Archiv


Zwischen Traktorstau und Jauchegrube

Landmagazine haben Hochkonjunktur, dabei ist das wirkliche Leben auf dem Land oft weniger romantisch, als die Hochglanzbilder suggerieren. In Süddeutschland untersuchen Wissenschaftler nun das Lebensgefühl in Dörfern – mit überraschenden Ergebnissen.

Von Thomas Wagner |
    Die Dorf-Forscher sind los.

    "Ja, guten Tag, ich komme vom Forschungsprojekt 'Ländliche Lebensverhältnisse' im Wandel und möchte Sie heute zu verschiedenen Themengebieten befragen. Unter anderem geht es um die Infrastruktur, um das ländliche Leben an sich, das Zusammenleben auf dem Dorf, die Land-Kindheit, die Landwirtschaft im Allgemeinen …"

    Kusterdingen, eine Flächengemeinde in Baden-Württemberg, zwischen Reutlingen und Tübingen gelegen: Wieder mal ist Stella Breckmann unterwegs. Die Studentin der Universität Stuttgart-Hohenheim hält ein dickes Fragebogen-Bündel in der Hand. Dieses Mal hat sie besonders viel Glück: Denn der 27-jährige Andreas Braun, der die Türe öffnet, ist Kusterdinger mit Leib und Seele.

    "Ich muss gleich dazu sagen, dass ich kein Stadtmensch bin. Ich find es einfach toll, was das hier für ein Zusammenhalt ist: Man kennt hier jeden. Das ist mir sehr wichtig. Das habe ich im Stadtleben einfach nicht so. Da fehlt mir die Gemeinschaft und die Vertrautheit."

    Das Gespräch ist vertraulich, dauert rund eine Stunde. Und dabei beantwortet Andreas Braun auch Fragen, mit denen er am Anfang nicht gerechnet hat:

    "Ob's negative Dinge gibt in Kusterdingen. Und das fällt mir sehr schwer. Ich find' eigentlich keine negativen Dinge hier in Kusterdingen, außer der 30er-Zone, die mir überhaupt nicht passt. Da bin ich ganz ehrlich. Aber ansonsten waren das Fragen, was das Leben hier ausmacht, wie das Leben hier allgemein von der Arbeitssituation ist."

    Andreas Braun ist geborener Kusterdinger – und ein Patriot der ländlich strukturierten Gemeinde. Doch auch die sogenannten "Zugezogenen" bekommen Besuch von den Interviewern – zum Beispiel Natalia Sevastianova, die vor zehn Jahren mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern von Russland nach Süddeutschland übersiedelte – und sich mit einem unerwarteten Problem konfrontiert sah:

    "Ich hatte grundsätzlich ein großes Problem mit dem Schwäbischen."

    Und dennoch gelang es Natalia Sevastianova innerhalb kürzester Zeit, sich ins Dorfleben zu integrieren - ein Aspekt, der die Interviewer besonders interessiert, ist doch das Zusammenspiel zwischen den alteingesessenen Bewohnern und den Neu-Hinzugezogenen nicht von Anfang an ohne Spannungen.

    "Die alteingesessenen Kusterdinger sind da am Anfang schon etwas zurückhaltend, schon freundlich, aber wenn man sich gegenseitig mit Respekt begegnet, ist man schnell integriert. Und dann ist man irgendwie gemeinsam: Wir haben Straßenfeste hier, wir haben ein gutes Vereinsleben hier. Die Leute bemühen sich auch um diesen Zusammenhalt!"

    Ein Zusammenhalt, den Natalie Sevastianova aus ihrem früheren Leben in der Stadt nicht kennt. Und noch eines hat sie den Interviewern zu Protokoll gegeben:

    "Gefühlt arbeitet keiner hier im Ort. Alle pendeln nach Stuttgart oder nach Tübingen."

    Solche Wechselwirkungen notieren die 20 Interviewer der Universität Hohenheim, die dieser Tage 300 Bürgerinnen und Bürger aus Kusterdingen befragt haben, mit großem Interesse. Die Flächengemeinde mit knapp 8200 Einwohnern besteht aus den Ortsteilen Immenhausen, Jettenburg, Mähringen und Wankheim; in manchen dieser Ortsteile sind nur wenige Hundert Einwohner zu Hause. Dass Sozialforscher im Gemeindegebiet ausschwärmen, ist zumindest für die älteren Kusterdinger nichts gänzlich Neues. Denn das agrarsoziologische Forschungsprojekt 'Ländliche Lebensverhältnisse im Wandel', unterstützt von der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung, gibt es schon seit 1952.

    "Damals hatte man insbesondere in der Politik die Sorge, dass die sehr stark agrarisch geprägten Dörfer in Deutschland aushungern, aussterben, weil Landwirtschaft kein Zukunftsfaktor ist. Man hatte eigentlich Angst, dass die Landwirtschaft die deutsche Bevölkerung nicht ausreichend ernähren kann und dass es zu sozialen Unruhen kommt."

