung.

    "Normalerweise liegen Gedenkstätten auf Anhöhen. In diesem Fall steigen wir über Treppen nach unten in die Erde, weil die Opfer keine Gräber hatten. Sie starben in der syrischen Wüste und wurden nie bestattet. Wir gehen symbolisch in ihr Grab, um sie zu ehren und mit ihnen Verbindung aufzunehmen."
    Alljährlich am 24. April reisen Armenier aus aller Welt an und erinnern mit einem Berg aus Blumen an die eineinhalb Millionen Vorfahren, die 1915 von den Türken umgebracht wurden. Im Museum bezeugen alte Zeitungen und Fotos von Tausenden von Waisenkindern das Geschehen. An der historischen Wahrheit festzuhalten - darum geht es der jungen Führerin:

    "Wir wollen nur, dass jeder versteht, dass es dieses Ereignis gegeben hat, dass das die Wahrheit ist. Wir wollen von niemand etwas zurückhaben, Land oder so. Wir wollen nur, dass jeder weiß, dass dies der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts war."

    Die Vergangenheit ist vielerorts präsent in Armenien - aber sie erstickt die Gegenwart nicht. Erewan, die Hauptstadt, ist eine schöne Mischung aus mediterraner Leichtigkeit und verblichener sowjetischer Eleganz. Rund um den weiten Platz der Republik ziehen sich die neoklassizistischen Blöcke der 20er-Jahre, mit ihren Säulen und Rundbögen aus rosa-orangem Tuff: Scheint die Sonne, ist es, als wäre die Toskana zu Gast. Junge Frauen stöckeln in Kneifzangen-Jeans und Stilettos daher, weit dezenter freilich, als ihre Altersgenossinnen in Sibirien oder Bukarest, und auch die Männer in Schwarz haben weniger Anabolika in den Armen und weniger Herablassung im Blick: Erewan wirkt heiterer und gelassener als andere Metropolen des Ostens.

    Und abends tanzt und plätschert hier das Ballett der Wasserfontänen in Bonbonfarben zur Musik - auch die armenische Hauptstadt hat ein Recht auf ihren Anteil am internationalen Kitsch.

    Einst war Erewan eine bezaubernde Stadt, sagt Vahe Tamamyan, Sportlehrer von Beruf und ein weiterer Reisebegleiter, der hier aufgewachsen ist.

    "Die Altstadt war ursprünglich ein sehr hübsches, übersichtliches Ensemble aus Holzhäusern mit interessanten Balkonen und Schnitzereien. Es gab einen zentralen Platz und jede Menge Parks drumherum, aber noch keine Hochhäuser - es war angenehm, dort zu wohnen. Doch in den 60er-Jahren, speziell während der Chruschtschow-Ära, zog man viele Blocks hoch, oft mitten zwischen den alten Häusern. Da veränderte sich das Gesicht von Erewan grundsätzlich."

    Und heute ist die Stadt dabei, dieses Gesicht ganz zu verlieren.

    Das Paradestück der Stadtplaner ist die Nördliche Avenue, eine breite Schneise, die quer durch alte Wohnviertel geschlagen wurde. Hier setzt sich das neue armenische Kapital ein Denkmal: Noch mehr Bögen, Säulen, Fensterfluchten, noch mehr ins Bombastische gesteigerter Klassik-Zierat - in Beton gegossenes virtuelles Design ist das. Auslandsarmenier halten sich hier leere Zweitwohnungen, "Joop", "Ecco" und "Armani" leisten sich Flaggschiff-Geschäfte und gelangweilte Verkäuferinnen. Während die Klänge des Akkordeonspielers am Grunde der Betonschlucht ganz besonders verloren wirken.

    "Für mich ist das eine Geisterstraße. Sie ist verlassen, man sieht keine Leute, nicht nur keine Passanten, sondern auch keine Einwohner. Die alten Erewaner, die hier in ihren kleinen Wohnungen lebten, mussten wegziehen. Sie aber waren es, die der Altstadt ihr ganz spezielle Atmosphäre verliehen. Ob diese neuen Luxusappartements je bewohnt sein werden, steht für mich noch weit in den Sternen. Wer das Geld hat, sich solche Wohnungen zu leisten - warum sollte der ausgerechnet in diesen überfüllten Teil der Stadt ziehen?"

