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Zwölf Geschichten vom Scheitern

"Ein glückliches Leben ergibt keinen Roman", sagt Arno Geiger und erzählt folgerichtig von Menschen, die eine misslungene, gescheiterte Existenz führen, die dieses Scheitern spüren und daran leiden. Mit "Anna nicht vergessen" veröffentlicht Geiger seinen ersten Band mit Erzählungen.

Von Claus Lüpkes | 28.11.2007
    Ein Freitagnachmittag kurz vor fünf: Der Chefarzt der Intensivstation will gerade die Dienstübergabe machen, da schlägt die Ambulanz Alarm: Ein zwölfjähriger Junge mit Herzversagen! Dabei wollte Pichler, Assistenzarzt, 41, geschieden, pünktlich los, noch bei Helligkeit mit dem Auto zu seinen Eltern, 120 km, wie an jedem zweiten Wochenende. Auf der Ambulanz aber gelingt die sofort eingeleitete Reanimation nicht. Also muss der Junge auf die Intensivstation.

    " Zwanzig Minuten, das sind zwanzig mal sechzig Sekunden. Zweitausend Herzkompressionen unter Reanimation. Der halbtote Bub unter Pichler ist nicht der einzige, für den die Zeit vergangen ist. Etwas Erschreckendes ist daran. Pichler weiß im Moment nur nicht was.

    Einem selbst kann eine Zeitspanne lange vorkommen oder kurz, weil man ganz in Gedanken war. Für den Patienten hingegen zählt nur das kontinuierliche Ticken der objektiven Zeit. Das Leben geht weiter, obladi, oblada, eine Woche, ein Monat, ein Jahr. Stromausfall. Dunkelheit. Stille. "

    Gute 30 Seiten lang kämpfen sie in der Erzählung "Doppelte Buchführung" um das Leben dieses kleinen Patienten mit seinen mageren 35 Kilo und es gelingt Arno Geiger, diese dramatische Situation ebenso anschaulich wie präzise und packend zu schildern und dabei den Leser mit atemberaubender Spannung in die Erzählung zu ziehen.

    Bei aller Anspannung aber und aller Hektik (auf dieser Intensivstation) gehen Pichlers Gedanken zwischendurch immer wieder zurück in seine eigene Kindheit, als er selber zwölf war, ein ungelenker 12-jähriger Pummel, den der Vater demütigt.

    Noch immer fährt dieser Pichler mit Widerwillen zu den Eltern, wo jedes zweite Wochenende die verhasste Gartenarbeit auf ihn wartet, auch mit seinen 41 Jahren und lange nach einer schmerzlichen Scheidung unterwirft er sich noch immer den Erfordernissen des Elternhauses.

    Arno Geiger erzählt in diesen Erzählungen von Versagern und Verlierern, von Menschen, die sich zumindest als solche empfinden.

    Wie auch Ella in der Titelerzählung "Anna nicht vergessen", die sich als alleinerziehende Mutter vollkommen überfordert fühlt mit ihrer störrischen Tochter Anna.

    Nachdem die Mutter ihre Tochter einmal nicht pünktlich von der Schule abgeholt hatte, ließ Anna in der ganzen Wohnung Zettel aufhängen, mit der rührenden Aufforderung, sie nicht zu vergessen.

    Ihren Lebensunterhalt verdient diese Ella, indem sie im Auftrag misstrauischer Ehefrauen deren Männer zu verführen versucht:

    " Ella ist jetzt dreißig Jahre alt, eine schlanke, attraktive Frau, die mit der Zeit nüchtern geworden ist, obwohl sie mit zwanzig als jemand gegolten hat, der nicht zu bremsen ist. Wenn sie erschöpft auf dem Sofa liegt oder sich für eine Viertelstunde im Klo einriegelt, packt sie manchmal die Angst, dass sie mit jedem Jahr an Lebensfreude verliert, während andere immer glücklicher werden. Alle ihre Klientinnen sind so, so wie sie selbst, auf der stimmungsmäßigen Talfahrt. Das gilt auch für die Frau, die sie am Vormittag treffen wird; das hat Ella schon am Telefon erkannt. "Ich tue das nur, weil ich ihn liebe", hat die Frau mit gedämpfter Stimme gesagt, und daran denkt Ella, während sie den Kakao in die Milch rührt und probiert, ob die Milch nicht zu heiß ist.