    Simone Helmle vom Fachgebiet "Ländliche Soziologie" der Universität Hohenheim weist gerne darauf hin, wie breit und langfristig das Forschungsprojekt 'Ländliche Lebensverhältnisse im Wandel' angelegt ist. Beteiligt sind neben der Uni Hohenheim die Fachhochschule Südwestfalen, die Hochschule Mittweida, die Bergische Universität Wuppertal, die Universität Bonn und das Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung in Berlin. Die Forscher nahmen ab 1952 alle 20 Jahre lang zunächst zehn Dörfer unter die Lupe. Dabei verschließen die Agrarsoziologen keineswegs die Augen vor den Problemen, mit denen sie konfrontiert werden, zum Beispiel der Geburtenrückgang. So erfreute man sich in Kusterdingen noch in den 90er Jahren an rund 100 Babys pro Jahr. Derzeit sind es jährlich nur noch 60 Neugeborene. Ergebnis: Eine Kindergartengruppe wurde dichtgemacht, ebenfalls die örtliche Werkrealschule. Den Vereinen fehlt es an Nachwuchs.

    Trotz dieser Entwicklung hat die Gemeinde Kusterdingen der Versuchung widerstanden, immer neue Wohngebiete auszuweisen und den Geburtenrückgang mit ungebremstem Zuzug von außen wettzumachen. Denn dies gehe auf Kosten gewachsener Gemeindestrukturen. Deshalb gilt in Kusterdingen die Regel: Nur wer schon mindestens fünf Jahre in der Gemeinde lebt, bekommt ein gemeindeeigenes Grundstück für den Bau eines Eigenheims.

    "Es ist einfach so, dass der Siedlungsdruck in unserer Gemeinde riesengroß ist, vor den Toren Tübingens, Reutlingen und Stuttgart gelegen. Ich krieg' ständig Fragen von Menschen aus Tübingen, Reutlingen und Stuttgart, ob sie hier einen Bauplatz bekommen. Und würden wir all dem nachgeben, würden wir alle paar Jahre ein neues Wohngebiet machen, würden wir unsere dörfliche Struktur verlieren. Das wollen wir nicht."

    Obwohl die aktuellen Interviews noch längst nicht ausgewertet sind, steht für die Hohenheimer Forscherin Simone Helmle jetzt schon fest:

    "Dörfer haben auf jeden Fall eine Zukunft. Wir haben die Herausforderungen des demografischen Wandels. Deshalb werden aber keine Dörfer abgerissen. Ländliches Leben wird sich verändern. Es steht in der Konkurrenz, attraktiv zu sein, …"

    … was zum Beispiel durch den vielfach zu beobachtenden Ausbau einer Kulturszene auf dem Land verwirklicht wird, zu besichtigen am Beispiel Kusterdingen. Stefan Burkart, Agrarsoziologe der Uni Hohenheim:
    "Die Bürger engagieren sich hier. Sie haben dieses Kulturzentrum relativ neu eingerichtet. Es gibt ein Kino in Kusterdingen. Es gibt diverse andere Angebote. Viele Künstler leben in Kusterdingen."

    Und nicht nur Künstler, sondern auch Architekten, IT-Berufe – all das, was landläufig gerne unter dem Oberbergriff "Kreativberufe" zusammengefasst wird- eine Chance für ländliche Regionen wie Kusterdingen, wenn die Infrastruktur stimmt, so Bürgermeister Jürgen Soltau:

    "Architekten und Ingenieure müssen riesige Datenmengen verschicken. Dazu brauchen sie ein schnelles Internet. Und unsere Arbeitsplätze in den Gewerbegebieten brauchen ein schnelles Internet. Das haben wir in den neuen Gewerbegebieten geschaffen. Aber die bestehenden Gewerbegebiete haben das bisher eben nicht. Und da sind wir hart dran."

    Dass so etwas wie Internet-Anschlüsse einmal Gegenstand der Gemeindepolitik werden können, hätten sich alteingesessene Kusterdinger wie Margot Knoblich in ihrer Jugend niemals träumen lassen. Sie erzählt im Interview mit den Dorf-Forschern:

    "Ich weine schon den alten Zeiten nach: Es gab keinen Straßenverkehr. Es hat unendlich viele Bauern gegeben. Beim einem konnte man in den Stall und bei einer Fohlengeburt zuschauen. Das sind alles Dinge, die verloren gegangen sind."

    Doch Margot Knoblich kann dem Strukturwandel im Dorf auch etwas Positives abgewinnen:

    "Als Selbst-Autofahrer muss ich sagen: Da fahre ich lieber hinter einem Sportwagen her wie hinter einem Traktor, der von Kirchtellinsfurt eine Schlange von zehn Kilometern hinter sich herzieht, vom Neckartal."