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Alles nur Tarnung

Die Streitkräfte der DDR nannten sich vollmundig "NVA" - Nationale Volksarmee. Gebetsmühlenartig wurde sie in Hymnen, Filmen und Zeitungen immer wieder als "Armee des Volkes" gepriesen. Die Botschaft: Im Sozialismus kämpfen alle Bürger bereitwillig gegen den Klassenfeind im Westen. Dass dies nur eine hohle Phrase war, wurde im Westen schon immer vermutet. Nun präsentiert der Historiker Matthias Rogg die Beweise dafür.

Von Jens Rosbach | 29.12.2008
    "Soldaten des Volkes! Wir lernten sie kennen. Soldaten, die für Frieden und Vaterland auf Wacht stehen. Für Dich, für mich, für alle. Für unser Programm, den Sozialismus. Dafür sind sie Soldaten. Des Volkes Soldaten!"

    Alles nur Tarnung. Die Nationale Volksarmee war keine Armee des Volkes. Bislang unbekannte, interne NVA-Dokumente belegen dies etwa anhand der Sozialstruktur der Führungsschicht. Aus ihnen geht hervor, dass die Befehlshaber überhaupt nicht den Bevölkerungs-Querschnitt vertraten. Vielmehr repräsentierten sie zu fast 100 Prozent die Staatspartei SED - analysiert der Historiker Matthias Rogg:

    "Sie konnten nur reüssieren in diesen Streitkräften, wenn sie Angehörige der Partei waren. Noch nicht mal Angehörige der Blockparteien hatten eine Chance, Offizier zu werden - geschweige denn in höhere Ränge aufzusteigen. Und man hat vor allem versucht, Arbeiter und Bauernkinder zu gewinnen, vor allem in der Aufbauphase hatten es Kinder von Intellektuellen sehr schwer - das waren die gesellschaftlich nicht erwünschten Kreise. Ähnlich schwer hatten es Christen in der NVA. Die zwar als Wehrdienstleistende willkommen waren, aber die kaum eine Chance hatten als Berufskader."

    DDR-Reporter: " Wie der sowjetische Düsenjäger hier in niedriger Höhe über den Platz hinweg jagte, dass man den Flammenstrahl aus dem Rückstoßrohr des Reaktionstriebwerkes züngeln sah. Das war eine großartige Demonstration des fliegerischen Könnens."

    Das Buch beschreibt die Propagandaschlacht an der DDR-Heimatfront; die Militarisierung der Kindergärten, Schulen und Medien, um Berufsoffiziere zu rekrutieren. Und es zitiert offizielle Stellen, die dennoch über einen Personalmangel klagen, jahrzehntelang. Das "Parade"-Beispiel vom Rat des Bezirkes Halle, 1982:

    "Immer noch werden von einem Teil der Bevölkerung die Tätigkeit des Berufssoldaten sowie seine Dienst- und Lebensbedingungen als nicht erstrebenswert und attraktiv beurteilt. Nachhaltig wirken sich negative Äußerungen von Angehörigen der Armee beziehungsweise Reservisten sowie Schilderungen von Missständen bei der Ableistung des Dienstes aus."

    Autor Matthias Rogg arbeitet hauptamtlich im Bundesverteidigungsministerium und nebenbei als Privatdozent an der Universität Potsdam. Der Wissenschaftler hat im Rahmen seiner Recherchen mehrere zuvor geheime NVA-Untersuchungen entdeckt, die zu dem Schluss kommen, dass sich im Ernst - also Kriegsfall - die meisten Soldaten nicht auf ihre vorgesetzten Offiziere verlassen hätten.

    "Über die Hälfte der Soldaten hat kein Vertrauen in die Vorgesetzten. Und zwar kein Vertrauen in die fachliche Kompetenz und in die soziale Kompetenz der Vorgesetzten. Das ist ein - aus Sicht der NVA - niederschmetterndes Ergebnis gewesen."

