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Zyklopen, Sechsbeiner und Doppelköpfe

Tiermedizin. - In unserer Reihe "Schatzkammern der Wissenschaft" möchten wir Ihnen besondere Sammlungen an Exponaten vorstellen, die im alltäglichen Museumsbetrieb oft eher wenig beachtet werden, die aber bei näherer Betrachtung besonders spannend sind.

Von Michael Stang | 19.02.2009
    "Das ist also hier die anatomische Sammlung, und wir haben hier viele Exponate von normal anatomischen Präparaten und dann haben hier da vorne die Gurlt‘sche Sammlung mit den Originalschränken hier."

    Die Sammlung geht auf Ernst Friedrich Gurlt zurück, der 1819 an der Berliner Tierarzneischule einen Lehrstuhl für Anatomie der Haustiere übernahm. Jedes einzelne Präparat wurde von ihm mit einer kurzen Beschreibung versehen und katalogisiert, besondere Exemplare beschrieb er ausführlich in seinem "Lehrbuch der pathologischen Anatomie", das 1832 erschien. Heute befindet sich die Sammlung im Institut für Veterinär-Anatomie an der Freien Universität Berlin.

    "Und zwar sind hier die so genannten Trockenpräparate, also Skelette und Skelettteile und auf dieser Seite hier sind dann die Feuchtpräparate, das sind in Alkohol eingelegte Präparate."

    Zu ihrer Glanzzeit umfasste die Sammlung über 6400 Tierpräparate. Durch Kriegsschäden bedingt existieren von diesem Erbe heute nur rund 250 Trocken- und Feuchtpräparate fehlgebildeter Tiere, sagt die geschäftsführende Direktorin Johanna Plendl.

    "Prinzipiell kann man ja an allen Fehlbildungen sehen, was letztendlich schief gegangen ist während der Entwicklung."

    Bei Säugetieren gibt es drei Entwicklungsphasen, in denen es zu Fehlbildungen kommen kann: zuerst die so genannte Blastogenese, die Keimentwicklung. Auf diese folgt die Embryogenese, in der die Organe angelegt werden. Zum Schluss setzt die so genannte Fetogenese ein. Plendl:

    "Also, wenn Sie zum Beispiel solche Doppelfehlbildungen betrachten, also so vereinte Doppelfehlbildungen, dann kann man sagen, die sind in der ganz frühen Entwicklung, in der Blastogenese, entstanden, wo ein ,Alles-oder-Nichts-Gesetz‘ herrscht in der Regel, das heißt entweder es wird was oder die Frucht stirbt ab."

    Nur selten schaffen es solche Fehlbildungen über das Anfangsstadium hinaus. Johanna Plendl öffnet eine der alten Vitrinen, die noch aus Gurlts Zeit stammen. Plendl:

    "Hier ist eine unserer bei unseren Studenten sehr beliebten Doppelfehlbildungen: dieser Diprosopus beim Rind, also ein Doppelgesicht. Da kann man sagen, das ist mit Sicherheit ziemlich früh entstanden."

    Im Schrank daneben sieht man weitere grotesk wirkende Schädel von Rindern, Schafen und Pferden: einigen fehlt der Mund, anderen das Gesicht; manchen ist der Oberkiefer zur Seite gewachsen oder die Kiefer sind stark verkürzt. Aber nicht alle Deformationen beruhen auf einer Fehlentwicklung in der Keimbahn. Plendl:

    "Wenn Sie hier zum Beispiel sehen, diese riesigen Hydrocephali, also große Wasserköpfe, die dürften nicht per viam naturalis, also über den natürlichen Geburtsweg zur Welt gekommen sein, sondern da hat sich das post partum, also nach der Geburt entwickelt."

    Bei einem Wasserkopf liegt meist eine Abflussstörung der Hirnflüssigkeit vor oder es wird zu viel davon produziert. Dadurch werden die Schädelknochen, die sich zum Zeitpunkt der Geburt noch weiterentwickeln können, in diese große und abstruse Form gezwängt. Einige der Tiere mit einem solchen Wasserkopf weisen zudem Gesichts- oder Schädelspalten auf. Solche Missbildungen entstehen, weil Teile des Schädels oder des Gesichts nicht verschmolzen. Die Professorin für Anatomie, Histologie und Embryologie weist auf die gegenüberliegende Seite. Dort steht in beleuchteten Vitrinen die zweite Hälfte der Sammlung mit den Feuchtpräparaten. Johanna Plendl weist auf eine in Alkohol eingelegt bizarre Form.

    "Hier ist noch eine interessante Entwicklung, das ist der Amorphus glubosus, die kugelige Ungestalt. Das ist eigentlich nur eine Kugel, die außen umgeben ist von Fell, Rinderfell ganz offensichtlich, dann sieht man da oben vielleicht noch eine Zungenähnliche Struktur. Wenn man das aufschneidet, findet man alle möglichen Gewebe drin, also Fettgewebe, Zähne sogar Muskulatur."

    Ein paar Gläser weiter stehen ebenfalls in Ethanol konservierte Tierembryonen, die schon mehr als 150 Jahre in der Sammlung sind. Plendl:

    "Hier zum Beispiel Zyklopen, also Einaugen mit großem Mund und ohne Rüssel. Die gibt es auch mit Rüsselbildungen. Dann, da haben wir zum Beispiel ganze Würfe von Schweinen, das eine hat einen großen Rüssel nach oben, das andere nach unten."

    Zwergleiber, Doppelgesichter und die verschiedensten Formen siamesischer Zwillinge reihen sich aneinander. Es gibt auch verschmolzene Tierleiber, bei denen selbst Experten nicht immer sagen können, um was es sich dabei handelt. Plendl:

    "Hier wäre ein Achtbein mit zwei Ohren, wahrscheinlich von einem Hund, das ist gar nicht so genau zu sehen."

    Zwei Körper teilen sich einen Schädel. Exakte Zahlen, wie oft es zu solchen Fehlbildungen kommt, gebe es nicht. Die Vermutungen liegen zwischen 30 und 60 auf 1000 Geburten. Obschon die Sammlung nur noch einen kleinen Teil der ursprünglichen Größe darstellt, sind die seltenen Präparate für die Ausbildung der Studenten nach wie vor unverzichtbar, sagt Johanna Plendl zum Abschluss.

    "Die angehenden Veterinärmediziner müssen sich ja auskennen mit Fehlbildungen und die sind angehalten und tun das auch sehr häufig, sich hier in der Sammlung aufzuhalten und die Präparate zu studieren."
    In Alkohol eingelegte Mißgeburt eines Schafes.
    In Alkohol eingelegte Mißgeburt eines Schafes. (Michael Stang)
    Schädel eines doppelköpfigen Rindes.
    Schädel eines doppelköpfigen Rindes. (Michael Stang)