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Zwischen Unschuld und Grausamkeit

Yoko Ogawa erzählt in ihrem Roman "Das Ende des bengalischen Tigers" elf Geschichten von verhaltener Liebe und unverhohlener Leidenschaft, von Gier und Neid und Hass, von Mord und Totschlag und vom Tod.

Von Simone Hamm | 28.03.2011
    Meine Erinnerungen sind ausschließlich Geschichten des Todes.

    Yoko Ogawa reiht nicht einfach Geschichte an Geschichte, sondern verbindet sie alle miteinander. So schafft sie immer neue Konnotationen, neue Ebenen.

    In der ersten Erzählung "Ein Nachmittag in der Konditorei" wartet eine Kundin vergeblich darauf, bedient zu werden. Hinter einer angelehnten Tür neben der Kasse kann sie die Konditorin erkennen, wie sie telefoniert, wie ihre Schultern beben.

    In der nächsten Geschichte ist die Konditorin noch ein junges Mädchen. Sie trifft sich mit ihrem Vater, einem bekannten Politiker in einem Restaurant. Sie ist fast erwachsen und begegnet dem Vater zum ersten Mal. Etliche Geschichten später hören wir von einer Reisejournalistin, die nicht einschlafen kann:

    In der Nacht las ich "Ein Nachmittag in der Konditorei". Die Geschichte handelt von einer Frau, die ihren Sohn verloren hat und an seinem Todestag Erdbeertörtchen in einer Konditorei kauft. Das war alles. Ich las sie gleich zweimal. Eigentlich hätte ich an meinem Artikel arbeiten müssen, aber als ich auf die Uhr schaute, war es bereits nach drei Uhr morgens. Ihr Sprachstil war nicht besonders. Es gab weder interessante Charaktere noch originelle Schauplätze. Aber hinter ihren Worten rauschte ein kühler Strom, in den ich mein Herz eintauchen konnte.

    Yoko Ogawas Charaktere wirken in der Tat auf den ersten Blick nicht besonders interessant. Sie sprechen nicht viel und sie wirken immer etwas verloren, einsam. Aber fast jede Person hat etwas, was sie verbergen möchte, ein dunkles Geheimnis. Langsam und unaufgeregt erzählt Yoko Ogawa, zurückhaltend und reduziert. Diese - fast ist man versucht zu sagen "reine" - Sprache bildet den Gegensatz zu den teuflischen Geschehnissen, zu den tiefen Verletzungen, psychisch wie physisch, die sich die Menschen einander zufügen.

    Yoko Ogawa bleibt immer genaue und kühle, geradezu puristische Beobachterin. Man mag das mitleidlos nennen oder aber betonen, dass sie nicht wertet, nicht den Stab über ihre Protagonisten bricht. Ein immer wiederkehrendes Motiv ist das Schweigen, ist die Stille. Wenn bei Yoko Ogawa zwei Menschen aufs Meer blicken, heißt es:

    Unser Schweigen wurde vom Rauschen der Wellen überdeckt. Als würden sie aus fernen Himmelsregionen heranrollen.

    Eine junge Frau erzählt ihrem Freund, dass im Appartement über ihr eine Mörderin lebe und dass die Polizei sie verhört habe.

    Eine merkwürdige Stille trat ein. Ganz anders als das einvernehmliche Schweigen, das vorher zwischen uns geherrscht hatte.

    Die Stieftochter hat nie viel mit der Stiefmutter geredet:

    Das Schweigen, das zwischen uns herrschte, war uns Freude genug.

    Die Stiefmutter wird die Familie verlassen.

    Manche Geschichten laufen auf eine Pointe hinaus, auf eine grausame, schrille, verstörende, unerwartete Pointe. Andere, und das sind die, die noch mehr verstören, haben ein offenes Ende. Alle Geschichten sind in der Ichform geschrieben. Doch das Ich ist (jedes Mal) ein anderer. Die Perspektiven wechseln. Man ist immer aufs Neue gespannt, als was sich das Ich entpuppen wird. Männer erzählen. Frauen erzählen. Kaltblütige Mörder erzählen. Traurige Menschen erzählen.

    Eine Chronologie gibt es nicht. Übergenau beschreibt Yoko Ogawa die Jahreszeiten, die blendende Sonne, den dichten Schneefall, den prasselnden Regen, das raschelnde Laub. Als betrachte sie alles durch eine Lupe.

    Wenn bei Yoko Ogawa Kinder während einer Zugfahrt singen, dann singen sie nicht einfach, dann klingt das wie Musik:

    Die Luft in unserem Abteil vibrierte plötzlich. Die glasklaren Stimmen der Kinder schwebten über unseren Köpfen. Sie klangen gar nicht mehr menschlich, so überirdisch schön waren sie. Durch das Trommelfell gelangten sie bis an die ferne Quelle der Erinnerung und brachten diese zum erzittern. Obwohl es noch kleine Kinder waren, verstanden sie bereits, das menschliche Gemüt zu besänftigen.

    Warum hatte die Reisejournalistin bis tief in die Nacht Geschichten gelesen, deren Protagonisten sie uninteressant, deren Orte sie wenig originell fand?

    Aber hinter ihren Worten rauschte ein kühler Strom, in den ich mein Herz eintauchen konnte.

    Yoko Ogawa. Das Ende des bengalischen Tigers. Ein Roman in elf Geschichten. Aus dem Japanischen von Sabine Mangold. Liebeskind. 222 Seiten. 18,90 Euro