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Alpenglühen

Der lettische Musiker Peteris Vasks orientiert sich in seinen zeitgenössischen Stücken am Geist und der Intensität Mahlerscher Sinfonien. Weniger pompös, dafür unkompliziert und vital, kommt "Arche", die Komposition des Österreichers Wofram Schurig, daher.

Von Frank Kämpfer | 29.11.2009
    "Musik 1
    Wolfram Schurig, A.R.C.H.E.
    ensemble Intégrales
    col legno WWE 1CD 20280, LC 07989"

    Unkompliziert, vital, mit Drive – so beginnt gleich Track Eins. Sekunden später wechselt der Gestus, die Klänge vermitteln jetzt Nachdenklichkeit, ein Verharren, Introvertiertheit. Das stilistische Pendel schlägt aus – ob der Besetzung mit Saxophon, Schlagzeug, Klavier birgt die Band ein Jazztrio in sich und ebenso eine Formation Neuer Musik. Wolfram Schurigs fünf Jahre alte Komposition namens "Arche" changiert zwischen den Welten, als habe sie beider Errungenschaften aufzubewahren und weiter zu reichen – das macht neugierig auf eine CD, die den Titel Alpenglühen trägt.

    Schurig, Jahrgang 1967, studierter Blockflötist und später Lachenmann-Schüler, scheint unter den hier versammelten fünf Komponisten jener mit der konventionellsten Dramaturgie: sein Zwölf-Minuten-Stück gerät bald ins Stocken, splittert auf, scheint mehr und mehr auf der Stelle zu gehn – um mangels frischer Energie schließlich über längere Zeit zu verlöschen. Auch die anderen Urheber – allesamt Österreicher und zwischen 1960 und 1970 geboren – bewegen sich auf einem Terrain, wo Zersplitterung, Geräuschhaftigkeit, und statt überlieferter Form genau deren Störung zum Maß und Material der musikalischen Aussage wird.

    Christof Dienz beispielsweise – Zitherspieler, Fagottist und Komponist – beginnt in "Amplifly" am Rande der Hörbarkeit; es entspinnen sich minimalistische Rhythmen, eine Jazz-Sequenz folgt, und schließlich – fast organisch, doch zusammenhanglos – ein elektroakustisch erzeugter Flächenklang. Wolfgang Suppan, Dieter Kaufmann-Schüler und Computerspezialist, komponiert in "weiten und male" eine innere Art Störung des Sprechens, die – wenn man so will – präzis auf heutige Störung von Umgebung und Umwelt reagiert.

    Bernhard Gander schließlich verbalisiert es in "kings message": dass sich hier eine Generation artikuliert, die sich nicht aufdrängt, sich zugleich doch respektfrei artikuliert und sich dem Staffelstab der vorhergehenden klar verweigert. Ein derart klingendes Österreich-Porträt muss aufschrecken oder erstaunt aufhorchen lassen. Beliebigkeit fehlt, die Auswahl ist streng und apart – es verwundert nicht sehr, dass das in Hamburg ansässige "ensemble Intégrales"um Burkhard Friedrich und Barbara Lüneburg für Konzeption und die spannungsreiche musikalische Realisierung der Platte verantwortlich ist.

    Ein zweiter Klangeindruck: "more or less" von Karlheinz Essl für Violine, Saxophon, Klavier, Schlagzeug und Laptop. Scheinbar zufällig gehorcht dieses Quintett einer Dramaturgie des Switchens, des Zappens zwischen Klangwelten und Assoziationen – und zugleich vermittelt sich das zu Hörende als eine Art organischer Fluss.

    "Musik 2
    Karlheinz Essl, more or less
    ensemble Intégrales
    col legno WWE"

    Alpenglühen – Musik von Wolfram Schurig, Wolfgang Suppan, Karlheinz Essl, Christof Dienz und Bernhard Gander – eingespielt für das Label col legno vom Hamburger ensemble Intégrales.

    Die nächste CD, die ich ihnen anspielen will, porträtiert zeitgenössisches Komponieren in Lettland – betrachtet allerdings aus der Perspektive des Warschauer Herbsts. Lettische Tonsetzer waren hier in der polnischen Hauptstadt in den letzten 50 Jahren in regelmäßigen Abständen immer wieder präsent: anfangs, um auf dem wichtigsten Avantgarde-Festival des Ostblocks neueste Entwicklungen aufzunehmen – später, um auf eigenständige Entwicklungen zu verweisen.

