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"Allerliebste Stadt"

Im August vor 90 Jahren wurde im beschaulichen Andernach Heinrich Karl Bukowski geboren, besser bekannt als Charles Bukowski. Der als US-Amerikaner berühmt gewordene Underground-Poet ist nicht der einzige Schriftsteller, der zu Andernach eine besondere Beziehung hat.

Von Franz Nussbaum | 04.07.2010
    Wir nähern uns auf dem Rhein dem Weinörtchen Leutesdorf. Und unser Personenschiff schiebt sich mit sehr viel Kraft rheinaufwärts gegen die hier extra starke Strömung. Unsere erste Reisenotiz ist ein Zitat des Schriftstellers Werner Bergengrün, auch von einem solchen Schiff aus gesehen.

    "Unvergesslich ist der Augenblick, da hinter dem scharf vorspringenden bewaldeten Berge plötzlich die vier Türme der Andernacher Liebfrauenkirche stehen, links von ihr der kräftige runde Stadtturm, wohl das eindruckvollste Stück seiner Gattung im ganzen Rheingebiet."

    Bergengrün erwähnt die besonders markant vorspringende berggrüne Nase. Das ist der Krahnenberg, der auch Albrecht Dürer und William Turner ins Auge fällt. Vor rund 14.000 Jahren erfolgt der letzte Vulkanausbruch aus dem Laacher Krater. Heute dieser liebliche Laacher See, gute sieben Kilometer Luftlinie von hier entfernt. Also vor 14.000 Jahren soll diese Krahnenberg-Nase ein schauriges Fanal als glühend fließender Lavastrom geboten haben. Eine Vulkankatastrophe die alles Leben -damals - vernichtet. Vor dem Auswurf siedeln schon "Andernacher" am Rhein. Deren Spuren wurden unter einer hohen Bimsschicht gefunden.

    Und ich frage Achim Hütten nach der Kulturschneise, nach den Romantikern, den Schriftstellern. Diese oft beschunkelte Rheinlandschaft, die uns Mutter Natur nach den fürchterlichen Auswürfen wieder so schön begrünt hat. Auch der französische Schriftsteller Victor Hugo reist ja 1840 per Schiff aus Richtung Köln nach Andernach.

    "Seine Rheinreise, er war ja nicht nur in Andernach, aber es gibt ja das wunderschöne Zitat von Victor Hugo, Andernach in einer allerliebsten Stadt zu sein. Und er wundert sich ja, warum schon damals die Gäste hier in das laute Koblenz, nach Baden oder nach Karlsruhe fahren. Und nicht in eine Stadt, wo jeder Stein Andenken ist, so Victor Hugo."
    Wir wollen diese steinernen Andenken, diese Denkmale, wörtlich denk doch mal nach zum Sprechen bringen. Auch Günter Grass, was ich nicht wusste, hat in Andernach für seinen Roman "Örtlich betäubt. Aus dem Tagebuch einer Schnecke" recherchiert.

    "Der beschreibt unsere Gegend, er beschreibt die Begegnungen auf der Terrasse des Hotels Traube, er beschreibt die Rheinanlagen, wie wir sie heute noch sehen mit den gestutzten Platanen. Es ist ein Buch, wo der Ich-Erzähler in Berlin auf dem Zahnarztstuhl sitzt. Und seine Erinnerungen gehen zurück in die 50er-Jahre, in seine Zeit als er verlobt war hier mit der Tochter eines Bimsunternehmers, der im Zweiten Weltkrieg, im Dritten Reich Reichsfeldmarschall war. Es ist auch eine Aufarbeitung der deutschen Geschichte. Und ich sag immer, kaum einer hat unsere Heimat so drastisch auch beschrieben wie Günter Grass."

    Unser Schiff biegt nun auf die Anlegerbrücken zu. Der Rheinpark. Ein lang gezogenes Blumenbouquet mit dem Andernach seine Besucher an der Rheinseite begrüßt. Wir sehen auch den mächtigen Eckturm, der noch in großen Teilen erhaltenen Stadtmauer. Dieser Runde Turm, über 50 Meter aus massiven Steinen hoch gewuchtet, 550 Jahre alt.

