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Alexander Ikonnikow: Ein Radio-Porträt

Alexander Ikonnikow hat den "Taiga Blues". So heißt jedenfalls der schmale Band mit seinen Erzählungen, die für viel Furore gesorgt haben. Der bescheidene junge Autor versteht sich als Beobachter, der seine Geschichten vorfindet und nur bearbeitet:

Sabine Baumann |
    Und natürlich darf man auch nicht feststellen, das würde ich auch nie tun, welche Geschichten jetzt unbedingt real und welche jetzt unbedingt erfunden sind, weil, das heißt, in diesen Geschichten wird davon erzählt, was nicht ausgeschlossen ist, was eigentlich passieren könnte, wenn auch manchmal übertrieben, wenn auch manchmal pointiert. Aber trotzdem, das ist, trotzdem sind das keine Klischees, sondern fast wahre Begebenheiten.

    Ikonnikow schreibt zwar derzeit schon an einem Roman, bevorzugt aber kleine Vignetten mit oft anekdotenhaftem Charakter:

    Ich mag diese kurze Form. Diese kurze und oft ironische Aussage. Und das mache ich aus zwei Gründen. Erstens, ich bin unheimlich faul, um große Texte zu verfassen, zweitens, was soll man da eigentlich schon groß reden, man versteht sich sowieso.

    Gegen einen lakonischen Stil und den Willen zur Genauigkeit, den der Autor bekundet, wäre nichts zu sagen. Aber oft hapert es damit leider gerade. So gibt es häufiger logische Brüche, wie in der Schilderung von seinem Ersatzdienst als Lehrer in der tiefen russischen Provinz:

    Jeden Morgen nach dem Aufwachen schaute ich also aus dem Fenster, sah auf einen rostigen, kaputten Traktor, der inmitten eines verwilderten Feldes stand. Ich fragte mich: Wo bin ich, was mach ich hier? Dann zog ich die hohen Gummistiefel an, nur um sie nach dem mühsamen Weg zur Schule gegen Halbschuhe auszutauschen, und machte mich auf zur Arbeit. Zwei Jahre hielt ich durch. Das war in jedem Fall besser, als die Kugeln im Schützengraben pfeifen zu hören. Die Stoffe für Geschichten lagen ringsum auf der Straße. Ich säumte nicht, sie aufzulesen. In Bystriza waren sie mein einziger Trost.

    Machte er sich nun in Gummistiefeln oder in Halbschuhen auf zur Arbeit? Mit seiner Annahme, dass der Leser ihn trotz solcher kleinen Schludereien versteht, liegt Ikonnikow vielleicht nicht einmal falsch, weil bestimmte Klischees und ein bestimmter kalauernder Ton, wie er sie gern einsetzt, natürlich allgemein verständlich sind und sich ihr Publikum schaffen. Aber für echte Literatur reicht das eben doch nicht ganz. Von den Begebenheiten, die Ikonnikow schildert, bleibt merkwürdig wenig haften, vielleicht, weil in den engen Grenzen der Anekdote zu wenig Raum für Zwischentöne bleibt. Und die Anflüge von Poesie, die ihm in manchen Stimmungsbildern gelingen, sind leider nicht ganz frei von einer unangenehmen, unglaubwürdigen Verklärung des menschlichen Zusammenhalts.

    Dabei haben seine Texte zunächst durchaus einen interessanten Hintergrund. Der studierte Germanist Ikonnikow spricht fließend deutsch und konnte daher die Frankfurter Fotographin Annette Frick bei einem "Ausflug auf der Vjatka" begleiten, dem Fluß in der Nähe der Provinzstadt Kirow mehrere hundert Kilometer östlich von Moskau. Eine Auswahl seiner Erzählungen wurde in dem gleichnamigen Bildband der Fotographin veröffentlicht und zeugen davon, dass ihm das Unterwegssein liegt:

    Je weiter in die Provinz, je tiefer in die Provinz, desto russischer wird's, und die Leute sind immer noch ganz menschlich, also nicht verdorben oder verführt vom westlichen System. Mir macht's immer Spaß, per Anhalter durch Russland zu reisen und Eindrücke zu sammeln, die dann verarbeitet werden und aufs Papier kommen.

    Ursprünglich nannte der junge Autor seine Texte mit düsterer Einfärbung "Erzählungen aus der Schlammzeit" und erklärt:

    Jede Zeit in Russland ist eine Schlammzeit. Jede Generation ist eine Übergangsgeneration, und jede Periode in der Geschichte Russlands ist eine Übergangsperiode. Und Schlamm ist sozusagen, zum einen bedeutet das eigentlich der Dreck auf den Straßen und zum anderen auch diese Unruhen, die in den Seelen und den Köpfen der Russen herrschen.