    Und auch der Staat selbst misstraute der angeblichen "Armee des Volkes". So habe die Stasi besonders viele Agenten bei den Uniformierten rekrutiert: Während Ende der 1980er Jahre jeder hundertste Ostdeutsche ein Inoffizieller Mitarbeiter war, spitzelte in der NVA jeder Dreizehnte für das MfS. Schließlich führt das Buch auch Militärpapiere aus der Wendezeit an, die den Volksarmee-Mythos zerschlagen. Papiere, in denen junge, kritische Oberstleutnante und Majore undemokratische Führungs-Prinzipien, Bevormundung und Willkür angreifen.

    "Dass ganz klar gesagt wird: Es ist eine Parteiarmee gewesen, die die Leute gegängelt hat, die jeden heraus geekelt hat oder zum Teil mit heftigen Strafen belegt hat, der anderer Meinung war. Und es wird nach einer neuen Identifikation gesucht. Und die Armee generiert hier das Bild der neuen, der wahrhaften, der echten Armee des Volkes."

    Das Buch weist nach, dass der SED-Staat bis zu seinem Untergang jederzeit bestens informiert war über die Missstände im Armeevolk - und sie dennoch duldete. Wie das so genannte EK-System, also die brutale Unterdrückung junger Rekruten durch ältere Rekruten. Oder den weit verbreiteten Alkoholmissbrauch, die zahlreichen Suizidversuche sowie die vielen Manöver-Unfälle mit Toten. Das Honecker-Regime gab immer nur dem Feind im Westen die Schuld an den Opfern in den eigenen Reihen.

    Honecker: "Ihr versteht es richtig Genossen! Für uns kommt es darauf an, jederzeit bereit und fähig zu sein, jedem Aggressor eine vernichtende Abfuhr zu erteilen!"

    Die neue Studie geht über eine Analyse der Nationalen Volksarmee hinaus. Sie nimmt die Militarisierung der gesamten DDR-Gesellschaft unter die Lupe. Der Autor macht dabei erstaunliche Rechnung auf: 170.000 NVA-Soldaten. Plus 240.000 hauptamtliche und inoffizielle Stasi-Mitarbeiter. Plus 200.000 Mitglieder der Betriebskampfgruppen, plus 600.000 der Gesellschaft für Sport und Technik, plus Hunderttausende von Zivilverteidigung, Polizei, Grenztruppen und Zoll. Bilanz: Jeder vierte bis fünfte Erwerbstätige der DDR war in einer militärischen oder paramilitärischen Organisation. Eine durchmobilisierte Bevölkerung.

    "Das Zweite - was viel interessanter ist - ist, dass die Militarisierung der DDR gleichzeitig natürlich eine Mobilisierung für den Staatsapparat ist. Das ist das Entscheidende. Das heißt, diese Strukturen wirken - ähnlich wie zum Beispiel der Erziehungsapparat - als Mittel der Herrschaftsverdichtung und damit der Herrschaftskonsolidierung. Das ist die eigentliche Aufgabe dieser Strukturen gewesen."

    "Die Partei, sie lebe hoch, hoch hoch!"

    Matthias Roggs Buch ist - für eine militärhistorische Untersuchung - erstaunlich flüssig geschrieben. Der Einstieg in die ostdeutsche Kasernenwelt wird durch anschauliche Zitate, Fotos und Propaganda-Beispiele erleichtert. Fachleute finden in Fußnoten zusätzliche Detailinformationen. Der Historiker schreibt ausgewogen und ohne Polemik, er verschweigt auch nicht, dass die NVA-Agitation bei jungen Männern teilweise erfolgreich war. Die fast 700-seitige Untersuchung "Armee des Volkes?" hat nur ein Manko: Es fehlt ein Schlagwortregister. Ansonsten bekommt der Leser eine scharfe Waffe in die Hand, die eine der letzten DDR-Legenden endgültig zerstört.

    Matthias Rogg: Armee des Volkes? Militär und Gesellschaft in der DDR.
    Ch. Links-Verlag Berlin. 687 Seiten. 39.90 Euro.