    Wir sehen auch das zweite Wahrzeichen. Direkt am Rhein den "Alten Krahnen", zum Verladen der schweren Mühlsteine, unter anderem oberhalb von Andernach aus den Basaltfelsen gebrochen. Und in der Technik des alten Rheinkrans könnte auch etwas Leonardo da Vinci mit seinen Tüfteleien und Muskelmaschinenentwürfen drin stecken. Andernach eine wörtlich "steinreiche", am Mühlsteinhandel reich gewordene Stadt.

    Unser Schiff hat angelegt. Achim Hütten, unser literarischer Gesprächspartner, ist auch der Oberbürgermeister. Er zeigt mir jetzt ein Buchbändchen, die "Ochsentour". Und ein Foto dieser Ochsentour zeigt Charles Bukowski, damals 58 Jahre alt. Amerikanischer Undergroundautor. Im Mai 1978, steht hier notiert, besucht er seine Mutterstadt. Wir lesen, zusammengefasst:

    "Nach einer Liebelei eines Andernacher Mädchens mit einem amerikanischen Besatzungssoldaten wird Charles Bukowski 1920 hier geboren. Später in den USA schlägt er einen wirren Lebensslalom ein. Jugendbanden, Leichenwäscher, Knast und Irrenhaus, Alkohol und Zuhälterei, Briefsortierer, Werbetexter und Sportreporter."

    Und schreibt sich schließlich als Underground-Poet empor, also die ganze Ochsentour einer US-typischen Karriere.

    "1923 sind dann die Eltern mit dem kleinen Charles nach Amerika gegangen, in die Heimat des Vaters. Und es gibt ja kaum ein Buch und kein Werk Charles Bukowskis, in dem er nicht auf seine deutsche, auf seine Andernacher Herkunft hinweist. Nun ist Charles Bukowski einer der meist gelesenen Autoren der Welt, jedenfalls immer in der jüngeren Generation. Es gibt eine ganz aktive Charles-Bukowski-Gesellschaft seit ein paar Jahren. Es gibt in der Andernach-Stadtbücherei eine Charles-Bukowski-Ecke, mit all seinen Werken und auch mit den Bildern, die auf der Ochsentour gemacht worden sind, die dort ausgestellt sind."

    Da gab's mal ein Gerücht vor Jahren, wo ich hier auch schon hinter Bukowski her gestromert bin, also damals wären solche Bücher von diesem Charles Bukowski, die wären in einem Giftschrank verschlossen worden. Also nur für Leute, die nicht so streng katholisch waren, ausgeliehen worden?

    "Mehr als ein Gerücht. Es gab damals auch eine Auseinandersetzung mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, eine Leserbriefauseinandersetzung, in der auch Paula Hofmann, die damalige Leiterin der Stadtbücherei teilgenommen hat. Der wurde ja unterstellt, dieser Leiterin, sie habe Charles Bukowski, den, ich sag jetzt mal, den großen Sohn der Stadt Andernach, in den Giftschrank gestellt. Das hatte einen ganz profanen Grund. Die Bücher von Charles Bukowski sind die meist geklaute Ware in unserer Stadtbücherei. Auch die Ochsentour, die ja autobiografisch seine Reise nach Andernach zur Verwandtschaft beschreibt, haben wir nur noch ein einziges Exemplar in der Stadtbücherei.

    Die, die ihn kennen, sind oft auch ein Stück weit als Andernacher stolz darauf, dass er 1920 bei uns geboren. Die andern, die ihn nicht kennen, die negieren ihn und die reden auch nicht mehr drüber. Es gibt auch die Pläne in seinem Geburtshaus eine Charles-Bukowski-Ausstellung dauerhaft zu installieren."

    Gibt es ein schöneres Kompliment, dass man sich Bukowski in Andernach nicht unbedingt über den Ladentisch besorgt, sondern klaut? Andernach muss mit seinem Charles leben, wenn es nicht in der gezuckerten Tunke von besäuselnden Sagen der Rheinromantik ertrinken will. Bukowski wird mittlerweile auch an Andernacher Schulen "gelesen". Und eine Kulturinstitution der Stadt ist auch das Bertha von Suttner-Gymnasium. Seit 35 Jahren stellt man jedes Jahr ein Theaterstück oder Musical oder beispielsweise auch Josef Haydns Oratorium "Die Schöpfung" auf die Bretter. 80 Schüler, Lehrer als vereinigter Klangkörper, Orchester, Sänger und Chor.