    Die Provinzstadt, in deren Nähe Alexander Ikonnikow geboren ist und wo er heute noch lebt, hat mehrere solcher Übergänge erlebt. Bis 1934 hieß sie Vjatka wie der Fluss, dann wurde sie umbenannt in Kirow nach jenem Genossen Stalins, der eines der ersten Opfer seiner so genannten Säuberungen wurde. In der Sowjetzeit war Kirow auf Grund seiner Rüstungsbetriebe für Ausländer geschlossen; nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde die Stadt erst vor wenigen Jahren wieder geöffnet. Glaubt man Ikonnikow und manchen seiner Erzählerkollegen in Russland, so ist der Dreck auf den Straßen dort geblieben, während sich die Unruhe in den Köpfen eher noch verstärkt hat.

    Beides, die Verwahrlosung und die seelische Anspannung unter den Lebensbedingungen der russischen Provinz, sind zentrale Themen des jungen Geschichtensammlers. Viele seiner Figuren sehnen sich nach Schönheit, aber viele lassen sich auch im Schlamm versinken. In einer Art Wiegenlied besingt er eine junge Lehrerin, die vergeblich auf Stöckelschuhen gegen den Morast ankämpft. Dann erzählt er die Geschichte von einer Schlucht, die vorübergehend zu einem Dorftreffpunkt aufblüht, sich aber sofort wieder in einen sumpfigen und gefährlichen Abgrund verwandelt, nachdem die elektrische Beleuchtung ausfällt und niemand sich mehr ihrer annimmt. Wie bei anderen russischen Autoren der jüngeren Generation, die sich ironisch dem sozialistischen Realismus verbunden fühlen, sind seine Geschichten vorwiegend im Milieu der einfachen Leute angesiedelt, spielen in kleinen Fabriken und Landwirtschaftsbetrieben, in Plattenbauten, beim Militär und in der absurden Welt der Bürokratie, die über allem herrscht. Groteske Verschwendung und unaufhaltsamer Verfall wohin das Auge blickt - gesehen wie durch einen Nebel von Alkohol. Die Depression, die der Alkohol bekämpfen soll, und die Aggressivität, zu der er statt dessen führt, prägen auch das Verhältnis zwischen den Geschlechtern und den Generationen. Ikonnikows Figuren sprechen kaum miteinander, die Alten sind abgemeldet, die Jungen pöbeln sie an, die Frauen schuften, die Männer benehmen sich wie tumbe Toren. Liebe und Lernen sind gleichermaßen zum Scheitern verurteilt in einer Welt, in der alle nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht und gnadenlos bestechlich sind. Manchmal belässt es Ikonnikow bei grotesken Momentaufnahmen tiefer Entfremdung, aber häufig gibt er den Ereignissen eine lächerliche Wendung, wie bei der Meuterei hungernder Häftlinge, die sich in einen Dialog über den Haarwuchs der Mächtigen im Verhältnis zu ihrer Grausamkeit verstricken, oder bei dem Gouverneur, der während eines Kleinstadtbesuchs kein Klo zum Pinkeln findet, oder bei der Frau, die ihren Mann ermordet und ihm das Bein abhackt, ohne dass sie zur Rechenschaft gezogen wird.

    Für die Sinnlosigkeit des Lebens hat Ikonnikow die eindringliche Figur des Verschollenen, des verloren gegangenen Menschen gefunden. Diese Metapher taucht in mehreren Varianten in seinen Geschichten auf. Nur wendet er sie meist ins Harmlose, wie in der Geschichte, wo ein Rekrut erst nach Jahren vermisst wird, als er längst in der Taiga, wo ihn sein Regiment vergessen hat, eine Familie gegründet hat. Hinter beidem, Ikonnikows Gewitzel und seiner Nostalgie, steckt, so muss man resümieren, eine realitätsferne, selbstmitleidige Abwehrhaltung, ein Nicht-Wahrhaben-Wollen. Früher schrieben deutsche Leser das gern der russischen Seele mit ihren Abgründen und Sentimentalitäten zu. Vielleicht bedienen Schriftsteller wie Alexander Ikonnikow gerade diese deutsche Erwartungshaltung. Jedenfalls würde das erklären, warum er in Russland noch keine Möglichkeit zur Veröffentlichung gefunden hat, während er hierzulande gepuscht wird, wie das anspruchsvolleren russischen Schriftstellern sonst eher selten widerfährt.