    Armenien, etwa so groß wie Brandenburg, eingeklemmt zwischen dem Iran, Aserbaidschan, Georgien und der Türkei, zwischen Europa und Asien also, und zugleich beidem zugehörig - was für ein uraltes, rätselhaftes Land tut sich hier auf!

    Wie versteinerte Drachenzähne ragen die Menhire von Zorakhar aus der Erde: Sind sie die Reste eines alten kultischen Tanzplatzes, oder doch eher Überbleibsel einer jüngeren Befestigung?

    "Der armenische Astronom Paris Herouni hat herausgefunden, dass hier ein Observatorium stand. Es wurde etwa 5000 vor Christus erbaut und war zweieinhalb Jahrtausende in Betrieb. Viele Steine hier haben Löcher, die alle in eine bestimmte Richtung zeigen. So konnte man die genauen Zeiten für Sonnenauf- und Sonnenuntergänge bestimmen. Früher war Astronomie ja auch sehr stark mit der Religion verbunden. Deshalb kam Herouni zu dem Schluss, dass die Anlage zugleich als Sonnentempel diente, der dem ältesten armenischen Gott Ar gewidmet war."

    Auf dem Friedhof am Kloster Khor Virap, nahe der türkischen Grenze, blüht rot der Mohn. Wiedehopf und Bienenfresser fühlen sich zuhause, und in schwarzen Stein gebrannt bleiben die Bilder der Verstorbenen jahrzehntelang lebendig: Die Bäuerin mit Kopftuch ebenso wie der Soldat samt Sturmgewehr und der 1970 verstorbene Jugendliche in seiner Schlaghose.
    Im Kloster selbst führt eine Leiter nach unten in das Verlies, in dem der Christ Grigor im dreitten Jahrhundert angeblich 13 Jahre dahindämmerte.

    "Wir sind jetzt 27 Leitersprossen heruntergeklettert, in dieses Loch im Boden, das angeblich das älteste Verlies im Land ist. Wir haben zwar eine Taschenlampe dabei, aber wir können trotzdem nachempfinden, wie es dem Heiligen Grigor in der Dunkelheit zumute gewesen sein muss. Er verlor sein Zeitgefühl, so ganz ohne Orientierung, und ohne je einen Menschen zu Gesicht zu bekommen - aber er überlebte."
    Als König Trdat erkrankte und plötzlich wie ein Wildschwein aussah, ließ er auf Anraten seiner Schwester den gefangenen Christen zu sich bringen. Der heilte ihn, und aus Dankbarkeit und in Demut vor dem neuen starken Zauber verordnete der König seinem Land das Christentum als Religion. Das war im Jahre 301, und deshalb gilt Armenien als das älteste christliche Land der Welt.

    1200 Klöster und Kirchen, meist mit dem Grundriss eines gleicharmigen Kreuzes, erinnern an die lange christliche Geschichte. Und wenn im Höhlenkloster von Geghard das Quartett "Garni" seine Choräle a capella anstimmt, beleuchtet nur von einem Lichtstreif durch die Öffnung in der Kuppel, ist es, als klängen all die Lieder mit, die seit Jahrhunderten in Säulen und Quadern aufgehoben sind.

    In der Gegenwart freilich tut sich die Religion schwerer. Pater Mikael ist seit zwei Jahren als Priester im Kloster Tatev tätig:

    "Dreimal am Tag beten wir in der Kirche, insgesamt vier Stunden. Heute hielten wir einen Gottesdienst für die Toten ab. Aber es ist schwer, die Einstellung der Älteren zu ändern, manche sind aus sowjetischen Zeiten noch sehr verhärtet. Ich erlaube mir kein Urteil über ihre Herzen. Wir versuchen einfach einen Samen zu pflanzen, und dabei erreichen wir hauptsächlich Kinder. Sie mögen das Kloster, und sie kommen gern zum Singen."

    Die Pfarrer in Echmiadzin, dem Sitz des Katholikos, des Oberhaupts der armenischen Christen, haben es leichter. Die Kathedrale, die über und über mit Ornamenten in Gold ausgemalt ist, gilt als die Mutterkirche des Landes. Es herrscht ein leises Kommen und Gehen, von Touristen gleichermaßen wie Gläubigen.

