Dienstag, 19. März 2024

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Album "Die Unendlichkeit" von Tocotronic
"Ungewöhnlich viele Songs geschrieben"

Das neue Album von Tocotronic ist autobiografisch geprägt. Für "Die Unendlichkeit" sei es notwendig gewesen, viele Lieder zu komponieren. Denn sonst drücke man sich um Themen herum und schummle, sagte Sänger Dirk von Lowtzow im Dlf. Erst allmählich werde man wagemutiger.

Dirk von Lowtzow und Jan Müller im Corsogespräch mit Christoph Reimann | 20.01.2018
    Der Bassist Jan Müller (l-r), Gitarrist und Keyboarder Rick McPhail, Schlagzeuger Arne Zank und Sänger Dirk von Lowtzow der Band Tocotronic am 16.03.2015 in Berlin
    Bassist Jan Müller (links) und Sänger Dirk von Lowtzow (rechts) mit ihrer Band Tocotronic (dpa / picture alliance / Britta Pedersen)
    Christoph Reimann: "Electric Guitar" von Tocotronic, einer von zwölf Songs auf dem neuen Album, mit dem die Band in der eigenen Geschichte gräbt. Kein Kommentar zur Politik der Mächtigen also, keine Diagnose der Gegenwart, anders als etwa bei Feine Sahne Fischfilet von vorhin. Und das ist ja überraschend bei einer Band wie Tocotronic, die 2013 noch textete: "Europas Mauern werden fallen / … / Für Asyle, ohne Grenzen". Weil solche Zeilen fehlen, scheint "Die Unendlichkeit" ein unpolitisches Album zu sein. Im Corsogespräch mit Sänger Dirk von Lowtzow und Bassist Jan Müller war Müller der Erste, der Einspruch gegen dieses Urteil erhoben hat.
    Jan Müller: Also das wäre ja erst mal zu fragen, ob das ein ganz und gar unpolitisches Album ist. Also ich finde, das ist immer eine Frage. Ob Musik oder Kunst im Allgemeinen politisch oder nicht politisch ist, das zu beantworten, finde ich gar nicht so einfach.
    Reimann: Wie fühlt es sich für Sie an?
    Müller: Ich sehe jetzt keinen so eklatanten Unterschied zu den eben zitierten Textpassagen aus dem Album "Wie wir leben wollen", das ist ja von 2013. Und ich denke, dass wir jetzt nicht so arbeiten, dass wir uns sagen: Machen wir jetzt etwas Politisches oder etwas Nicht-Politisches? Die politische Haltung, die trägt man ja sowieso in sich. Und in irgendeiner Form spiegelt die sich auch in dem, was wir tun, wider, denke ich - ob das Thema jetzt direkt politisch ist oder erst einmal nicht so politisch erschienen mag.
    Reimann: Sie engagieren sich auch, für Pro Asyl zum Beispiel, jedenfalls in der Vergangenheit.
    Dirk von Lowtzow: Ja, wir haben seit 2013 aktiv in der Band eine Kooperation mit Pro Asyl. Pro Asyl präsentiert die Tour und wird auch in einzelnen Städten Informationsstände aufstellen. Das ist auch jetzt wieder der Fall.
    "Wir haben festgestellt, wie stark die Stücke mit unser aller vier Leben korrespondieren"
    Reimann: "Die Unendlichkeit" ist aber erst einmal eine musikgewordene Biografie, so wird sie auch angekündigt. Und weil Sie der Sänger sind, Dirk von Lowtzow, denkt man, es ist Ihre Geschichte. Aber natürlich sind Sie eine Band. Also: Wessen Biografie ist es denn nun?