    Vorliegende, beim Polnischen Musikinformationszentrum Polmic in diesem Jahr erschienene Platte enthält Live-Mitschnitte mit Werken dreier Komponisten, die für drei Generationen und drei stilistische Richtungen einstehen. Der bekannteste ist Peteris Vasks, Jahrgang 1946, der sich als Urheber dem 'leidenden Menschen' zuwenden will und sich an Geist und Intensität Mahlerscher Sinfonien orientiert. Mitte der 90er-Jahre verfasste Vasks Adventsmusik beispielsweise, die das polnische Aukso Kammerorchester 2002 in Warschau vorstellte, stellt den auf bedrängende Wirklichkeit verweisenden Klanglawinen höchst entrückte, verklärte Momente entgegen. Janis Ivanovs' 1971 notierte Sinfonie Nr. 14 wirkt neoromantisch – der 1906 geborene, russischstämmige Sinfoniker hatte sich in früheren Schaffensabschnitten nacheinander an Debussy, am Sozialistischen Realismus, an Strawinsky, Bartok und später an Schönberg orientiert.

    Bemerkenswert klingt auf der CD Andris Dzenitis' Komposition. 1978 geboren, zählt der Schüler von Peteris Vasks und Kurt Schwertsik zu den jungen Experimentellen in seinem Land, die sich ästhetisch neu orientieren. Senza barriera, in Warschau 1997 uraufgeführt, ist das Dokument einer Selbstfindung, die bisherige Grenzen aufsprengt. Im Zentrum steht ein Trauermarsch für Toru Takemitsu, in dem Expression und Gelassenheit mehrfach wechseln. Das insgesamt viersätzige Konzertstück beginnt rabiat, mit komplexen Rhythmen und Dissonanzen.

    "Musik 03
    Andris Dzenitis, Senza barriera
    Nora Novikova + Raffi Kharajanyan (Klaviere), Zbigniew Łowzył (Schlagzeug) CD POLMIC"

    Engagiert und souverän: Nora Novikova und Raffi Kharajanyan (Klaviere) und Zbigniew Łowzył am Schlagzeug 1997 beim Warschauer Herbst mit Andris Dzenitis Senza barriera.

    Die dritte und letzte neue Edition, die ich Ihnen heute vorstellen will, führt in die Schweiz. Die von "Pro Helvetia" und dem Migros-Genossenschaftsbund geförderten musikalischen Visitenkarten der eidgenössischen Neuen Musik, die aus Mitschnitten der Radiosender DRS 2 und Espace 2 (frz.) resultieren, vermitteln Heterogenität. Inzwischen sind zwei Doppel-CDs erschienen, die insgesamt 20 Werke und Urheber dokumentieren. Sie alle unterscheiden sich hinsichtlich Besetzung und kompositorischer Handschrift – gemeinsam sind ihnen die Uraufführungsjahre 2007 oder 2008. An Prominenz mangelt es nicht: Klaus Huber und Mischa Käser sind mit dabei, Annette Schmucki und Beat Furrer. Aber auch andere Namen finden sich. Rico Gubler etwa, Jahrgang 1972, mit seinem Versuch, in einem Horn-Trio Brahms und Ligetis zu gedenken. Rudolf Kelterborn, geboren 1931, präsentiert seine dritte Kammersinfonie, und Ulrich Gasser, ein Komponist der mittleren Generation, schrieb für eine Besetzung Alter Musik.

    Mich faszinierte auf der Jahrgangs-CD 2007 eine Arbeit der gebürtigen Polin Bettina Skrzypczak, die in Basel bei Rudolf Kelterborn studiert hat und heute als Kompositionsprofessorin in Luzern tätig ist. Skrzypczaks für das Kammerorchester Lausanne notiertes Stück "Initial" führt seine Hörer gewissermaßen in Innenwelten, das heißt in mikrotonale Gefüge. Das ist farblich höchst reizvoll; Skrzypczak setzt Klangprozesse in Gang, die physikalisch ausmessbar sind, klangpsychologisch als enorme Energieströme wirken.

    "Musik 4
    Bettina Skrzypczak, Initial
    Orchestre de Chambre de Lausanne, Ltg. Marco Angius"

    Soweit "Initial" von Bettina Skrzypczak – kompetent und beredt gespielt vom Orchestre de Chambre de Lausanne. Diese und weitere 20 Uraufführungen Schweizer Komponisten aus den Jahren 2007 und 2008 finden sich auf zwei Doppel-CD des schweizer Labels Musiques Suisses, die in Deutschland über den Vertrieb jpc erhältlich sind. Zuvor habe ich Ihnen eine vom Polnischen Musikinformationszentrum Polmic herausgegebene CD mit Werken Lettischer Komponisten sowie zuvor das bei col legno erschienene Österreich-Album "Alpenglühen" des Hamburger Ensembles Intégrales angespielt. – Soweit für heute Die neue Platte, ausgewählt von Frank Kämpfer.