    Man darf es hervorheben, wenn sich Schulen in der Ochsentour aus Notenstress und PISA-Quote zusätzlich noch solche Erfolgserlebnisse bauen. Und diese Schöpfung erinnert auch an Haydns Reise vor genau 220 Jahren über Andernach in Richtung Bonn. Dort trifft er den jungen Beethoven. So erfahren Schüler heute nebenbei, dass es auch schon vor Dieter Bohlen Musik gegeben hat und dass man aus Haydns Schöpfung etwas schöpfen kann.

    Eine neue Reisenotiz, diesmal aus dem Fenster der Herberge "Zum Kaiser"

    "Die Aussicht von meinem Fenster ist überraschend schön. Zu meiner Rechten der Rhein. Zu meiner linken die vier romanischen Türme einer prächtigen Kirche aus dem elften Jahrhundert. Unter meinem Fenster schnattern in vollkommener Eintracht Hühner, Kinder und Enten. Weiter hinten klettern Bauern durch die Weinberge. Am Tage nach meiner Ankunft besuchte ich die Kirche","

    schreibt der französische Schriftsteller Victor Hugo in seiner Rheinreise. Da ist Hugo 38 Jahre alt. Dieser Rheinreisende Victor Hugo ist in Frankreich schon durch sein Werk "Der Glöckner von Notre Dame" höchst bekannt. Die romantische Geschichte vom unglücklich verliebten buckligen Glöckner.

    Hugo gilt auch als vorzüglicher Reiseschriftsteller. Man reist damals, um darüber berichten zu können. Er ist als Schriftsteller ja auch sein Unternehmer. Er wählt Andernach, um hier und von hier aus fundierte Reisenotizen für sein Buch zu sammeln, fertigt auch eine professionelle Tuschezeichnung mit dem Runden Turm, mit dem Krahnenberg. Und andern Tags wandert Hugo von Andernach aus, in fünf Viertelstunden (wie er es formuliert), auch in den kleinen Ort Weißenthurm, wo er vermerkt, dass Caesar hier vor 2000 Jahren zum ersten Mal über den Rhein geht.

    Und drehen wir die Sanduhren der Geschichte in das Jahr 55 vor Christus zurück. Da erscheint also Gaius Julius Cäsar, 45 Jahre alt und wir lesen:

    ""Caesars Armee rollt zwischen dem französischen Atlantik und dem Rhein das damalige Gallien auf. Die Armee umfasst rund 53.000 kriegserprobte Legionäre, Bogenschützen, Steinschleuderer, dabei auch angeworbene germanische Reiterei. Zusätzlich dienen 20.000 Hilfstruppen, Gepäckträger und Tross. Dazu 17.000 Pferde, Mulis, Esel und Treiber."

    Und Dr. Klaus Schäfer zeigt Zeichnungen dieser allerersten Brücke über den Rhein, überhaupt der ersten Brücke über einen vergleichbar gefährlichen Fluss des römischen Imperiums. Und die Bilder zeigen, eine stabile Konstruktion auf Baumpfählen, keine schwimmende Pontonbrücke.

    "Also, es war schon etwas ganz Besonderes. Über so einen breiten Strom mit einer relativ starken Strömung einen Pioniersteg zu bauten, innerhalb von zehn Tagen. Das war schon ein Wunderding."

    Wie man die im Fluss in drei bis vier Meter Tiefe verankert?

    "Er hat wohl auf Flößen Rammböcke errichten lassen. Und hat damit dann die Pfähle dann in den Rheinuntergrund getrieben."

    Was will er mit einer Brücke, etwas oberhalb von Andernach, was will er auf der anderen Seite?

    "Na ja, er wollte zuerst ein Mal die Germanen auf der anderen Seite einschüchtern. Er wollte natürlich auch Macht demonstrieren. Wir sind Römer, wir bauen eine Brücke."

    Der Rest der Welt, damals hier, gaffend dabei gestanden, Wetten abgeschlossen?

    "Ja, die wussten vermutlich erst gar nicht, was er macht? Also, das war so etwas Fantastisches. Nicht nur für die hier ansässige Bevölkerung, sondern natürlich auch für die Römer selbst, in Rom. Denn das Ganze war natürlich auch dort ein Propagandaobjekt. Denn das sprach sich innerhalb weniger Wochen auch in Rom durch, dass dieser Gaius Julius Caesar da oben im finsteren Norden über einen reißenden Strom eine Brücke in zehn Tagen gebaut hat."

    Also auch eine PR-Abteilung, die er dabei hat und dafür sorgte.

