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Zwist unter Zauberern

Herrn Kierau ist sein Wohnungsgenosse Eugen durchaus fremd. Herr Kierau ist höflich und ehrerbietig, Eugen dreist und unverschämt. Herr Kierau ist wortkarg und rechtschaffen, Eugen aber ein geselliger Hallodri, der den Nachbarn Streiche spielt. Herr Kierau ist seinem Mitbewohner sogar ziemlich feind. Eugen raucht süßliche Zigaretten, die Herr Kierau verabscheut, er verrückt Herrn Kieraus Möbel, hängt seine Bilder um und wirft seine Bücher in den Papierkorb. Herr Kierau kann Eugen nicht verstehen, und das im Wortsinn, denn Eugen macht sich Notizen, die Herr Kierau beim besten Willen nicht begreift: "Menschenfresserei nötig, vielleicht sogar wünschenswert”, liest er auf einem Zettel, oder: "Der achte Stock tiefer als der siebente - das ist immer so. Warum stottern Zwerge? Luft voller Hornissen, dazwischen Glaskugeln. Kein gutes Zeichen.”

Peter Köhler |
    Herr Kierau kann Eugen also nicht verstehen. Das aber ist seltsam, denn - Herr Kierau ist Eugen. Sobald nämlich Herr Kierau trinkt, verwandelt er sich in sein alter ego Eugen und tut all das, was ihm sonst gegen den Strich geht. Eugen ist sozusagen Herrn Kieraus gelebte Alternative.

    Geschichten wie diese machten den Erzähler Kurt Kusenberg seit den 50er Jahren bekannt: Geschichten, die das geregelte Dasein und die angepaßte Persönlichkeit mit ihren verborgenen Möglichkeiten und dem aus dem Rahmen Fallenden konfrontieren; Geschichten, die die trügerische Festigkeit und Enge des normierten Daseins stören und aufheben. Die Normen von Anstand und Korrektheit, die dem Privatleben Sicherheit geben sollen, erweisen sich in Kurt Kusenbergs Grotesken als so porös wie die Weltordnung selbst, wenn Bäume wie "Personen erscheinen, eigentümlicher und feiner, als die Menschen es sind”, und ein Erdbeerbeet Aprikosen trägt; Sicherheit in der Welt ist unmöglich, solange es "ein gewisses Zimmer” in der Wohnung eines "Herrn Klose” gibt: bürstet man den Teppich, gibt es einen Staatsstreich in Argentinien, bewegt man das linke Fenster, nehmen die Sonnenflecken zu, zupft man an der Tischdecke, melden die Fischer in Norwegen überreichen Fang.

    Kurt Kusenbergs Geschichten entführen die Leser in eine surreale Wirklichkeit, die an Träume, Märchen und Spielwelten erinnert; es sind erdichtete Welten, die in eigentümlicher, feiner Opposition zur richtigen Welt stehen. Ob diese Opposition eher wie Kritik oder wie Eskapismus ausschaut, bleibe freilich offen. Kusenberg selbst hat jedenfalls in seinen Grotesken immer wieder die Realismusfrage aufgegriffen und das spannungsreiche Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit gestaltet; stets derart, daß sich die Grenzen von Kunst und Realität, Wunsch und Wirklichkeit verwischen: Da verschwindet ein Knabe in dem Gemälde eines flämischen Meisters, wandert darin umher und wird schließlich fester Bestandteil der Szenerie; da beschließen zwei alte Männer, denen der Rebensaft ausgegangen ist: "Wir bilden uns einfach ein, wir hätten ein riesiges Faß im Keller, und trinken eingebildeten Wein!” Und so geschieht es; denn wahr ist, was man sich ausdenkt. Realistisches Erzählen ist vernünftig. Aber die Vernunft, ob in Wirklichkeit oder nur auf dem Papier, regelt und ordnet, sie beschränkt die Vielfalt und paradoxerweise auch die Gedankenfreiheit. Anders die Groteske, die sich der Skepsis gegen jeden schlichten Vernunftglauben verdankt. In ihr ist alles möglich, auch das Unvernünftige, das Sinnlose, das Unbegreifliche - und zwar ohne Begründung und Rechtfertigung.

    Das groteske Gedankenspiel bringt also die vernünftige Welt durcheinander; die Idylle andererseits malt die Realität schön. Aus beiden Quellen speisen sich Kusenbergs Geschichten, denn sie sind zweierlei: freundliche Grotesken und unheimliche Idyllen. Eine versöhnliche Humanität strahlt von ihnen aus: Ein weiser Mann arrangiert sich mit den Dieben, die ihn allnächtlich bestehlen, und läßt sie mit Einschränkungen gewähren; eine Belagerung geschieht im gegenseitigen Einvernehmen, so daß beide Parteien, Heer und Stadt, ihre Ruhe und ihr Auskommen haben; ein abgesetzter Herzog genießt das müßige Leben und läßt sich von niemandem mehr in die Regierungsgeschäfte zurückbringen.

    Schon die Sache mit Herrn Kierau und Eugen ist ja recht eigentlich ein freundliches Echo auf Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Überhaupt muß in Kurt Kusenbergs Grotesken das Verquere, Unerwartete, Unnormale kein Grund zur Beunruhigung sein. "Als Herr Gronau” - eine andere Figur in Herrn Kusenbergs Geschichten- "aus einem Fenster seines Hauses blickte, sah er am Himmel zwei Sonnen statt einer einzigen Sonne. ,Ob es den Tag heller macht?’ fragte er sich. ,Jedenfalls wird man umdenken müssen.’” Mit Geistesgegenwart pariert Herr Gronau ungewöhnliche Situationen und bewahrt stets geistige Überlegenheit, so als er beim Ankleiden bemerkt, "daß all seine Hosen ein langes und ein kurzes Bein hatten wie für Einbeinige. Rasch entschlossen, zog er zwei Hosen übereinander an.”

    Der feine, eigentümliche und geradezu magische Erzählton Kurt Kusenbergs tut ein übriges. Die Sprache gibt Halt in diesen Erzählungen: Ihr allein "obliegt” es, dem Sicherheitsbedürfnis des Lesers "Genüge” zu tun, so er nichts "dawider” hat. Kurt Kusenberg erzählt gediegen, behaglich, zuweilen altväterlich - und nimmt dem Fremdartigen durch Witz das Befremdliche wie im Fall der Frau Bullgrien, die es sich in der Standuhr gemütlich gemacht hat. "Herr Rottacher fand nichts dabei, daß Frau Bullgrien in dem Gehäuse saß. ‘Die Uhr steht Ihnen vorzüglich, gnädige Frau’, sagte er. ‘Nicht jede Frau paßt in eine Standuhr. Wird Ihnen die Zeit nicht lang?’”

    Die Zeit wird nicht lang bei der Lektüre der 35 skurrilen, doppelbödigen Geschichten aus fast vierzig Jahren, die der Band "Zwist unter Zauberern” versammelt. Als Zugabe enthält er Fotos, autobiographische Aufzeichnungen, Briefe und Dokumente aus dem Leben des 1983 mit 79 Jahren in Hamburg gestorbenen Kurt Kusenberg. Ein Meister der kleinen Form also ist wiederzulesen und neu zu entdecken: Kurt Kusenberg.