    Sie gießt einen Schluck kalter Milch nach, dann stellt sie die Tasse vor das Mädchen, das sich Augenblicke zuvor auf seinen Stuhl geschoben hat. "

    Einen ganzen trüben Wintertag lang folgt Arno Geiger dieser jungen Mutter durch ihren gehetzten Alltag, vom frühen Aufstehen und dem Wecken der Tochter bis hin zur Heimkehr von ihrer sehr speziellen Arbeit um Mitternacht.

    Die Trostlosigkeit dieses verlogenen, zynischen Daseins verdichtet Geiger in seiner Erzählung zu einem einzigen Tag und schildert das triste Lebensgefühl dieser Ella, mit 30 schon alt und verbraucht zu sein.

    Dabei gelingt es Arno Geiger in seiner Titelgeschichte - wie auch in anderen Erzählungen - durchaus, sich glaubwürdig in die Rolle einer Frau zu versetzen:

    " Das sich Hineinversetzen in andere Personen, das ist meines Erachtens nicht nur ein sehr subtiles menschliches Vergnügen, sondern fast auch eine moralische Pflicht, weil es nie schaden kann, wenn man andere Perspektiven auf die Welt ausprobiert und dadurch versucht, ein komplexeres Bild von der Wirklichkeit zu bekommen, und diese anderen Perspektiven auf die Welt biete ich dem Leser dann auch an und ehrlich gesagt, ich mach das gern, ich schreib gern aus der Perspektive von Frauen. Es kann durchaus sein, dass ich mir bei den Männerperspektiven selbst zu nah bin, also dass mir die Distanz fehlt und ich mir insofern selbst auch ein bisschen im Weg stehe. "

    So wichtig Geiger dieser fremde, ferne Blickwinkel ist, und so gern er ihn in diesen Erzählungen ausprobiert: leicht fällt ihm solch ein Rollenwechsel keineswegs:

    " Nein, leicht ist es mir nicht gefallen, das sollte man zwar nicht merken, aber das ist einfach das sich Vorarbeiten bis man das Gefühl hat: jetzt eine Ahnung und mehr als nur eine Ahnung davon zu haben, wovon diese Figur geprägt ist, wie sie denkt. Und manchmal tritt ein Moment ein, da weiß ich dann, was Flaubert hat, als er gesagt: "Madame Bovary c'est moi". Dass man für einen kurzen Moment denkt: ja, so kann sein, so ist es! "

    Die überforderte alleinerziehende Ella, der Assistenzarzt Pichler, der sich mit seinen 41 Jahren noch immer nicht vom Elternhaus abgenabelt hat:

    Arno Geiger erzählt von Menschen, die eine misslungene, gescheiterte Existenz führen, die dieses Scheitern spüren und daran leiden:

    " Ein glückliches Leben ergibt keinen Roman: das zeigt die Weltliteratur. Das Gefühl der Verlassenheit und der Sinnlosigkeit und der Vergeblichkeit, das gehört gerade auch in die Erzählung und in die Shortstory wie die Leiche in den Kriminalroman. "

    Allerdings belässt es Geiger in diesen Erzählungen nicht bei der Schilderung trostloser Lebensverhältnisse. Wie Ella, wie Pichler sind die meisten seiner Figuren noch nicht stumpf und bewusstlos in ihrer bedrückenden Situation versunken, und manchmal erträumt sich bei Geiger auch jemand seine eigene Wirklichkeit, wie sein Protagonist in "Abschied von Berlin":