    Ganz klar, denn er hatte auch innenpolitische Feinde.

    Jetzt steht die Brücke, na ja, er, wird rüber gegangen sein:

    "Da passiert nicht mehr viel. Die Germanen selber haben sich längst in den Urwald zurückgezogen."

    In den Westerwald.

    "Ja, genau. Und das war's dann auch. Nach wenigen Wochen kommt die ganze Truppe wieder zurück, wieder hier auf die linke Rheinseite. Und dann kommt das Verblüffende, die Brücke wird wieder abgebaut."

    Es soll aber auch erinnert werden: Acht Jahre lang ist Caesars Unternehmen äußerst brutal unterwegs. Gallier, Kelten und Germanenstämme werden teilweise ausgerottet, viele werden versklavt oder gekreuzigt. Andernach wird dann später eine befestigte römische Militärstation. Alles, im Museum im Modell anschaulich ausgestellt. Die römische Armee rüstet ihre Legionäre mit kleinen, tragbaren Handmühlen "Made by Andernach" aus. Man ernährt sich von Getreide. Nicht als hochprozentigem Korn, man malt ihn sich.

    Und nun betreten wir, zusammen mit Dr. Helmut Weinand, die romanische Liebfrauenkirche. Und wir konzentrieren uns wieder auf eine Reisegeschichte. Und jetzt in diesem Chorraum ein Kreutz. Da hängt ein Christus in einer solchen gequälten Erbärmlichkeit. Dem Mann sieht man an, wie schwer das Sterben an einem Kreuz ist, ausgemergelt. Da Zweite was mir auffällt, es ist auch kein klassisches Kreuz.

    "Dieses Kreuz ist ein Astkruzifix, aus dem beginnenden 14. Jahrhundert. Es wird auch Kruzifixus Dolorosus, das schmerzhafte Kreuz genannt. Ganz allgemein auch Ungarnkreuz. Weil alle sieben Jahre im hohen Mittelalter Ungarn zu den bedeutenden Pilgerstädten Köln und Aachen pilgerten. In Andernach schenken sie ein Kreuz zum Dank für freundliche Aufnahme und Verpflegung."

    Da sind Leute tausend Kilometer zu Fuß getippelt, die waren wochenlang unterwegs, das war so eine kleine Santiagotour.

    Und die nächste Reisetour könnte sich am Runden Turm abgespielt haben. Der junge Ludwig van Beethoven mag vielleicht öfter hier eine kleine Pause eingelegt haben. Er wurde, von Bonn aus, von seinem Vater als Wunderkind vermarktet. Den Achtjährigen lässt er als Sechsjährigen musizieren. Das löst bei den Damen Verzückungen aus und bringt mehr Einnahmen. Und der kleine Ludwig hat auch in Koblenz zwei Familien, die dem hoch veranlagten Jungen förderlich zugetan sind. Zudem lebt auch Ludwigs Großmutter, mütterlicherseits, am Hofe des Koblenz-Ehrenbreitsteiner Schlosses. So wird das Wunderkind über Andernach und über das alte Römerstraßenpflaster von Bonn nach Koblenz gerumpelt sein. Gute 6 Stunden Kutsche, eine Tortur für ein Kind, das dann mit allen Sinnen hoch konzentriert den gepuderten Eminenzen und Damen den vertrödelten Tag etwas aufhellen soll. Der Andernacher Jazzpianist Ralph Schäfer spielte uns ein paar Variationen Beethoven ein.

    Und des kleinen Beethovens Rumpelpflaster der alten Römerstraße führt auch hier genau an jenem verwunschenen Rheinarm, dem Namedyer Werth vorbei, direkt unterhalb des Krahnenberges.

    Hier hat man heute eine, ich nenne es mal, eine Hotline in die vulkanische Unterwelt von Mutter Erde gebohrt. In einem wirklich verwilderten, versumpften Fleckchen Urnatur zischt täglich mehrmals ein Geysir, eine gewaltige Fontäne hoch. An guten Tagen so hoch wie der Runden Turm. Eine gewaltige Eruption. Der höchste Kaltwasser-Geysir der Welt. Und die Besucher heute am Geysir staunen über das vulkanische Naturwunder wie damals die Germanen vor 2000 Jahren über Caesars Brückenwunder. Reisenotizen, laut Victor Hugo, aus "Andernach, der allerliebsten Stadt".