    von Lowtzow: Ja, das war eine der interessanten Erfahrungen bei diesem Album, dass ich als Songwriter der Band, also des Band-Kollektivs Tocotronic, die Idee hatte - schon relativ früh, Ende 2015 - neue Songs zu schreiben, die autobiografischen oder autofiktionalen Charakter haben. Natürlich clasht das ein bisschen mit dem Kollektiv-Gedanken Band, wenn man sich immer als Songwriter so ein bisschen als die Stimme dieser Band gefühlt hat und man plötzlich so ein bisschen umswitchen muss auf etwas sehr Persönliches. Das ist aber, glaube ich, unumgänglich. Und eine interessante Erfahrung war, dass, nachdem wir uns getroffen hatten - zuerst zu zweit, Jan und ich, und wir über das Thema gesprochen hatten, und dann zu viert in sehr kleinem, intimem Kreis bei mir - und ich die Stücke vorgespielt habe, bei so einer Art Kaffeekränzchen oder so, wir festgestellt haben, wie stark die Stücke eigentlich mit unser aller vier Leben korrespondieren. Auch mit Ricks Leben zum Beispiel, obwohl der zu dem Zeitpunkt auf einem ganz anderen Kontinent aufgewachsen ist, in Maine, in den USA. Wie sehr sich die Erfahrungen doch gleichen und wie schön es eigentlich ist, über das Thema miteinander - zunächst in der Band - in Dialog zu treten und dann aber auch - hoffentlich - mit den Hörerinnen und Hörern in Dialog zu treten und sozusagen zur Mitarbeit ander Sache anzuregen, was eigentlich ein Grundprinzip von Popmusik ist. Insofern sehe ich da eigentlich keinen Widerspruch.
    Wir haben noch länger mit Dirk von Lowtzow und Jan Müller gesprochen - hören Sie hier die Langfassung des Corsogesprächs
    Der Frontmann der deutschen Band Tocotronic, Dirk von Lowtzow, steht am 07.06.2013 in Nürnberg (Bayern) beim Musikfestival "Rock im Park" auf der Bühne.
    Dirk von Lowtzow bei "Rock im Park" 2013 (picture-alliance / dpa / Daniel Karmann)
    Reimann: Wir kann diese Mitarbeit aussehen?
    von Lowtzow: Naja, ich glaube, es ist ein Wesensmerkmal von gelungenen Autobiografien oder autofiktionalen Texten, dass Leserinnen und Leser oder Hörerinnen und Hörer ihre eigenen Erinnerungen auf diese Texte oder auf die Songs mit projizieren, und deshalb ganz unwillkürlich eigentlich so eine Mitarbeit besteht. Mir zumindest geht das immer so, wenn ich autobiografische Bücher lese, beispielsweise, dass ich das Gefühl habe, ich gleiche das mit meinen eigenen Erinnerungen ab oder ich habe solche Erweckungserlebnisse oder kurze Gedankenblitze, wo ich sage: Ja, das ging mir ganz genauso. Das finde ich eigentlich sehr, sehr schön. Und vielleicht ist das auch etwas, was das Album - zumindest nach meinem Dafürhalten - auch zu einem politischen Album macht, weil es eben diese Mitarbeit gibt - das passiert ganz automatisch.
    Reimann: Demnach wär dann aber jedes Album ein politisches Album.
    von Lowtzow: Ja, ich würde das noch ganz gerne zu Ende führen. Ich glaube, gerade im autobiografischen Schreiben oder dieser Ethnologie, die man an seinem eigenen Leben vornimmt, kann man die Grenzen zwischen Privatem und Politischem vermischen - und zwar auf eine ziemlich einfache und lässige Art und Weise. Und das ist eigentlich das, was uns daran auch so gereizt hat.
    Erinnerung an Thomas-Bernhard-Rock
    Reimann: Ja. Aber es gibt natürlich auch Songs, die spielen eindeutig auf Ihre Herkunft an. Sie sind Anfang der 70er in Offenburg auf die Welt gekommen - das ist das Tor zum Schwarzwald, mit vielen Schokoladenseiten, so wirbt Offenburg selbst. Sie sprechen aber von der "Schwarzwald-Hölle". Was war so unerträglich daran?
    von Lowtzow: Naja, objektiv war es nicht unerträglich. Ich hatte eigentlich eine sehr schöne Kindheit. Es ist eine sehr schöne Landschaft. Ich hatte mich da eigentlich sehr wohlgefühlt. Und es war auch eine behütete Kindheit. Aber natürlich, wenn man älter wird, wenn man Träume und Wünsche hat, dann merkt man, wie schnell die an die Grenzen kommen in einer kleinen Stadt, wie Offenburg ist, fraglos. Und man empfindet das dann natürlich als Gefängnis oder als Falle oder als Hölle. Gleichzeitig war es so, dass, als wir angefangen haben mit der Band Tocotronic, ich sehr, sehr unter dem Einfluss der Bücher von Thomas Bernhard stand. Und gerade unsere frühen Alben wurden sehr oft als Bernhard-Rock bezeichnet. Und in dem Stück "1993", was über das Jahr der Bandgründung geht, habe ich versucht, im Text sozusagen noch mal auf diese frühe Bernhardifizierung einzugehen. Und das Wort "Schwarzwald-Hölle" ist eigentlich ein bisschen wie eine Bernhard'sche Wortschöpfung. Also es zollt dieser Zeit auch etwas Tribut, in der man sehr unter dem Einfluss dieses Schriftstellers stand -und das wahrscheinlich nicht ohne Grund.