    "Ich bin hier geboren und Edchmiazin ist alles für mich - nicht nur für mich, für alle Armenier. Dieser Ort ist außergewöhnlich, weil er der erwählte Ort ist: Hier ist der Geist von Jesus Christus heruntergekommen. In dieser Kirche erleben wir uns in Harmonie mit Gott, alt und jung, wir finden Kontakt zu ihm, und wir vergessen unsere Probleme."

    Auch Dr. Zeytounchian hat sich seine Gedanken über das Christentum gemacht. Der 69-jährige weißhaarige Kantenkopf mit dem warmen Blick und dem leisen Humor wurde als Armenier im Iran geboren. Er hat in Österreich studiert und mehrere Jahrzehnte als Neurochirurg in Berlin gearbeitet. Im Jahr 2000 kam er nach Armenien und baute im südarmenischen Goris ein Hotel.
    "Wir nennen uns ein christliches Volk. Nur diese berühmten 70 Jahre hat unsere Kirche genauso infiltriert oder verändert, dass die Kirche ihre Rolle erst wieder finden muss. Das ist genauso schwierig wie für einen vormals kommunistischen Funktionär, der sich demokratisch und so weiter nennt, sich überwinden kann, dass es wieder zur Demokratie zurückkommt. Deswegen die Kirche hat sehr große Probleme, besonders hinsichtlich der Tatsache, dass sehr viele Sekten hier eingedrungen sind. Sie haben Geld, sie bringen Material, also Informationsmaterial, sie engagieren sich, sie gehen in die Dörfer und so weiter."
    Immer wieder beglückt Armenien die Besucher mit wechselnden Landschaften. Da sind die bis zu 300 Meter hohen schwarzgrauen Basaltsäulen von Garni, eine unhörbar brausende steinerne Orgel aus Tausenden und Abertausenden von Pfeifen. Anderntags, in den Weinbergen und Obstgärten südlich der Hauptstadt, hat der Ararat einmal seine Wolkenmütze abgesetzt und strahlt genauso weiß und majestätisch durch den gemauerten Tscharents-Bogen, wie auf dem 1000-Dram-Geldschein verewigt.

    Weiter im Süden ertrinken die geschwungenen grünen Terrassen um das Dorf Ltsen schier in der weiß-rosa Gischt der Aprikosen-, Kirsch- und Mandelblüten. Entlang des Weges ziehen sich die weiß eingestäubten Uhtasar-Berge, die Grenze zum Nachbarn Aserbaidschan. Eine schöne Landschaft, findet Vahe.
    "Die Vegetation hier oben ist alpin. Mit Glockenblumen, Löwenzahn und verschiedenen Kräutern wie Thymian und Wermut. Wir sind in 2200 Meter Höhe, und der typische Baum hier oben ist die Eiche. Aber auch wilde Pflaume finden wir, und Wildbirnen."
    Ein Grab am Weg erinnert an Arvan Armaran, der 1993 im Krieg gegen Aserbaidschan gefallen ist. Sein letzter Brief ist in den Stein gehauen:

    "Sag Guten Morgen, die Welt wird dir entgegenlächeln,
    das Licht wird dir Glück bringen, Glück für uns beide."

    Die scheue Nichte putzt das kleine Denkmal ihres Patenonkels, den sie nie kennengelernt hat. Der Krieg von 1991 bis 1994 ist immer noch in den Köpfen der Armenier präsent.

    "Wir dürfen nicht vergessen, dass das schreckliche Erdbeben von 1988 erst kurz zurücklag, als der Krieg begann. Das Rettungszentrum, in dem mein Vater arbeitete, stellte Lebensmittel, Medizin und Ausrüstung zur Verfügung. Das ganze Land kümmerte sich um die Leute in dem umkämpften Grenzgebiet. Jeder war irgendwie in diesen Krieg verwickelt. - Von Erewan aus sah man nicht die Bomben. Aber Armenien ist so klein, dass man, sozusagen, den Geruch des Krieges überall wahrnahm. Und wir alle fühlten die Verantwortung, uns selbst zu beweisen, dass wir das Recht zu leben haben. Und das Recht, für unser Leben zu kämpfen."

    Im Dörfchen Sarma Kunk verkaufen Jungs an der Straße Pilze und eine Greisin getrockneten Sauerampfer. Eine junge Frau, Melania Ghazarian, lädt spontan zu einem Besuch in ihr Haus. Es gibt Strom, aber nur kaltes Wasser. Der DVD-Player, den ihr Sohn stolz vorführt, wirkt wie eine Maschine vom Mars. Das Leben für die vierköpfige Familie ist alles andere als einfach.