    Der ist mit seinem Versuch, in der deutschen Hauptstadt Fuß zu fassen, gescheitert und will deshalb zurück nach Wien. Am Vorabend seiner Abreise lernt er, nachdem sich seine Freundin wenig charmant von ihm verabschiedet hat, noch eine junge Kellnerin kennen, die ihn diese letzte Nacht auf ihrer Couch übernachten lässt. Als er am nächsten Morgen dem Installateur öffnet, der für eine Reparatur im Badezimmer bestellt worden war, gibt er sich dem Handwerker gegenüber als Partner dieser Frau aus und spielt dem Fremden gegenüber seine Rolle konsequent durch. Eine gleichermaßen heitere wie melancholische Erzählung, die zugleich die Situation des Schriftstellers und eine mögliche Funktion von Literatur sehr schön spiegelt und zu den besten Texten dieses Buches zählt:
    " Mich interessiert der Alltag der Menschen (und wenn die Literatur sagen wir der 70er und 80er Jahre zu einem großen Teil Kommentar zum Leben sein wollte, dann meine ich beim Schreiben das Leben selbst).

    Das Wissen um vorhandenes, aber nicht erreichbares Glück, denke ich, das kennen wir alle: jeder Mensch ist mehr oder weniger ständig auf der Suche nach dem Glück, weil: die Alltagstristesse, die dauert an und das Glücksgefühl, das muss immer erneuert werden. Und gute Literatur entsteht, denke ich, an dieser Reibungsfläche, dort, wo beides vorhanden ist, das menschliche Leiden und das Glück, also dort, wo es zur Überwindung des menschliches Leidens hin zu einem Glücksgefühl kommt. "

    Vor genau zehn Jahren hat Arno Geiger mit dem Roman "Kleine Schule des Karussellfahrens" sein Debüt vorgelegt, auf den dann in schöner Regelmäßigkeit drei weitere Romane folgten. Mit seinem letzten, "Es geht uns gut", gewann er den erstmals vergebenen "Deutschen Buchpreis" und damit gelang Geiger, der bis dahin im bundesdeutschen Feuilleton nur einem recht kleinen Kreis von Kennern und Liebhabern bekannt war, der literarische Durchbruch. Immerhin 200.000 Exemplare hat der Hanser-Verlag von der gebundenen Ausgabe verkauft. Mit "Anna nicht vergessen" veröffentlicht Geiger jetzt zum ersten Mal einen Band mit Erzählungen:

    " Erzählungen gehen durch manches enge Loch durch, für das der Roman zu sperrig ist und manche Stoffe, die eignen sich genau für die kurze Form und für 20 oder 30 Seiten, aber man könnte das nicht über eine längere Strecke ausreizen. Und die Entscheidung, das als nächstes der Erzählband kommen soll, die ist gefallen, nachdem ich "Es geht uns gut" fertiggestellt hatte, also im Grunde, bevor "Es geht uns gut" erschien und der Erfolg gekommen ist. Und jetzt im Nachhinein bin ich eigentlich ganz froh, dass es so ist. "Es geht uns gut" war für mich ein ganz toller Erfolg, selbstverständlich, das ist das, was sich jeder wünscht, das schafft Unabhängigkeit, Freiheit. Gleichzeitig ist der Erfolg aber auch sehr zeithungrig: Ich war viel unterwegs und so in Zügen und in Hotels, da kann man Erzählungen schreiben, aber vielleicht nicht Romane, die ja viel komplexer sind. Und die Erzählungen müssen sich vielleicht auch nicht so unmittelbar an "Es geht uns gut" messen lassen, was schon eine sehr große Hypothek gewesen wäre, egal, was ich nachgebracht hätte als Roman. "

    So erzählt Arno Geiger in seinen zwölf Geschichten auf ganz unterschiedliche Weise und aus verschiedenen Perspektiven von Menschen, die mit ihren Hoffnungen und Sehnsüchten gestrandet, gescheitert sind, sich manchmal aber auch noch einen Traum bewahrt haben. Allerdings lesen sich nicht alle Erzählungen dieses Buches gleichermaßen gut. Ohnehin scheint es ratsam, sie nicht alle am Stück hintereinander weg zu lesen, denn dann schlägt möglicherweise ein Zuviel an Versagen und Verzweiflung in chronischen Weltschmerz um, und der ist dann kaum noch erträglich.

    Arno Geiger: "Anna nicht vergessen"
    Carl Hanser Verlag, München !1