    Reimann: Vielleicht muss man der Provinz auch im Nachhinein dankbar sein, denn die hat einem ja das Material geschenkt, für die Wut, aus der man dann vielleicht eigene Songs schöpfen konnte.
    von Lowtzow: Oder zumindest die Sehnsucht, auszubrechen und etwas zu schaffen und sich durch Rock- und Popmusik, die ja so ein Tor zur Welt oder zu einer internationalen Sphäre ist, sich zu subjektivieren.
    Reimann: "Ausgerechnet du hast mich gerettet" ist ein Song auf der Platte. Und das ist Berlin, diese Person, personifiziert in einem Menschen mit schiefen Zähnen, richtig?
    von Lowtzow: Ja, es könnte eine Person sein, es könnte aber auch die Stadt Berlin sein.
    Reimann: Sie wollen sich nicht festlegen.
    von Lowtzow: Nö.
    Reimann: Sie leben heute in Berlin. Sind Sie angekommen?
    von Lowtzow: Angekommen, ich weiß nicht, ob man jemals irgendwo richtig angekommen ist. Ich gebe mal die Frage weiter an Jan, der auch nach Berlin gezogen ist vor nicht ganz so langer Zeit. Wie empfindest du das?
    Müller: Es ist ein Ort. Und es ist, glaube ich, ein schöner Ort, um Musik zu machen. Und man trifft hier auf viele interessante Menschen. Aber angekommen … Die Frage lässt mich ähnlich ratlos zurück, weil …
    Reimann: Es gibt ja auch das innere Ankommen.
    Müller: Ja.
    Reimann: Vielleicht will man das aber auch gar nicht.
    Müller: Ich sehe das nicht als das große Lebensziel, das Ankommen. Man möchte ja auch weiterkommen.
    Tocotronic im April 2015 in Hamburg
    Tocotronic im April 2015 in Hamburg (picture alliance / dpa / Foto: Henrik Josef Boerger)
    Einen Pakt geschlossen
    Reimann: Was haben Sie denn nach dieser intensiven Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte über sich selbst erfahren?
    von Lowtzow: Naja, ich glaube, allein die Tatsache, dass man es gemacht hat, war schon eine Erfahrung. Und dass man diesen Startpunkt gesetzt hat und von dort aus angefangen hat zu arbeiten. Das hat schon sehr viel freigesetzt. Wir haben für unsere Verhältnisse für das Album ungewöhnlich viele Songs geschrieben. Vor allem Jan und ich hatten so eine Art Packt geschlossen, dass, wenn man so eine Autobiografie würde machen wollen, man sehr, sehr viele Songs schreiben muss. Das einfach aus dem Grund, dass man auswählen kann. Und weil man dann vielleicht erst über die Masse zu etwas kommt, wo man zu quintessenziellen Sachen kommt. Vielleicht weil man sich bei den ersten Stücken noch so ein bisschen um das Thema herumdrückt und schummelt und am Schluss wird man wagemutiger. Also die Erfahrung haben wir zumindest gemacht.
    Müller: Ja, wir kennen uns ja nun schon 25 Jahre - also Dirk und ich, und Arne kenne ich noch länger. Aber als wir über diese Texte gesprochen haben, habe ich zuerst ich einmal Dirk besser kennengelernt und wir uns dann auch im Gespräch einander. Das war schon sehr gewinnbringend, nicht nur für uns als Band, sondern auch für uns als Personen. Dann war die interessante Aufgabenstellung eigentlich, zu sehen, was von dieser Vielzahl von Texten, die es dann ja gab, ist eigentlich wirklich interessant für dieses Album und für die Hörerinnen und Hörer? Ich fand es sehr interessant, auch zu sehen, wo ist man ähnlich, wo war man schon ähnlich als Person, bevor man sich kannte, und wo unterscheiden sich die einzelnen Leute in der Band?
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.