    Ein bisschen öffentliche Unterstützung gibt es für die Kinder, dazu kommt die Rente der Schwiegermutter - Geld haben sie nur sehr wenig. Hauptsächlich leben sie von zwei Kühen, ein paar Ziegen und den Bienenstöcken. Der kleine Garten reicht nur für Kartoffeln. Lebensmittel kauft man im Dorf nicht ein - man tauscht: Brot gegen Milch, Tomaten gegen Äpfel. Und was wäre ihr, Melanias, größter Wunsch im Leben?

    "Das Haus ein bisschen herrichten - das wäre schön."
    Auch wenn der Alltag voller Probleme ist - ihre Lebenslust lassen sich die Armenier nicht nehmen. Essen und Trinken spielt nach wie vor eine große Rolle. Hovhannes Ghahramanyan, Deutschlehrer in Erewan, schwärmt geradezu von der Fülle an Vorspeisen, die ein richtiges Mahl einläuten:
    "Hier haben wir eine kleine Mischung von verschiedenen Salatarten, Karotten mit Kräutern - Kräuter sind ein Hauptteil in armenischer Küche -, hier haben wir Pilze, mit Petersilie und saurer Sahne, Dolma gefüllt mit Reis und Kräutern, Bulgur mit Petersilie, Auberginen, Rote Bete, wieder mit ein bisschen Walnuss und Knoblauch, und alles ist natürlich wunderbar geschmückt, mit Tomaten, die absolut anders schmecken, weil unsere Erde reich an Eisen ist, und Eisen gibt diesen spezifischen Geschmack."

    Lusine Avagyan, die Köchin, erzählt, wie ein westarmenisches Menü weitergeht.
    "Wir haben Izmir-Köfte, mit Kräutern gefüllt, dazu Reis und eine Spezialsoße. Daneben Smirna-Köfte und Marrasch-Kottlett, aus gehacktem Hühnerfleisch, in dem Pilze drin sind. Und zum Dessert gibt es Apfelkuchen."

    Lavash, das papierdünne Fladenbrot, begleitet jede Mahlzeit.
    Im Dorf Garni zeigt die Bäckerin Noemrasch, wie es gemacht wird. Sie zieht dünne Teigblätter über eine Art Kissen und klatscht dieses mit Schwung an die Wand des runden Lehmofens in der Erde vor ihr, sodass der Teig dort kleben bleibt. Schon nach wenigen Momenten angelt sie das fertige Brot mit den Finger heraus und schleudert es auf den stetig wachsenden Haufen.

    Auch Wein darf bei einem zünftigen armenischen Mahl nicht fehlen. Der beste wird in Areni gemacht, einem Dorf südlich von Erewan. An der Straße wird er auch in Coca-Cola-Flaschen verkauft, damit die iranischen LKW-Fahrer mit dem verbotenen Stoff beim Zoll keine Schwierigkeiten bekommen.

    Stefan Segojan hat nach der Wende eine ehemalige Sowchose übernommen. Heute beschäftigt er zehn Leute und füllt 150 000 Flaschen pro Jahr ab. Das ist viel weniger als zu Sowjetzeiten, als noch hundert Männer und Frauen im Betrieb tätig waren.

    "Was heute zählt, ist Qualität. Damals hatten wir einen Riesenausstoß von allen möglichen Traubensorten. Man hat da nicht groß nach Sorten und Qualität unterschieden. Heute sind wir ein Familienunternehmen, und wir widmen uns mit Hingabe jedem einzelnen Arbeitsschritt, der zum Weinmachen gehört."

    Wenn dann das Essen verzehrt ist, ob im Gasthaus oder unter freiem Himmel und der duftende Aprikosenbrand auf den Tisch kommt, oder der ungewöhnliche Maulbeerschnaps, spätestens dann laufen auch die Musiker zu großer Form auf. Die Tänzer stehen auf, stolzieren mit Trippelschritten und steifen Hüften im Kreis, drehen kunstvolle Figuren - und das Fest in diesem melancholischen und doch so lebenslustigen Land, dieses Fest, zu dem Fremde immer herzlich willkommen sind, dieses Fest nimmt auch in dieser Nacht so schnell kein Ende.