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Alibis des Vergessens

Günter Grass wurde als 17-Jähriger zur Waffen-SS eingezogen. Und kaum ist diese Meldung raus, da entzweien sich auch schon die so genannten Intellektuellen. Der Historiker Michael Wolffsohn etwa meint, dass Grass durch sein Schweigen nicht sein "fabulierendes", wohl aber sein "moralisierendes Lebenswerk entwertet" habe. Der Grass-Biograf Michael Jürges zeigt sich "persönlich enttäuscht" und spricht gar vom "Ende einer moralischen Instanz". Andere erklären, etwas milder gestimmt, das biografische Detail komme zwar reichlich spät; Anlass, an der moralischen Autorität oder Instanz des Günter Grass zu zweifeln, bestehe deshalb aber nicht.

Von Hans Joachim Lenger | 15.08.2006
    BILD wiederum fragt sich, ob Günter Grass wohl auch beim nächsten Mal noch auf Platz 1 der Liste von "Top-Denkern" stehen werde, die von der Zeitschrift Cicero geführt wird, oder ob er seinen Platz möglicherweise an Harald Schmidt wird abtreten müssen, der bislang noch auf Platz 2 rangiert. Schon möglich; denn, wie der Kölner Stadt-Anzeiger es weiß: "Selten dürfte die Auskunft eines Intellektuellen oder Künstlers in so krassem Widerspruch zu dem Bild gestanden haben, das man sich bislang von ihm gefasst hatte. Nach dem Tode Heinrich Bölls war Günter Grass sozusagen der Alleinverwalter des Titels der moralischen Instanz." Nun aber stelle sich heraus, dass Grass uns über seine "Rolle" im Nationalsozialismus im unklaren gelassen habe - nun, welche "Rolle" eigentlich? - , und deshalb wohl vom hohen Sockel steigen müsse, auf dem er bislang stand.

    Und hier wird man innehalten müssen. Der Titel einer "moralischen Instanz" nämlich, der da angeblich verwaltet wurde, ist - nicht anders als das Bild vom "hohen Sockel", auf dem sie steht und von dem sie jetzt heruntermüsse - eine überaus ambivalente Größe. Denn was, so darf man sich wohl fragen, macht solche "Instanzen" unverzichtbar? Oder auch: für wen sind sie notwendig? Wer also bringt sie hervor - mitsamt dem Sockel, auf dem sie dann stehen oder von dem sie heruntermüssen? Die Metapher spricht es ja bereits aus: Moralische Instanzen funktionieren wie Denkmäler, die bekanntlich auf Sockeln errichtet werden, damit sich niemand mehr zu erinnern braucht. Denkmäler sind so etwas wie die Alibis des Vergessens: Orte, an denen die Erinnerung deponiert wird, um als erledigt gelten zu können. Nicht anders geht es den moralischen Instanzen. Sie werden errichtet, wo es an Moralität fehlt. Sie sind Alibis der Amoralität, geschaffen nur, um die Moral zu delegieren, sie abzulegen und sich ihrer zu entledigen wie einer lästigen Pflicht. All das nämlich ist jetzt im Spiel, wo die moralische Instanz des Günter Grass diskutiert wird, und nicht zuletzt zeigt sich das an der Medienkampagne, die gegen ihn losrollt. Stillschweigend wird sie von der Überzeugung getragen, dass Sätze der Moral nur von jenen ausgesprochen werden dürfen, die ihrerseits und ohne Rest moralisch untadelig leben und gelebt haben. Also nicht von Günter Grass, nicht von einem, der selbst fehlte. Doch um so deutlicher wäre deshalb die einfache Frage am Platz: Wird ein Satz etwa deshalb schon falsch, nur weil einer, der ihn ausspricht, in diesem oder jenem Fall selbst gegen ihn verstieß? Wird, um ein vergleichsweise entlegenes Beispiel zu nennen, die Behauptung eines Diebes, dass Diebstahl unmoralisch sei, allein deshalb schon falsch, weil man ihm nachweisen kann, selbst ein Dieb gewesen zu sein? Oder folgen jene, die ihn diskreditieren, nicht vielmehr dem Wunsch, sich des Satzes selbst zu entledigen?

    Nun ist Grass alles andere als ein Dieb. Grass hat nichts genommen. Er hat geschwiegen, wo er hätte sprechen sollen. Doch nicht einmal dies wird gegen ihn verhandelt. Verhandelt wird der Sturz einer Instanz, zu der nicht zuletzt jene ihn machten, die sich jetzt mit seiner Person auch der Sätze entledigen wollen, die er sprach. Moral schätzen sie nämlich nur, wo sie ihnen "vorgelebt wird", wie man so sagt, wo sie sich vor Instanzen ducken, vor Autoritäten kuschen dürfen. Umso größer natürlich ihre Rachsucht, diese Instanzen bei nächster Gelegenheit zu stürzen, um sich mit ihnen auch der Sätze zu entledigen. Man kennt das.

    Gewiss, Günter Grass hätte sprechen sollen; er sagt es selbst. Weder seinen Ruf noch sein Gewicht, nicht sein Ansehen und schon gar nicht den Wert seiner Literatur hätte dies in irgendeiner Weise berührt. Was also ließ ihn schweigen? Allein die Scham, wie er versichert? Mag sein. Doch gibt es da nicht noch etwas anderes, was ihn schweigen machte? Etwas, das mit der Institution der "moralischen Instanz" selbst zu tun hat? Denn eines ist es, jemanden zu dieser Instanz zu erhöhen; ein anderes, sich erhöhen zu lassen. Und das tat Grass gewiss nicht ohne Genus, nicht ohne eine gewisse Eitelkeit. Allzu bereitwillig ging er in die Falle, die jede "moralische Instanz" darstellt. Vielleicht ließe sich an dieser Stelle deshalb der Satz eines anderen Schriftstellers abwandeln, der ebenso gerade in aller Munde ist, nämlich Bert Brechts: Unglücklich das Land, das moralischer Instanzen bedarf. Unglücklich nämlich, wo man keine Moral kennt, es sei denn, sie verkörpere sich in Personen, die so zu heldischen Instanzen werden. Dies nämlich wird letztlich auch ihr eigenes Unglück: Sie können nur noch sprechen, indem sie von ihrer eigenen Scham schweigen - ganz so wie ein Denkmal, das keinen Zweifel gegen sich aufkommen lassen darf, um Denkmal bleiben zu können.

    Die Verfehlung des Günter Grass besteht deshalb nicht etwa darin, als "moralische Instanz" versagt zu haben. Sie besteht vielmehr darin, bereitwillig in die Falle gegangen zu sein, die sich in jeder solchen Instanz auftut, und das Spiel jener mitgespielt zu haben, die sie benötigen.