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100 Jahre Leuna
Zwischen Fortschrittsglaube und Umweltkatastrophen

Die Leuna-Werke südlich von Halle standen über Jahrzehnte für industriellen Fortschritt, aber auch für großes Unglück. Da sie zu den größten Rüstungsbetriebe der Nazis zählten. Dann wurden sie zum größten chemischen Betrieb der DDR, mit großen Folgen für die Umwelt. Heute vor genau 100 Jahren wurde mit dem Bau der Leuna-Werke begonnen.

Von Christoph Richter |
    Blick auf das Hauptgebäude der ehemaligen Leuna Werke am 01.09.2012.
    Blick auf das denkmalgeschützte, neo-klassizistische Verwaltungsgebäude der ehemaligen Leuna Werke. (picture alliance / Matthias Bein)
    "Den habe ich persönlich kennengelernt. Walter Ulbricht." Die blauen Augen strahlen, die roten Wangen leuchten. Helga Bertuch ist 79. Bis zum Mauerfall hat sie im Rechenzentrum der VEB Leuna-Werke "Walter Ulbricht" gearbeitet. Benannt nach dem ersten Generalsekretär der SED. Weltberühmt dafür, dass er die Berliner Mauer gebaut hat. Egal, sagt die einstige Leuna-Werkerin Bertuch, "ein einwandfreier Mann war das."
    Helga Bertuch sitzt auf einer Bank, zusammen mit ihrer Freundin Rosel Hoppe. Mit Blick auf das frühere – heute denkmalgeschützte – weiß glänzende neo-klassizistische Verwaltungsgebäude. Daneben das einstige Werktor 1. Ein Ruf, wie aus einer anderen Zeit. "Der Fahrradweg war früher schwarz. Einer nach dem anderen sind mit dem Rad nach Leuna. Tausende von Menschen. Jetzt sieht man keinen mehr. Alles leer."
    "Leuna 1966. In langer Reihe stehen die Schlote wie Pfeiler, auf die der Wolken Last gelegt ist. Scheinbar endlos ziehen sich Betriebsbauten: Hallen, Apparatebauten, Gasometer dahin. Bieten dem Beschauer ein beeindruckendes Bild." So klang es vor 50 Jahren, in einer Reportage des DDR-Rundfunks.
    Bei Westwind Asche auf der Wäsche
    Nicht erzählt wird die Geschichte der Umweltkatastrophen. Die Gegend um Leuna hatte den weltweit höchsten Ausstoß an Kohlen- und Schwefeldioxid. Weshalb die Kinder husteten und spuckten, an chronischer Bronchitis litten. "Vor uns im Norden gibt es die alte Halde, das ist jetzt so ein grüner Bergbuckel. Diese Halde ist überwiegend Asche. Und wenn die Oberfläche oben trocken wurde und der Wind dann gleichmäßig aus West-Richtung blies, durfte im Ort Leuna keiner mehr Wäsche aufhängen. Sonst hatte er Asche auf der Wäsche."
    Das war schlimm, sagt der frühere Leuna-Werker Reinhard Kroll. "Wenn sie mit dem Zug von Halle nach Weißenfels gefahren sind, haben sie sich durch die Zugstrecke gerochen. Das stank. Da konnten sie – wenn sie Chemiker waren – entscheiden, in welchem Bereich der Chemie sie sich befinden." Von alldem ist heute nichts mal mehr zu ahnen. Es duftet nach Holunder, die Sonne scheint.
    Erdölraffinerie in Leuna
    Die Erdölraffinerie in Leuna. (picture alliance/dpa/Foto: Waltraud Grubitzsch)
    Am 25. Mai 1916 – also vor genau 100 Jahren – wurde von der BASF Ludwigshafen in Leuna der erste Spatenstich für das Ammoniakwerk gesetzt. Schnell wurde aus der damals ländlich zurückgebliebenen Region um Merseburg ein Industriezentrum, das damals in Europa seinesgleichen suchte.
    Oft vergessen wird in diesem Zusammenhang, dass mit Leuna auch unmenschlich großes Leid und Grauen verbunden ist. Bis zu 10.000 Zwangsarbeiter, KZ-Häftlinge und Kriegsgefangene mussten während des Zweiten Weltkrieges in den Leuna-Werken unter unmenschlichen Bedingungen schuften. Viele von ihnen starben. Nach dem Krieg wurde daraus der größte ostdeutsche Chemie-Betrieb mit etwa 30.000 Mitarbeitern.
    Vergangenheit. Die Leuna-Werke gibt es nicht mehr. Nach dem Mauerfall wurden sie zerschlagen, jetzt ist ein Chemie-Park daraus entstanden. Weltweit gibt es keinen Ort, der so starke Strukturbrüche in einer so kurzen Zeit erleben musste. Industriemanager Reinhard Kroll - von 1992 an hat der Ostdeutsche die Leuna-Werke mit abgewickelt - kann sich noch gut erinnern. "Das waren 27.000 Menschen, die hier in Brot und Lohn standen, von denen sind 23.500 Menschen innerhalb von fünf Jahren nicht mehr beschäftigt gewesen. Der Bestand ist bis auf 3.500 Mitarbeiter in einer rasenden Geschwindigkeit runtergegangen."
    Heute das umsatzstärkste Unternehmen Sachsen-Anhalts
    Heute haben sich etwa 130 Firmen in Leuna angesiedelt. Herzstück ist die Erdöl-Raffinerie, eine der modernsten Europas. 30.000 Lampen tauchen sie nachts in gleißendes Licht. Von Ferne, ein Manhattan an der Saale. Mit 630 Mitarbeitern der größte Arbeitgeber in der Region, das umsatzstärkste Unternehmen Sachsen-Anhalts.
    Wer mit offenen Augen durch Leuna geht, kann aber den Zeitgeist von damals noch heute sehen. Denn zeitgleich mit den Leuna-Werken entstand nach englischem Vorbild die Gartenstadt Leuna, die betriebseigene Werkssiedlung. Heute gilt sie als das größte Flächendenkmal Deutschlands. "Es ist eine sehr abwechslungsreiche Architektur. Die sich Elementen aus dem Barock, aus dem Klassizismus oder aus dem Jugendstil bedient hat." Architekt Thomas Lebek kennt das Kleinod seit frühester Kindheit. Dort wo früher nur Felder waren, baute Karl Barth eine Wohnsiedlung. Dahinter stand das gesellschaftsreformerische Konzept: Neues Wohnen im Grünen, in direkter Nachbarschaft zum Werk.
    Fast jeder in der Region hat irgendetwas mit der Chemie zu tun. Alle sind sich einig – auch der einstige Leuna-Manager Reinhard Kroll - Ex-Kanzler Helmut Kohl war es, der vor 25 Jahren Leuna gerettet hat. "Also, ich war in Paris im Projekt-Team. Und eines Morgens kam ein französischer Kollege in mein Büro und sagte: 'Vernichte mal dein Papier, wir bauen die Raffinerie nicht.' Das hatte Konzernchef Jaffré entschieden, auszusteigen. Es ist der Intervention von Kohl und Mitterrand zu verdanken, dass das geändert wurde."
    Über die konkreten Details und dunklen Machenschaften des Leuna-Deals will bis heute keiner der Betroffenen sprechen. 100 Jahre Leuna. Noch mal 100 Jahre Leuna? Industriemanager Kroll ist skeptisch. Mit zugekniffenen Augen schaut er in die Ferne. "Wir müssen sehr feinfühlig, die Umstrukturierung des gesamten Sektors anfassen. Ohne Dinge so einzureißen, dass wir große Löcher reißen, die wir nicht mehr stopfen können."